Was macht ein gutes Schulbuch aus?

Eine Studie der Universität Vechta erforscht die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler und liefert neue Erkenntnisse

Schulbücher gelten immer noch als das Leitmedium unter den Unterrichtsmaterialien, aber sie werden kaum wissenschaftlich untersucht. Dr. Hannah Lathan hat in ihrer Promotion das Thema aufgegriffen und bei ihrer Qualitätsanalyse systematisch die Perspektive und Bedürfnisse der Lernenden berücksichtigt. Eine mögliche Handreichung für Lehrkräfte und Schulbuchautor:innen soll als Diskussionsgrundlage für weitere Entwicklungen dienen.

Redaktion: Frau Dr. Lathan, in der aktuellen Diskussion um zeitgemäße Unterrichtsgestaltung geht es meist um den Einsatz digitaler Medien und die Entwicklung von Medienkompetenz bei Kindern und Jugendlichen. Über das klassische Medium des Schulbuchs spricht eigentlich niemand mehr. Was hat sie dazu bewegt, sich den Einsatz und die Ausrichtung von Schulbüchern genauer anzuschauen? 

Dr. Hannah Lathan: Schulbücher oder generell Bücher faszinierten mich schon in meiner Kindheit und man beschäftigt sich ja gerne mit den Dingen, die einem am nächsten stehen. Ich erzähle immer gerne diese kleine Anekdote, die meine Mutter über mich berichtet: Immer wenn wir zusammen in die Bibliothek gegangen sind, hätte ich mir das dickste und schwerste Buch, also den Atlas, rausgesucht. Die Bibliothekarin fragte mich dann, ob ich dies für meinen Vater ausleihe. Das hätte ich laut Aussage meiner Mutter immer ganz stolz verneint. 

Sie sehen, geografische Bücher stellten schon als Kind für mich eine ganz große Faszination dar und das gilt bis heute. Ich bin nicht von ungefähr Geografielehrerin geworden und interessierte mich schon im Studium für Fragen wie: Was ist ein Schulbuch? Wie sieht ein Schulbuch aus? Welche Funktionen hat es?

Meine Doktormutter, Professorin Dr. Martina Flath, selbst auch Schulbuchautorin, hat mich früh ermuntert in die konkrete Arbeit an Schulbüchern einzusteigen. Das Thema hat mich sofort gepackt und mit meiner Dissertation wollte ich einen Beitrag leisten, um die entscheidenden Fragen zu beantworten: Was macht ein gutes Schulbuch aus? Wann können Schüler und Schülerinnen gut damit lernen? Und was kann ich als Autorin tun, damit das gut gelingen kann?

Redaktion: Die Schulbuchforschung hatte in den 1980er Jahren ihre Hochzeit. Es stellen sich gleich mehrere Fragen: Was hat sich seither getan und auf welchen Erkenntnissen von damals konnten Sie Ihre Studie heute aufbauen? 

Lathan: Die Entwicklung des Schulbuchs kann man sich dynamisch vorstellen: In den 1960er Jahren gab es das klassische Lehrbuch, mit dem unterrichtet wurde. Ein Buch also, in dem Texte standen und das Ergebnisse vorgibt, ohne Aufgaben und mit etwas Glück erscheint ein Bild zwischendurch. In den 1970er und 1980er Jahren kam es zu einem Wechsel hin zum Arbeitsschulbuch. Die 1968er Revolution hat hier viel in die Wege geleitet: Kinder wurden als Individuen gesehen; der Konstruktivismus als Lernansatz ist aufgekommen. Das Arbeitsbuch war demnach gefüllt mit Materialien und weniger Textinhalten. Es forderte den Schüler und die Schülerin mit Aufgabenblöcken. 

„Die Entwicklung des Schulbuchs kann man sich dynamisch vorstellen. (...) Viele Forschende insbesondere Allgemeindidaktiker diskutierten damals eher theorie- statt empirisch geleitet.“

Dr. Hannah Lathan

In den 1980er Jahren entstand eine Mischung aus Lehr- und Arbeitsbuch. Es wurde überlegt, was die optimale Kombination zwischen dem einen und dem anderen sei. Viele Forschende insbesondere Allgemeindidaktiker diskutierten damals eher theorie- statt empirisch geleitet. Als Beispiel möchte ich Hartmut Hacker nennen. Er hat das Modell der Funktionen eines Schulbuchs im Unterricht entwickelt, das auch für verschiede Schulfächer ausdifferenziert wurde. 

