Was Lehrkräfte und Schulleitungen über sexualisierte Gewalt wissen sollten
Familientherapeutin Ruth Habeland erklärt, wie Lehrkräfte Schüler:innen über sexualisierte Gewalt aufklären können.
Sexualisierte Gewalt kann Schüler:innen sowohl in der Schule als auch im Netz begegnen. Was Schulleitungen und Lehrkräfte zur Prävention beitragen können.
Redaktion: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Klasse ein Kind sitzt, das sexualisierte Gewalt erlebt?
Ruth Habeland: Relativ hoch. 20 bis 25 Prozent der Frauen geben an, dass sie in der Kindheit von sexualisierter Gewalt betroffen waren, bei den Männern sind es zehn Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Kind in der Klasse betrifft, ist also sehr hoch.
Redaktion: Was sollten Lehrkräfte und Schulleitungen über das Thema wissen?
Habeland: Zum Basiswissen gehört, dass Täterstrategien bei sexualisierten Übergriffen andere sind als bei körperlicher und emotionaler Gewalt. Sehr oft gehen Täter sehr subtil und manipulativ vor. Das führt meist dazu, dass Betroffene häufig ambivalente Gefühle haben. Sie empfinden kein klares „Nein“ und können nicht sagen „Ich finde die Person doof“. Das ist wichtig zu wissen, weil man als Außenstehende oder Außenstehender vielleicht erwartet, dass das Opfer ein klareres Dagegen-Gefühl haben müsse.
„Nicht von sexuellem Missbrauch sprechen.“
Ruth Habeland
Wichtig ist auch, dass Lehrkräfte, die das Thema im Unterricht behandeln auf die Wortwahl achten. Sie sollten nicht mehr von sexuellem Missbrauch sprechen, da dort das Wort Gebrauch mitschwingt, das in diesem Zusammenhang völlig unangebracht ist. Sie sollten immer von sexueller Gewalt sprechen. Auch der Begriff Kinderpornografie ist unzutreffend, denn Pornografie setzt eigentlich voraus, dass etwas freiwillig passiert, wovon man bei Kindern niemals sprechen kann. Es ist immer gefilmte sexualisierte Gewalt und so sollte man es auch benennen.
Wenn man im Unterricht oder bei Projekttagen sexualisierte Gewalt im Netz thematisiert, sollte man auch thematisieren, wie Täter dort vorgehen: Hier werden häufig in einer großen Geschwindigkeit schon kurz nach der Kontaktaufnahme Bilder oder Ähnliches gefordert. Die Täter gehen mit so viel Druck vor, dass Kinder und Jugendliche dem schnell nachgeben können.
Redaktion: Auf welche Anzeichen können Lehrkräfte bei Schülerinnen und Schülern achten?
Habeland: Es gibt keine einfache Symptomliste. Körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Kopf-, Bauch- oder andere Schmerzen können Anzeichen von sexualisierter Gewalt sein ebenso wie Ängstlichkeit und andere Verhaltensauffälligkeiten. Die Symptome sind in der Regel nicht klar zuordenbar. Aber wenn Kinder oder Jugendliche von Schmerzen betroffen sind oder eine starke Verhaltensänderung zeigen, dann muss ich sowieso reagieren und gegebenenfalls intervenieren.
Redaktion: Wie können Lehrkräfte am besten eingreifen, wenn sie das Gefühl haben, dass bei einem Kind etwas im Argen liegt?
Habeland: Sie können mit ihm ins Gespräch gehen, es beobachten und sich zu den wahrgenommenen Veränderungen des Kindes Notizen machen. Wenn sich Kinder stark verändern, ist das ein wichtiges Zeichen. Es gibt aber auch Kinder, die sehr darauf achten, dass sie ganz unauffällig sind. Es gab einmal eine Studie, deren Ergebnis war, dass 40 Prozent der Kinder, die Gewalt erfahren haben, überhaupt keine beobachtbaren Veränderungen zeigen. Aber man kann ja trotzdem das Gefühl haben, dass da etwas nicht stimmt. Und wenn man ein ungutes Gefühl hat, ist es sehr wichtig, im Gespräch zu bleiben. Nicht nur einmal zu fragen, sondern sich einen Reminder in den Kalender zu schreiben, dass man ein paar Wochen später ein zweites Mal fragt. Manchmal schaffen es die Kinder und Jugendlichen nämlich nicht, in einer Krisensituation direkt über einen Vorfall zu sprechen. Deshalb ist es wichtig, klar zu signalisieren: „Ich bin immer ansprechbar. Und es gibt auch Beratungsstellen oder -hotlines. Ich hab dir die Nummer aufgeschrieben.“
Es gibt eine super Online-Fortbildung zu dem Thema: „Was ist los mit dir, Jaron?“
Redaktion: Was können speziell Schulleitungen zur Prävention tun?
