Was beim Lernen im Gehirn von Kindern passiert

Prof. Brigitte Röder erläutert das Phänomen der sensiblen Perioden – und warum man Lernen nicht aufschieben sollte

Wie tickt unser Gehirn? Wie lernt es? Und wie unterscheidet sich das Lernen von Kindern von dem von Erwachsenen? Zu diesen und vielen weiteren Fragen hat die renommierte Neurowissenschaftlerin und Psychologin Prof. Dr. Brigitte Röder geforscht. Über ihre Erkenntnisse spricht sie im Interview.

Redaktion: Frau Professorin Röder, Sie forschen unter anderem zur Gehirnentwicklung bei Kindern: Was sind die Hauptunterschiede zwischen dem Lernen von Kindern und dem von Erwachsenen?

Prof. Dr. Brigitte Röder: Lassen Sie mich das zunächst auf der neuronalen Ebene beantworten: Wir wissen, dass sich unser Gehirn von Geburt an über viele Jahre entwickelt, es reift noch bis Mitte unserer Zwanzigerjahre. Wieso ist das wichtig fürs Lernen? Lernen ist das, was wir als neuronale Veränderung von Strukturen und Funktionen im Gehirn sehen, wir nennen es Neuroplastizität. Wir wissen, dass gerade in den ersten zwei Lebensjahren und auch im weiteren Verlauf der Kindheit das Gehirn viele strukturelle Veränderungen vornimmt. Wenn wir geboren werden, haben wir ein großes Reservoir, einen riesigen Überschuss an neuronalen Verbindungen. Diesen bauen wir sequenziell wieder ab, um etwa die Hälfte. Wir nennen das in der Forschung „Pruning“, also das gezielte Zurückschneiden von überschüssigen neuronalen Verbindungen, was einhergeht mit einem gleichzeitigen Differenzieren, dem Verstärken von Verbindungen, um effizientere und spezialisierte Netzwerke zu schaffen. Wir machen aus Feldwegen Autobahnen, wenn Sie so wollen. Erwachsene haben dagegen schon dieses ausdifferenzierte, effiziente Netzwerk im Gehirn. Wichtige Verbindungen wurden ausgebaut, andere sind verschwunden, weil sie nicht gebraucht wurden. 

Redaktion: Wie zeigt sich die Gehirnentwicklung, die Sie beschreiben, im Lernverhalten?

Röder: Der beschriebene Prozess des „Prunings“ entspricht in der Pädagogik den sensiblen Perioden in der Entwicklung eines Kindes. Sensible Perioden sind bestimmte, einzigartige Phasen der Gehirnentwicklung. In diesen lernt das Kind in einem bestimmten Bereich enorm viel und enorm schnell. Und weitgehend passiv, ohne dass eine Konsequenz damit verbunden sein muss. Zunächst lernen Kinder die Statistiken der Welt wahrzunehmen, einfache Ereignisketten wie: Was passiert immer zusammen? Was folgt auf was? Das, was sich nicht wiederholt, was nicht in einem Zusammenhang erscheint, das ist nicht relevant. Das wird sofort wieder vergessen, entsprechende neuronale Verbindungen werden weggeschnitten. Das, was sich als wichtig herausstellt, damit ich in meiner Umwelt, in der ich geboren wurde und lebe, zurechtkomme, das speichere ich in diesen sensiblen Phasen.

Redaktion: Kann man diese sensiblen Phasen zeitlich eingrenzen?

Röder: Nein, sie lassen sich zeitlich nicht klar eingrenzen, da Menschen sehr komplexe, sich sehr lange entwickelnde Gehirne haben. Wann diese Zeiträume, in denen das Gehirns besonders empfänglich für bestimmte Erfahrungen ist, auftreten, unterscheidet sich für einzelne Hirnbereiche. Sie laufen nicht sequentiell in einer bestimmten Reihenfolge ab, sie haben auch kein abruptes Ende. Das heißt, Lernen in den jeweiligen Bereichen bleibt auch in späteren Lebensphasen möglich. Auch eine Hundertjährige kann noch eine neue Sprache lernen, aber nicht mehr so gut wie ein Kind, nicht mehr so schnell und nicht mit den gleichen neuronalen Mechanismen. Das heißt, sensible Perioden beschreiben gewisse individuelle Peaks, also maximale Ausprägungen von Lernfähigkeit. Und diese müssen genutzt werden, möchte man eine bestimmte Funktion oder Fähigkeit vollständig erlernen beziehungsweise in dieser ein hohes Niveau erreichen.

Redaktion: Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?