Im Rahmen einer Vorstudie habe ich hinterfragt, ob diese rein theoretisch angelegte Forschung überhaupt in der Praxis noch ihre Gültigkeit hat. Ich habe Schulbuchautor:innen verschiedener Verlage, unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die gleichzeitig auch Lehrkräfte sind, zum Schulbuch befragt. Alle beantworteten die Frage, was ein gutes Schulbuch ausmacht, in ähnlicher Weise und zwar auf Grundlage theoretischer Überlegungen der 1980er und 1990er Jahre, denen durchaus aktuellere Aspekte wie die der Digitalisierung oder Methodenvielfalt hinzugefügt wurden. Dennoch fehlten die empirischen Belege.

Aus dieser Vorstudie haben sich weitergehende Fragestellungen entwickelt, wie etwa, der Umgang mit aktuellen Innovationen wie der Digitalisierung oder inklusiven Lernsettings. Das habe ich zum Anlass der Schülerbefragung genommen.

Redaktion: Es ist einleuchtend, dass Schülerinnen und Schüler das lernen, was in ihren Schulbüchern steht. Wie gut sie den Lernstoff daraus lernen, hängt also davon ab, wie die Bücher gestaltet sind. Schulbuchautoren und -autorinnen wie Sie erarbeiten die Inhalte. Welche Rolle spielen dabei die Bedürfnisse der jungen Lernenden und wie sind Sie in Ihrer Studie vorgegangen?

Lathan: Kurz nach Beginn meiner Promotionszeit war ich 2018 auf der Bildungsmesse didacta, wo meine Doktormutter mit dem Preis für das Schulbuch des Jahres ausgezeichnet wurde. Ein Satz des Jury-Vorsitzenden Professor Dr. Eckhardt Fuchs, Direktor des Georg-Ekert-Instituts und Vorsitzender der Jury, ist mir nachdrücklich in Erinnerung geblieben: „Die Schulbuchproduktion und Schulbuchforschung sind nicht kausal aufeinander bezogen.“ 

Mit anderen Worten: Empirische Forschung bezogen auf reale Unterrichtssituationen im Kontext Schulbuch existiert nicht. Für mich war klar, das ist meine „Gap“, meine Lücke, darin muss ich forschen. Und genau deshalb spielen in meiner Untersuchung die Bedürfnisse der Lernenden eine große Rolle bei der Konzeption von Schulbüchern, vor allem bei der optischen Gestaltung und der didaktisch-methodischen Konzeption

„Empirische Forschung bezogen auf reale Unterrichtssituationen im Kontext Schulbuch existiert nicht. Für mich war klar, das ist meine Gap, darin muss ich forschen.“

Dr. Hannah Lathan

Für meine Arbeit bedeutete das, dass ich auf Grundlage der vorhin erwähnten Interviews ein Online-Fragebogen für Schülerinnen und Schüler entwickelt habe. Mit der Genehmigung der Landesschulbehörde konnte ich im Erhebungsgebiet Nord-West-Niedersachen circa 1000 Schülerinnen und Schüler zu ihren geografischen Schulbüchern befragen. Die Umfrage lief in den Klassenstufen 9 und 10 in Real- und Oberschulen, sprich in Schulformen der Sekundarstufe I.

Redaktion: Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen und wie ordnen Sie diese ein? Wie sehen die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler aus, können Sie Beispiele nennen?

Lathan: Die Antworten waren sehr heterogen, zumal es Schülerinnen und Schüler gibt, die gerne mit Schulbüchern arbeiten, und jene, die ungern Bücher zum Lernen heranziehen. Doch der überwiegende Teil der Befragten wünscht sich dabei „Handlungsorientierung“. Damit ist etwa das Arbeiten in Teams oder Kleingruppen, Partner- oder Projektarbeit und Rollenspiele gemeint. Der Austausch und der Nutzen für die Arbeitswelt stehen hierbei im Fokus. Die Schülerinnen und Schüler möchten auf die Arbeitswelt von Morgen vorbereitet werden. Sie wünschen sich daher in den Schulbüchern realitätsnahe Beispiele auch aus ihrer eigenen Lebenswelt. Schülerinnen und Schüler aus Bayern möchten beispielsweise etwas über Almwirtschaft und Anbaugebiete von Sonderkulturen erfahren, während die Lernenden in Niedersachsen mehr zur Schweinezucht lernen. 