Habeland: Es ist wichtig, ein gut funktionierendes Beratungslehrerteam zu haben und dass das Thema dort präsent ist. Die betreffenden Lehrkräfte sollten Kontakte und Beratungsstellen kennen, etwa die Nummer gegen Kummer oder Juuuport. Und sie sollten einen Aushang in der Schule machen, dass man sich bei Problemen jeglicher Art an sie wenden kann. Es kann auch sinnvoll sein, Kontakte von Beratungsstellen auf die Innenseiten der Toiletten zu kleben. Dann machen sich Schülerinnen und Schüler eher mal ein Foto davon, weil es die anderen nicht mitbekommen.
Redaktion: Kürzlich wurde bekannt, dass die Zahl der Anzeigen bezüglich sexueller Übergriffe an Kindern gestiegen ist. Wie bewerten Sie dies?
Habeland: Die Fachwelt ist sich eigentlich darüber einig, dass die gestiegenen Zahlen ein gutes Zeichen sind, weil man davon ausgeht, dass es nicht mehr Übergriffe gibt, sondern ein größeres Bewusstsein für dieses Problem. Heute wissen viele Menschen, was sie tun können, wenn ihnen etwas auffällt, deshalb gibt es auch mehr Anzeigen. Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (0800 22 55 530) ist zum Beispiel ein niedrigschwelliges Angebot, an das sich sowohl Betroffene als auch Angehörige oder etwa Lehrkräfte wenden können.
Was sich jedoch drastisch erhöht hat und was nicht in irgendeinem begründbaren Verhältnis steht, ist der Konsum von Missbrauchsabbildungen.
Redaktion: Was sollten Lehrkräfte beachten, damit Prävention sexueller Gewalt Unterrichtsinhalt ist?
Habeland: Generell sollte im Biologieunterricht oder an anderer Stelle darüber aufgeklärt werden, was in welchem Alter strafbar ist – schon das Erklären, was alles zu übergriffigem Verhalten gehört und welche Straftatbestände damit verbunden sind, ist Prävention.
Das Thema eignet sich auch gut für einen Projekttag – sinnvoll ist es, wenn man sich dem Thema neutraler nähert, etwa über einen „Anti Body Shaming Tag“. Dafür gibt es gute Unterrichtsmaterialien, zum Beispiel von Dove.
Von Sportlehrern kommt in meinen Fortbildungen immer wieder die Frage, ob sie bei den Übungen überhaupt noch Hilfestellung leisten können. Da sage ich Ja, aber es ist gut, sie vorher jeweils anzukündigen und entsprechend zu kommunizieren, etwa dass das eine übliche Hilfestellung ist. Auch wenn im Sportunterricht gefilmt wird, ist es wichtig zu erklären: „Wir filmen das auch in der Position, damit die einzelne Übung am besten zu sehen ist und danach löschen wir die Aufnahmen.“ Und wenn im Chemieunterricht Halstücher abgenommen werden müssen, dann sollte man sagen: „Wir müssen das machen, weil mit dem Bunsenbrenner eine Feuergefahr besteht.“ Wir dürfen nicht dahin kommen, dass wir die Sprache verlieren. Man sollte immer sagen: „Das sind die üblichen Dinge, damit wir hier für Sicherheit sorgen.“
Redaktion: Können und sollten Lehrkräfte Eltern einbinden, wenn es um die Prävention von sexueller Gewalt an Kindern geht?
Habeland: Ja, man kann versuchen, die Eltern auf Elternabenden zu sensibilisieren. Leider nehmen da häufig nur wenige Eltern teil, aber es gibt einen Trick: Eltern kommen immer, wenn die Kinder etwas aufführen oder präsentieren. Man könnte also sagen, dass die Schüler und Schülerinnen ihre Lieblings-Apps präsentieren und zeigen, was man damit alles machen kann. Dann kommen die Eltern und man kann erklären, was eine Einstellungssicherung ist, was eine Checker-App etc. – und so spielerisch Support, Beratung und Gemeinschaftsgefühl beim Thema Sicherheit im Netz verknüpfen. Es läuft dann nicht so sehr unter dem Label „Kontrolle von Jugendlichen“. Dann können die Jugendlichen etwas präsentieren und die Eltern haben eine Idee davon, was ihre Kinder im Netz eigentlich so machen. Und nebenher kann man entsprechendes Infomaterial austeilen.
Redaktion: Frau Habeland, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Ruth Habeland ist Sozialpädagogin, Familientherapeutin und systemische Traumatherapeutin. Sie gibt regelmäßig Fortbildungen für Lehrkräfte, ist Kinderschutzfachkraft nach §8a SGB VIII und arbeitet in der Rückfallprophylaxe von Sexualstraftäter/-innen.