Was muss sich in unserem Bildungssystem ändern, Frau Rasfeld?

Im Anschluss an die aim-Bildungskonferenz spricht die Pädagogin und Bildungsaktivistin Margret Rasfeld im Interview über Kompetenzen, innovative Lernformate und die Bildung der Zukunft.

Margret Rasfeld, Mitgründerin von „Schule im Aufbruch“, setzt sich als Bildungsinnovatorin für eine Neuausrichtung der Bildung ein. Im ersten Teil dieses Interviews erläutert Sie, wie die Schule von morgen für Schüler:innen und Lehrkräfte aussieht. Im zweiten Teil, der am 4. April in diesem Magazin erscheinen wird, spricht sie darüber, wie der Wandel im Bildungssystem trotz Lehrkräftemangel gelingen kann.

Redaktion: Frau Rasfeld, Sie waren als Speakerin bei der aim-Bildungskonferenz dabei. Im Zentrum der Biko stand die Frage danach, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler benötigen, um in Zukunft ein gelungenes Leben führen zu können. Welches sind aus Ihrer Sicht die Kompetenzen, die Schulen Kindern und Jugendlichen mitgeben sollten?

Margret Rasfeld: Vor den Kompetenzen steht für mich die Haltung. Wir brauchen Kinder und Jugendliche, die an sich glauben, die daran glauben, dass sie etwas verändern können, dass ihre Stimme zählt und auch, dass sie Einfluss auf das haben, was sie lernen und wie sie lernen. Auch Kreativität würde ich eher zu den Haltungen zählen. Genauso die Stärkung der sogenannten Emotional Literacy sowie eine lebendige Beziehung zur Natur.

Wichtige Kompetenzen sind dann zum Beispiel die Kommunikationsfähigkeit, mit allem, was dazu gehört: dem Schätzen von Diversität, empathischem Zuhören, Ambiguitätstoleranz. Zudem die Fähigkeit zur Kollaboration, Fehlertoleranz und natürlich Basics wie das sinnentnehmende Lesen, ein Grundverständnis für Mathematik, ein Geschichtsbewusstsein und ein kritischer Umgang mit Daten und Informationen.

„Schulbücher sind ein schwerer Innovationshemmer. Kompetenzorientiertes Lernen hat es immer dann schwer, wenn man ein Schulbuch vor sich hat.“

Margret Rasfeld

Redaktion: Wie können Lehrkräfte ihren Unterricht gestalten, um Schülerinnen und Schülern diese Kompetenzen zu vermitteln? 

Rasfeld: Zunächst geht es um die Frage, mit welcher Haltung Schulleitungen und Lehrkräften jungen Menschen begegnen. Ist es eine Begegnung auf Augenhöhe? Werden die Interessen der Kinder und Jugendlichen ernst genommen? Vertrauen lässt sich nur aufbauen, wenn Kinder und Jugendliche merken, dass sie als Person gemeint und gesehen sind. 

Ein zweiter Punkt ist, dass Lehrkräfte in der Lage sind, die Inhalte ihrer Fächer mit Begeisterung zu vermitteln. Dafür müssen sie sich von den oftmals schlechten Arbeitsmaterialien lösen. Arbeitsblätter sind in hohem Maße entpersonalisiert und fremdbestimmt. Sie führen zu einer vermeintlichen Sicherheit, weil sich die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler mit der Lösung im Lehrerhandbuch abgleichen lassen und dadurch Lernziele erreicht scheinen. Auch Schulbücher sind ein schwerer Innovationshemmer. Viele Lehrkräfte und Eltern glauben, pro Schuljahr müsse ein Schulbuch durchgekaut werden. Das kompetenzorientierte Lernen hat es entsprechend schwer, wenn man ein Schulbuch vor sich hat. 

Redaktion: Wie sieht das Lernen der Zukunft aus?

Rasfeld: Der bisherige Lehrplan ist fremdbestimmt, im Gleichschritt, noten- und prüfungsbasiert und im Fächerkorsett. Diese Dinge gilt es zu überwinden. Zukunftsfähiges Lernen ist projektbasiert, fächerübergreifend, findet im Team statt und bedeutet eigenen Fragen nachzugehen, sich Herausforderungen zu stellen und nach Lösungen für die Probleme unserer Welt zu suchen und sich auf diese Weise als selbstwirksam zu erleben. Der Auftrag an Schulen durch den nationalen Aktionsplan für nachhaltige Entwicklung lautet „Lernen die Welt zu verändern.“ Dafür braucht es Freiräume und die Erwachsenen müssen diese Haltung vorleben. Es kann nicht sein, dass Lehrkräfte das eine predigen und dann anders handeln. Wenn Lehrkräfte sagen, dass es wichtig ist, einander zu helfen und Lernenden dann in Klausuren das Heft wegnehmen, wenn sie sich gegenseitig unterstützen, ist das fatal.