„Die Schüler:innen wollen auf die Arbeitswelt von morgen vorbereitet werden. Es besteht Nachholbedarf in der Implementierung handlungsorientierter Aufgaben. Ebenso müssen digitale Medien mehr berücksichtigt werden.“

Dr. Hannah Lathan

Die thematischen Schwerpunkte sind so zwar bereits in den Schulbüchern gesetzt, doch es besteht Nachholbedarf in der Implementierung handlungsorientierter Aufgaben. Auch eine breitere Medienauswahl, die Berücksichtigung digitaler Medien – auch das zählt zur Arbeitswelt von morgen – forderten die Schülerinnen und Schüler in ihren Antworten ein. 

Die äußere Gestaltung des Schulbuchs war ebenfalls ausschlaggebend. Den Lernenden sind dabei praktische Aspekte wichtige, wie zum Beispiel, dass das Buch ein Hardcover hat und somit dem Alltag und auch der Schultasche Stand hält. Die Coverbilder sollten motivierend, also thematisch spannend und passend gewählt sein, und auch – das glaubt man gar nicht – die Farben sollten einheitlich sein.

Innen sind klare Strukturen gewünscht: Ausgeglichene Materialien und keine Text-Bild-Missverhältnisse. Vor allem die Texte stellten ein Problem für die Befragten dar. An einigen Stellen fehlten eine gute Gliederung etwa durch Zwischenüberschriften oder kurze Absätze. Fremdwörter möchten die Schülerinnen und Schüler nicht nachschlagen, sondern an der entsprechenden Stelle erklärt wissen. Bilder oder Grafiken sollten einen direkten Bezug zum Thema haben und nicht als Schmuckelement oder Platzfüller dienen.

All das habe ich über die Korrelationen ermittelt. Die Schulbücher, die die oben genannten Punkte beinhalten, wurden gut bewertet. Diejenigen, die dies nicht vorweisen konnten, haben schlechtere Bewertungen erhalten.

Ungeachtet der Ergebnisse möchte ich an dieser Stelle anfügen, dass letztlich die Verkaufszahlen entscheidend sind. Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, die sich an den Zahlen orientieren, die wir natürlich als Autor:innen auch zu sehen bekommen. Die Zahlen entscheiden, ob ein Schulbuch in der Form weitergeführt wird oder nicht.

Redaktion: In Ihrer Studie haben Sie den Schwerpunkt auf „geografische Schulbücher“ gelegt. Inwieweit treffen Ihre Erkenntnisse auch auf Bücher in anderen Unterrichtsfächern zu?

Lathan: Bücher des Mathematik- oder Sprachunterrichts sind hier auszuklammern, aber ansonsten sind die Ergebnisse übertragbar, gerade in den geisteswissenschaftlichen Fächern. Geografie ist das medienintensivste Fach. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse ist aus pragmatischer Sicht mehr als denkbar, sie sind aber noch nicht empirisch belegt. Ich denke, und das bestätigen Reaktionen auf meine Studie, dass die Fragestellung weiterhin aktuell und relevant sein wird. Ich möchte auf jeden Fall daran weiterarbeiten.

Handreichung für Lehrkräfte und Autor:innen

Als Konsequenz aus ihrer Studie hat Dr. Hannah Lathan eine „Handreichung“ entwickelt, die Lehrkräften und Schulbuchautor:innen als Diskussionsgrundlage in der Beschäftigung mit Qualitätskriterien von Schulbüchern genutzt werden kann. Die Anregungen lassen sich auf weitere Lehr-Lern-Materialien, Arbeitsblätter oder digitale Anwendungen übertragen.
Handreichung

Redaktion: Was macht ein gutes Schulbuch im Jahr 2022 aus? 

