Was Schulen in Brennpunkten besonders belastet – und wo sie dringend Hilfe brauchen

Eine neue Studie der Wübben Stiftung Bildung nimmt systematisch die Schulen in besonders herausfordernden Lagen in den Blick. Eine Übersicht über ihre Probleme und mögliche Lösungen.

Corona-Pandemie, Lehrkräftemangel, die Integration von hunderttausenden geflohenen Kindern: Das deutsche Schulsystem steht allerorts vor großen Herausforderungen. Doch es gibt einige Schulen in  herausfordernden Lagen, die besonders zu kämpfen haben, sogenannte Brennpunkt-Schulen. Ihre Situation hat eine Studie der Wübben-Stiftung jetzt systematisch ergründet. 

Für die Untersuchung wurden im Januar 2023 rund 300 Schulen aus Berlin, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein für eine Online-Befragung angeschrieben. In der finalen Auswertung wurden schließlich 149 Leitungen von Schulen berücksichtigt, in denen mindestens 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Familien mit Bezug von Arbeitslosengeld kommen oder mindestens 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine andere Herkunftssprache als Deutsch haben.

Studienergebnisse sind „zum Teil erschreckend”

Die Studie nimmt mehrere Aspekte in den Blick: die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, die Bedingungen des Lernens in Schule und Unterricht, die schulischen Ressourcen, Personal an der Schule, Eltern als Bildungs- und Erziehungspartner sowie die Leitung an der Schule. Im Ergebnis habe vor allem die Schärfe mancher Zustände überrascht, berichtet Dr. Hanna Pfänder, eine der Autorinnen der Studie, im Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement. „Die Lernvoraussetzungen, mit denen die Kinder in die Schule starten, sind zum Teil erschreckend: Fast ein Drittel der Kinder sitzt in diesem jungen Alter schon mit traumatischen Lebenserfahrungen wie Flucht oder Gewalt im Klassenzimmer, jedes fünfte Kind war nicht in der Kita.” Zum Vergleich: Bundesweit liegt die Zahl der Kinder, die keine Kita besuchen, etwa halb so hoch, bei circa acht Prozent.

„Wir sehen zudem eine Gruppe von Schulen in unserer Stichprobe, bei der sich die Herausforderungen wirklich zuspitzen", berichtet Forscherin Pfänder weiter. Dort seien etwa 95 Prozent der Kinder zuvor nicht in die Kita gegangen. Genau in diesen Schulen sei es dann oft auch so, dass Kinder länger in der Grundschule verblieben, „um das aufzuholen, was sie zum Start in der ersten Klasse gar nicht mitgebracht haben”, beschreibt Pfänder. Durchschnittlich überschreitet an den befragten Schulen mehr als jedes fünfte Kind die Regelzeit an der Grundschule.

Immens hoher Unterstützungsbedarf

Petra Alex, Schulleiterin einer Brennpunkt-Schule in Berlin, schildert die Situation im Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement in Brennpunktschulen so: „Viele unserer Schülerinnen und Schüler benötigen zu Beginn ihrer Schulzeit die Förderung basaler Grundfertigkeiten. Viele Kinder haben nicht gelernt, Treppen zu steigen, mit der Schere zu schneiden oder konfliktarm zu spielen.” Still sitzen, den Stift halten, der Lehrkraft zuhören – schon an so einfachen Dingen scheiterten Erstklässler und Erstklässlerinnen in diesen Schulen, bestätigt Forscherin Pfänder: „Es fehlt an grundlegenden Fähigkeiten, um überhaupt mit dem eigenen und dem gemeinsamen Lernen zu beginnen.”

Somit stünde in den ersten Schuljahren bei diesen Kindern „zunächst eine basale Förderung auf vielen Ebenen an, um mit der Vermittlung der Kulturtechniken starten zu können”, erläutert Schulleiterin Alex. In der Theorie dürften die Kinder die Schulzeit in der Schulanfangsphase dehnen, Raum- und Personalnot erschwerten aber die Umsetzung.

Insgesamt attestieren die Schulleitungen in der Studie den Kindern bei Schuleintritt einen immens hohen Unterstützungsbedarf. Am größten ist dieser im Bereich der Sprachkompetenzen. Schulleiterin Alex berichtet: „Zunehmend beobachten wir bei fast allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft die Schwierigkeit, die deutsche Sprache angemessen anzuwenden und zu verstehen.” Der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit amtlich festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf liegt bei durchschnittlich 8,2 Prozent, im Bundesschnitt sind es 3,4 Prozent. Zusätzlich vermuten die Schulleitungen bei durchschnittlich weiteren 14,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Förderbedarf, der bislang nicht diagnostiziert worden ist.

Viel zu knappe räumliche und personelle Ressourcen

„Schulen mit besonderen Belastungen brauchen auch eine besondere Unterstützung – in unseren Ergebnissen sieht die Ressourcenlage der untersuchten Schulen allerdings eher miserabel aus“, sagt Dr. Pfänder. Über 70 Prozent der Schulleitungen beurteilen die räumlichen und die personellen Ressourcen an ihren Schulen als schlecht, die unzureichende Personalausstattung sei dabei die größte Herausforderung. Der Mangel umfasse nicht nur Lehrkräfte sondern auch das multiprofessionelle Personal, so Pfänder. 