Deshalb müssen sich auch unsere Prüfungsformate ändern und insgesamt anspruchsvoller werden. Als Kultusministerin würde ich kein Abitur dafür vergeben, bestehendes Wissen reproduzieren zu lassen. Das Abitur sollten diejenigen bekommen, die sich mit den Sustainable Development Goals (Anm. der Red.: Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die die Vereinten Nationen zur Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung verabschiedet haben) auseinandergesetzt und Projekte dazu auf den Weg gebracht haben.

„Lehrkräfte werden in der neuen Lernkultur viel stärker als Prozessbegleiter gebraucht, denn als Wissensvermittler.“

Margret Rasfeld

Redaktion: Der von Ihnen initiierte „Frei Day“ ist ein Lernformat, das Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen will, selbstständig Ideen für eine nachhaltigere und gerechtere Lebensweise zu entwerfen. Was Lernen Kinder und Jugendliche auf diese Weise, das Sie in der der derzeitigen Lernkultur bislang vermissen?

Rasfeld: Der „Frei Day“ macht Kindern zu selbstwirksamen Changemakern. So wird Schule vom Sitzort zum Wirkort. Beim „Frei Day“ finden sich Schülerinnen und Schüler in interessensgeleitenden Gruppen zusammen, weil es schwierig ist, eine Klasse über längere Zeit für das gleiche Thema zu begeistern. Zu diesem Thema eigenen sich die Kinder und Jugendlichen dann zunächst selbst Wissen an. Im Anschluss richten sie den Blick auf ein Problem an ihrer Schule oder Kommune und entwickeln Lösungen, die sie dann auch umsetzen. Je nach Thema dauert das mal vier Wochen und mal ein Jahr. Das ist eine Herausforderung für Lehrkräfte, die oftmals nicht gelernt haben, welche Rolle sie im Projektlernen übernehmen. Lehrkräfte werden in der neuen Lernkultur viel stärker als Prozessbegleiter gebraucht, denn als Wissensvermittler. Diese neue Haltung lernen Lehrkräfte leichter in Formaten wie dem „Frei Day“ als in den Fächern, die sie bereits jahrelang mit einer anderen Haltung unterrichten. Der „Frei Day“ ist somit eine Brücke zwischen der alten und neuen Lernkultur. 

Redaktion: Welche Voraussetzungen braucht die neue Lernkultur an Schulen? 

Rasfeld: Wir brauchen visionäre Schulleitungen mit Führungskompetenz, die in der Lage sind, die Haltung, über die ich oben gesprochen habe, zu leben. Daneben brauchen Schulen eine Transformationsbegleitung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Beschlüsse wie der Nationale Aktionsplan für nachhaltige Entwicklung auch an den Schulen ankommen und Schulleitungen und Lehrkräfte befähigt und unterstützt werden, diese umzusetzen.

Was meiner Meinung nach ebenfalls einen großen Effekt hat und schnell umsetzbar ist, sind Modellprojekte wie die Zukunftsschulen. Dafür braucht es keine großen Gesetzesänderungen, aber diese Modelle, zeigen, dass eine Transformation gelingen kann und sie machen deutlich, was es braucht, um Menschen im System dazu zu befähigen.

Redaktion: Als ehemalige Schulleiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum kennen Sie die Hürden, mit denen Bildungseinrichtungen zu kämpfen haben. Wo stehen deutsche Schulen auf dem Weg zu zukunftsfähigem Lernen aktuell? 

Rasfeld: Ich könnte jetzt sagen, dass ich Schule im Aufbruch gegründet habe und sich immer mehr Schulen anschließen und das gut ist. Aber bezogen auf die 40.000 Schulen in Deutschland mit ihren 10 Millionen Schülerinnen und Schüler ist das leider noch nicht viel. Damit etwas in die Breite geht, braucht es zunächst den Aufbruch von unten und dann die Stützung und Stärkung von oben. Besonders letzteres sehe ich aktuell nur durch das Modellprojekt der Zukunftsschulen verwirklicht. 

Redaktion: Welches sind die größten Herausforderungen auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur? 

Rasfeld: Was eine große Bewegung nach wie vor hemmt, sind die Vorurteile im Kopf. Lassen Sie mich ein Beispiel machen: Nach der Pisa-Studie im Jahr 2000 hatten wir einen ersten Schock bezogen auf die Lesekompetenz. An meiner Schule haben sich Schülerinnen und Schüler daraufhin eine Aktion überlegt, an Schulen im sozialen Brennpunkt vorzulesen. Das Projekt war ein toller Erfolg für beide Seiten. Heute haben wir das gleiche Problem wieder und reagieren mit einer zusätzlichen Stunde Deutschunterricht. Warum lassen wir nicht diejenigen Schülerinnen und Schüler in Kindergärten und Schulen vorlesen, die hier Verantwortung übernehmen wollen? Stattdessen sollen Schülerinnen und Schüler jetzt nach dem Abitur ein soziales Jahr absolvieren, um soziale Kompetenz zu lernen, das verstehe ich nicht.

Zur Person

Margret Rasfeld ist Bildungsinnovatorin und Mitbegründerin der Initiative „Schule im Aufbruch“, die sich für eine Neuausrichtung der Bildung einsetzt. Dabei orientiert sie sich unter anderem an den Leitlinien der UNESCO Bildung für nachhaltige Entwicklung.