Lathan: Vieles ergibt sich aus den oben benannten Beispielen. Handlungsorientierte Aufgaben, Lernen geknüpft an reale Situationen, klassische Team- und Projektarbeit sind gerade in den Klassenstufen, die ich befragt habe, unheimlich wichtig. Das hat mit Blick auf die zukünftige Arbeitswelt eine hohe Relevanz für die Schülerinnen und Schüler. Dennoch sind digitale Angebote wichtiger denn je.

Ein gutes Schulbuch muss also auch digitale Querverweise wie zum Beispiel QR-Codes beinhalten. Das ist zwar häufig eine rechtliche Frage im Bereich des Datenschutzes, aber – und ich kann jetzt für das Fach Geografie sprechen, denn hier wird oftmals fachfremd unterrichtet - ein Buch, dass eine Mischung aus analogen und digitalen Lernangeboten beinhaltet, bietet hier beste Voraussetzungen für einen nicht allzu frontal angelegten Unterricht, der sich ausschließlich am Schulbuch orientiert. Denn das kann fachfremden Lehrkräften durchaus passieren, was Ihnen nicht zu verübeln, aber aus didaktischer Sicht nicht zielführend ist.

Der richtige Weg der Unterrichtsgestaltung ist ja, dass ich mir als Lehrkraft aus verschiedenen Materialien etwas zusammensuche und dann auswähle, was für meine Zielstellung in meinem Unterricht am wichtigsten ist und wie ich es den Schülerinnen und Schülern möglichst nahebringen kann.

Redaktion: Auch im Bildungsbereich schreitet die Digitalisierung voran, brauchen wir Schulbücher überhaupt noch?

Lathan: Ich muss vorwegsagen, dass meine Studie im Zeitraum von Januar bis Juli 2019 lief und somit die Begebenheiten der Corona-Pandemie nicht berücksichtigt wurden. Doch unabhängig der Entwicklungen, die hier in Gang gesetzt wurden, Texte und Bilder bleiben in der analogen Schul- und auch Arbeitswelt weiterhin wichtig. Die Kernkompetenz, Texte analysieren und interpretieren zu können, muss Schule vermitteln und das ist anhand eines Schulbuchs sehr gut möglich. Hierin kann man markieren, unterstreichen oder an der Seite Informationen rausschreiben, wenn ich sich auf eine Klassenarbeit vorbereitet – all das sind Dinge, die das Lernen und Verstehen befördern. Aus meiner Befragung weiß ich, dass die Schülerinnen und Schüler eben jenes „Haptische“ sehr wertschätzen. 

„Das Schulbuch bietet für alle Beteiligten im Bildungskontext eine Orientierung und wird das Leitmedium bleiben.“

Dr. Hannah Lathan

Kurzum: Ja! Wir brauchen Schulbücher, denn das Schulbuch wird auch weiterhin aus meiner, aber auch aus wissenschaftlicher Sicht das Leitmedium des Unterrichts bleiben, weil es gleich mehrere Funktionen erfüllt. Es steuert die Lerninhalte und die curricularen Lernpläne, denn es arbeiten ja nicht nur die Schülerinnen und Schüler damit. Auch die Lehrkräfte, die Eltern, die Bildungsadministration und -politik arbeiten damit. Das Schulbuch ist ein Medium basierend auf gesellschaftlichem Konsens. Natürlich wird die Bedeutung des Buches zugunsten anderer Medien abnehmen. Aber es bietet für alle Beteiligten im Bildungskontext eine Orientierung und wird meiner Meinung nach das Leitmedium bleiben.

Redaktion: Frau Doktorin Lathan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Hannah Lathan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta in der Fakultät für Natur-und Sozialwissenschaften im Fachbereich Geographie in der Abteilung Lernen in ländlichen Räumen. Zugleich ist ihre Forschung eingebunden im Vechta Institute of Sustainability Transformation of Rural Areas (VISTRA) sowie im Kompetenzzentrum für Regionales Lernen in Vechta. Sie schreibt geographische Schulbücher für den Cornelsen-Verlag, publiziert in (geographischen) Fachzeitschriften und ist für die i.m.a. – information.medien.agrar e.V. als Rezensentin für Lehr- und Lern-Materialien mit landwirtschaftlichen Schwerpunkten tätig.