Das spiegelt auch Schulleiterin Alex: „Nicht jede Pädagogin und jeder Pädagoge lassen sich für diese Arbeit gewinnen. Hier benötigen wir die besondere Unterstützung durch unsere Schulaufsicht.” Man arbeite viel mit hochmotivierten Studentinnen und Studenten der Pädagogik, mit vielen schon seit mehreren Jahren – mit der Hoffnung „geeignete Menschen langfristig für unsere Schule zu gewinnen”, so Alex weiter. „Jedes Jahr bangen wir darum, diese jungen Menschen einstellen zu dürfen.”

Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt ist der Anteil an Schulen, an denen Lehrkräfte ohne Lehramtsqualifikation arbeiten, bei den Brennpunktschulen laut der Studie deutlich höher. Im Durchschnitt hat an den befragten Schulen knapp jede fünfte Lehrkraft kein grundständiges Lehramtsstudium absolviert.

Lehrpläne – zu viel, zu schwer, zu realitätsfremd

Eine überwältigende Mehrheit der Schulleitungen an Brennpunktschulen gibt an, dass sich sowohl die Lehrpläne (etwa 80 Prozent) als auch die gängigen Lehrwerke (etwa 70 Prozent) nicht für ihre Schülerinnen und Schüler eignen. Das Feedback sei hier eindeutig, erläutert Dr. Pfänder: „Es ist zu viel, es ist zu schwierig und es passt nicht zu der Realität, in der die Kinder leben.” Und das hat weitreichende Konsequenzen: „Da die gängigen Lehrwerke nicht passen, müssen die Lehrkräfte an den Schulen immer wieder eigenes Material entwickeln – ein unglaublicher Ressourcenaufwand.”

Außerunterrichtliche Zeitfresser: Elternkontakt und Konfliktmanagement

Die Belastung von Lehrkräften und Schulleitungen wird insgesamt als zu hoch wahrgenommen. Das liege unter anderem daran, dass nach Einschätzung der Schulleitungen durchschnittlich etwa ein Drittel der Arbeitszeit der Lehrkräfte auf nicht-unterrichtsbezogene Tätigkeiten zurückgehe. Dabei spielt vor allem der zeitintensive Kontakt mit Eltern und der Umgang mit Konfliktsituationen eine große Rolle. „Wir sehen in unseren Befunden, dass es einen großen Teil an Eltern gibt, den die Schulen mit ihrer Arbeit kaum erreichen”, berichtet Dr. Pfänder. Diese Distanz zur Institution Schule zu überwinden sei „ein immenser Aufwand” für die Verantwortlichen. 

Schulleiterin Alex berichtet, dass viele der Eltern Schwierigkeiten hätten, „notwendige behördliche Gänge zu absolvieren, Anträge für sich und ihre Kinder einzureichen.” Damit verzichteten sie oftmals auf ihnen und ihren Kindern zustehende Mittel und Unterstützung Daher wäre es hilfreich, wenn es in den Schulen für die Eltern zugängliche Sprechstunden gäbe, um etwa Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr, die Übernahme von Klassenreiskosten oder um den Hortgutschein zu beantragen. Dazu müsste die Elternarbeit aber auch „als wichtiges und zeitintensives Moment Anerkennung im Lehrerarbeitszeitmodell finden”, so Alex weiter.

Was tun? „Ungleiches ungleich behandeln!”

Was ist also zu tun? Lösungsvorschläge und Empfehlungen zur Studie haben acht Schulleitungen aus vier Bundesländern mit Unterstützung der Wübben Stiftung Bildung in einem gesonderten Dokument namens “Chancen schaffen” erarbeitet. Eine Kernforderung darin lässt sich unter dem Schlagwort „Ungleiches ungleich behandeln” zusammenfassen. Dazu gehörte laut der Autoren und Autorinnen „ein Sozialindex, der sich durch die Parameter Armut’ und ‘Sprache’, also den für unsere Kinder maßgeblichen Bezug von Sozialhilfe sowie eine nicht-deutsche Herkunftssprache bilden lasse”. So ließe sich an den Bedarfen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler orientiert  eine gezielte Steuerung von Ressourcen aufbauen, die bisher fehle. Idealerweise würde diese „auf einem Sozialindex basierende Steuerung von Ressourcen” ergänzt „durch eine stärkere datengestützte Unterrichts- und Schulentwicklung”. 