Röder: Ich habe mit meinem Team Menschen untersucht, die in frühen Lebensphasen nicht sehen konnten. Sie litten an angeborenen Katarakten (Grauer Star). Teilweise als Erwachsene wurden diese Menschen operiert, sie haben dann also in späterem Alter noch gelernt, zu sehen. Allerdings mit deutlichen Einschränkungen: Sie können zwar vieles grundlegend unterscheiden, etwa Gesichter von anderen Objekten. Aber ihnen fällt es zum Beispiel schwer, das Gesicht einer bestimmten Person in unterschiedlichen Kontexten wiederzuerkennen. Dass sie in dieser Fähigkeit beeinträchtigt sind, heißt allerdings nicht, dass die Funktion ganz fehlt. Das ist ein wichtiger Punkt. Beeinträchtigt bedeutet in Bezug auf die Gehirnentwicklung: Ich habe eine sensible Phase verpasst, in der das Netzwerk für diese Fähigkeit zu einem Expertensystem ausgebaut wird. Das gilt so auch für Bereiche wie Sprache, Motorik, oder das Lernen eines Musikinstruments. Um in diesen Dingen ein hohes Niveau zu erreichen, müssen die allermeisten von uns dafür die entsprechende sensible Phase nutzen, um die neuronalen Funktionen und Strukturen auszuprägen. Es gibt auch immer Ausnahmen, die auch im späteren Leben noch ungeahnte Fähigkeiten erreichen. Aber ich spreche hier über den Regelfall, die Normalverteilung der Bevölkerung.

„Kinder entwickeln individuelle Lernbedürfnisse in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens.“

Prof. Dr. Brigitte Röder

Redaktion: Also kann ich als Erwachsener gewisse Dinge kaum oder nur sehr schwer erlernen?

Röder: Es sind im Erwachsenenleben weit weniger neuronale Verbindungen vorhanden, die ich nutzen kann, um eine Expertenfunktion herauszukristallisieren und zu elaborieren. Wir sprechen hier von Neurokonstruktion. Dieser Mechanismus steht mir nur während sensibler Perioden der Hirnentwicklung in seinem vollen Umfang zur Verfügung. Es gibt jedoch schwächere Varianten der Neurokonstruktion. Neuere Forschung hat gezeigt, dass auch Erwachsene, die etwas Neues lernen, möglicherweise noch einmal einen gewissen Überschuss an neuronalen Verbindungen produzieren. Dieser wird erneut zurückgeschnitten und damit eine neue Funktion etabliert. Im Vergleich zur Kindheit finden diese Prozesse aber in einem vielfach kleineren Umfang statt.

Redaktion: Welche Konsequenzen haben die beschriebenen Erkenntnisse aus der Hirnforschung für die Praxis des Lernens und Lehrens?

Röder: Die pädagogische Psychologin Professorin Elsbeth Stern würde sagen: Kinder brauchen zunächst viele Fakten, auf denen sie aufbauen können. Diese scheinen sie von Anfang an sehr gut zu lernen. Richtig ist auch: Kinder entwickeln individuelle Lernbedürfnisse in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Um diese zu stillen, muss ihnen ihr Umfeld, zu dem wesentlich auch die Schule gehört, die entsprechenden Lern- und Entdeckungsmöglichkeiten sowie Wiederholungs- und Vertiefungsmöglichkeiten anbieten.

Redaktion: In Deutschland gibt es viele Kinder, die erst im späteren Jugendalter mit geringen oder keinen Deutschkenntnissen in unser Bildungssystem kommen. Ihnen und auch ihren Lehrkräften erscheint die Situation oft hoffnungslos und überfordernd. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive haben viele dieser Kinder entscheidende sensible Perioden, etwa für das Lernen der Sprache, verpasst. Welche Perspektive haben Sie als Neurowissenschaftlerin darauf?

Röder: Es wäre die falsche Konsequenz aus sensiblen Phasen für die Sprachentwicklung, diese Schülerinnen und Schüler aufzugeben. Sicher haben sie Defizite, aber Lernen ist immer positiv, es ist nie negativ. Das lässt sich sehr gut an der Heckman-Curve zeigen, einem Konzept, das von Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman entwickelt wurde. Es veranschaulicht die wirtschaftliche Rendite von Investitionen in die Bildung über die Lebensspanne eines Menschen hinweg. Die Kurve zeigt zwar, dass die Rendite von Bildungsinvestitionen früh im Leben am höchsten ist, sie macht aber auch deutlich, dass das Lernen in jeder Lebensphase positive Effekte hat. Selbst wenn die Renditen später geringer sind, bleibt der Effekt positiv, Lernen bringt immer Vorteile mit sich und ist niemals schädlich.

„Lernen solle nie aufgeschoben werden, man sollte die Chancen, die sich frühzeitig bieten, nicht verpassen.“

Prof. Dr. Brigitte Röder

Redaktion: Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Erkenntnis aus Ihrer Forschung in Bezug auf das Lernen von Kindern? 

Röder: Lernen solle nie aufgeschoben werden. Man sollte die Chancen, die sich frühzeitig bieten, nicht verpassen. Wenn ein Kind fähig ist, etwas zu lernen, sollte es ihm jetzt angeboten werden. Man sollte nicht von der Fehlannahme geleitet werden, man könne damit warten und das später nachholen. Bezogen auf unser System heißt das zum Beispiel auch: Bei vielen Themen, die etwa die Sprache betreffen, sollte man nicht warten, bis ein Kind in die Schule geht, sondern so früh wie möglich Lern- und Entdeckungsangebote machen.

Redaktion: Frau Professorin Röder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Brigitte Röder ist Professorin für Biologische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Hamburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Frage, welche Rolle frühkindliche Erfahrungen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns spielen.