Des Weiteren empfehlen die Praktikerinnen und Praktikeraus den Brennpunktschulen, Kinder so früh wie möglich zu fördern, um die Eingangsvoraussetzungen bei Schuleintritt zu verbessern. Ein Screening im Elementarbereich mit anschließender verpflichtender Förderung zur Sicherung ausreichender Kompetenzen bei Schuleintritt (Sprache, Motorik, Impulskontrolle) könne dabei helfen, später aufwendige Fördermaßnahmen zu vermeiden. Sehr wichtig sei in den sozial herausfordernden Lagen dieser Schulen zudem „eine frühe Verzahnung mit den Kindertagesstätten oder eine frühe Kontaktaufnahme mit den Eltern, die ihre Kinder nicht in die Kindertagesstätte schicken, um bereits früh Einfluss auf die Eltern nehmen zu können, um zum Beispiel Fördermaßnahmen zu vermitteln (Logopädie, Ergotherapie, Sprachkurse, Psychotherapie).”

Mehr Praxisbezug, mehr Spielraum in den Curricula

Bezüglich der unpassenden, realitätsfernen Lehrpläne und -werke empfehlen die Schulleitungen eine stärkere Konzentration auf die Vermittlung der Basiskompetenzen in den Curricula und gleichzeitig einen dafür notwendigen höheren Praxisbezug. „Dies erfordert einen erhöhten inhaltlichen Spielraum bei der verbindlichen Umsetzung der Lehr- und Lernpläne an Schulen in herausfordernder Lage.” Des Weiteren brauche es eine jährliche, zentral bereitgestellte digitale Diagnostik der Schülerinnen und Schüler, „die in eine individualisierte Förderung in evaluierten Programmen mündet”. Ideal wäre eine Schüler-ID und Schülerinnen-ID, um Lernfortschritte über Jahre nachvollziehen zu können. „Vergleiche, die den relativen Lernerfolg abbilden, den die Kinder und Jugendlichen unserer Schulen erzielen, sind für uns wichtiger als die bisher genutzten Vergleichstests.”

Die Schulleitungen der Brennpunktschulen fordern zudem „mehr Raum und Zeit , um uns so lange wie nötig mit höchstmöglichem Lebensweltbezug auf die Vermittlung von Basiskompetenzen konzentrieren zu können”. Auch die sozial-emotionale Entwicklung zählten die Praktikerinnen und Praktikerdazu. Wichtig sei hier auch ein gut ausgebauter und personell gut ausgestatteter Ganztagsbereich in Verantwortung der Schule.

Eigenverantwortliche Ressourcenverwaltung

Was die dringend benötigten Ressourcen angehe, wünschten sich die Schulleitungen ein „ein unabhängig vom Schulträger gesichertes, eigenverantwortlich verwaltetes Chancenbudget, um sich bedarfsgerecht mit Qualifizierung, Honorarkräften und/oder Praxiseinblicken an anderen Lernorten versorgen zu können”. Zudem brauche es ein Bildungsangebot, das „verlässlich und voraussetzungslos” so ausgestaltet sei, „dass auf die familiären Versorgungslücken reagiert werden kann”. Hierbei gehe es etwa um Nachhilfe, Sport, kulturelle Bildung, Lernen an anderen Orten, Exkursionen, Klassenfahrten, Berufsfelderkundung und Berufsorientierung. Auch was die digitale Technik betreffe, brauche man eine bessere Ausstattung, „um die fehlende Versorgung aus dem Elternhaus ausgleichen”.

Pragmatischere Personalakquise

An der Personalfront brauche man neben einer „auskömmlichen” Versorgung, die sich an einem Sozialindex ausrichtet, eine pragmatischere und flexiblere Personalakquise: „Die Schulleiterin oder Schulleiter sollten zentral mitentscheiden können, wer in welchem Umfang in der Schule eingesetzt wird.” In der Lehrkräfteausbildung sollte die erste Ausbildungsphase als duales Studium organisiert werden, um früher Praxiserfahrungen zu ermöglichen, schreiben die Praktikerinnen und Praktiker. „Die Studentinnen und Studenten sollten vorrangig an Schulen in herausfordernder Lage eingesetzt werden, um sie dem Thema Bildungsgerechtigkeit näher zu bringen und damit sie diese lohnenswerte Herausforderung für sich entdecken können.“

Auch ein überarbeitetes Arbeitszeitmodell sei vonnöten, „das die vielen spezifischen Aufgaben an unseren Schulen abbildet und nicht nur die Unterrichtsverpflichtung und Korrekturarbeiten”, schreiben die Autorinnen und Autoren. Es müsste insbesondere der überaus hohe Kommunikationsbedarf im multiprofessionellen Team, in der Beratungsarbeit mit den Sorgeberechtigten, den Ämtern, Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten berücksichtigt werden. Gerade in der Beziehungsarbeit und der Unterstützung bei außerschulischen Arbeitsfeldern abseits unmittelbarer Bildungsvermittlung bräuchten Lehrkräfte Unterstützung etwa von Erzieherinnen und Erziehern, Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern, Logopädinnen und Logopäden sowie Psychologen und Psychologinnen. Mehr und leicht erreichbare Schulpsychologie und Schulsozialarbeit seien hier besonders wichtig.

Zur Person

Dr. Hanna Pfänder leitet seit 2021 das impaktlab – die wissenschaftliche Einheit der Wübben Stiftung Bildung.

Zur Person

Petra Alex ist Schulleiterin in einer Brennpunktschule in Berlin.