Weniger Schulabbrüche dank früher Erkennung: Wie maschinelles Lernen helfen kann
Ein Schulabbruch kann weitreichende negative Folgen für Jugendliche haben. Eine Studie von Dr. Maria Psyridou zeigt, dass maschinelles Lernen dabei helfen könnte, frühzeitig zu intervenieren.
Eine finnische Studie zeigt, dass maschinelles Lernen Schüler:innen mit erhöhtem Schulabbruchrisiko frühzeitig identifizieren könnte. Solche Vorhersagemodelle könnten Lehrkräfte in Zukunft dabei unterstützen, gefährdete Schüler:innen rechtzeitig zu fördern. Doch wie verlässlich sind diese Modelle und welche Erkenntnisse lassen sich bereits vor ihrer breiten Anwendung daraus ableiten?
Redaktion: Frau Psyridou, Ihre Studie basiert auf Daten aus Finnland, einem der Vorzeigeländer im PISA-Ranking. Wie groß ist das Problem des Schulabbruchs in Finnland im Vergleich zu anderen Ländern?
Dr. Maria Psyridou: Laut dem Statistischen Amt der Europäischen Union (EUROSTAT) haben knapp 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in der Europäischen Union keinen Abschluss über die Sekundarstufe I hinaus. In Finnland brechen 0,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler während der Sekundarstufe I ab, in der Sekundarstufe II ist die Zahl deutlich höher: Die Abbruchquote liegt bei 13,3 Prozent an berufsbildenden Schulen und 3,6 Prozent an allgemeinbildenden Gymnasien.
„Schulabbrüche können das Risiko für kriminelles Verhalten, Substanzmissbrauch und psychische Probleme erhöhen.“
Dr. Maria Psyridou
Redaktion: Welche Auswirkungen hat der Schulabbruch auf junge Menschen und auf die Gesellschaft, in der sie leben?
Psyridou: Bildung ist ein Eckpfeiler für Armutsbekämpfung, Wirtschaftswachstum und persönliche Entfaltung. Ein Schulabbruch führt zu verpassten Chancen, reduziertem Potenzial und schwerwiegenden sozialen Folgen wie höheren Armutsraten und der Abhängigkeit von staatlichen Hilfen. Forschungsergebnisse verknüpfen Schulabbrüche mit niedrigeren Löhnen, dem Einstieg in den unqualifizierten Arbeitsmarkt sowie einem höheren Risiko für kriminelles Verhalten, Substanzmissbrauch und psychische Probleme. Die gesellschaftlichen Kosten, von verminderten Steuereinnahmen bis hin zu höheren Ausgaben für Sozial- und Gesundheitsdienste, machen den Schulabbruch zu einem kritischen Thema. In Finnland und weltweit ist die Sekundarstufe II entscheidend für die berufliche Eingliederung und soziale Inklusion.
Redaktion: Ihre Studie verwendet maschinelles Lernen, um Schulabbrüche vorherzusagen. Was sind die Vorteile dieser Methode?
Psyridou: Schulabbrüche haben sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Auswirkungen. Der Einsatz von maschinellem Lernen in diesem Bereich steckt noch in den Anfängen und es bedarf weiterer Forschung. Dennoch scheint es, dass durch maschinelles Lernen gefährdete Schülerinnen und Schüler frühzeitig identifiziert und rechtzeitige Interventionen ermöglicht werden könnten. Darüber hinaus könnten diese Modelle dabei helfen, Ressourcen gezielt einzusetzen, indem sie es ermöglichen, Lernende mit einem erhöhten Abbruchrisiko fokussiert zu unterstützen.
Maschinelles Lernen erlaubt die Analyse umfangreicher und komplexer Datensätze, wie sie im Bildungssystem generiert werden. In unserer Studie verwendeten wir einen Längsschnittdatensatz, der Merkmale von der Vorschule bis zur 9. Klasse umfasst, um einen umfassenden Überblick über den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen zu erhalten. Die Ergebnisse zeigen, dass unser Modell gefährdete Schülerinnen und Schüler bereits am Ende der Grundschule identifizieren kann.
Redaktion: Wie verlässlich sind solche Modelle?
Psyridou: Die Gründe für einen Schulabbruch können von Person zu Person stark variieren. Diese inhärente Variabilität der individuellen Abbruchfaktoren kann die Gesamtleistung von maschinellen Lernmodellen einschränken. Falsch-positive Vorhersagen, bei denen eine Schülerin oder ein Schüler fälschlicherweise als gefährdet eingestuft wird, könnten zu unnötigen Interventionen führen. Daher sollten solche Modelle als Werkzeuge zur Unterstützung verstanden und nicht als Ersatz für die Beurteilung durch Lehrkräfte genutzt werden. Eine kontinuierliche Verfeinerung der Modelle und ein kontextuelles Verständnis sind entscheidend, um solche Risiken zu minimieren. Da wir Daten aus dem finnischen Bildungssystem verwenden, ist zudem unklar, wie das Vorhersagemodell in verschiedenen demografischen und bildungspolitischen Kontexten funktionieren kann. Zusätzliche Daten und weitere Validierungen mit unabhängigen Testdatensätzen sind notwendig, bevor eine praktische Umsetzung stattfinden kann.
Redaktion: Welche Faktoren tragen zu den Schulabbrecherquoten bei?
Psyridou: Unsere Studie konzentrierte sich auf die Vorhersage von Abbrüchen und nicht auf die Identifizierung beitragender Faktoren. Der Random-Forest-Klassifikator [siehe Infobox, Anm. der Red.] hob jedoch eine Reihe von Top-Merkmalen aus den Klassen 1 bis 4 hervor, die für die Vorhersage des Schulabbruchs einflussreich waren. Dazu gehörten Merkmale wie Leseflüssigkeit, Leseverständnis und Rechenfähigkeiten. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Merkmale dazu beitrugen, die Vorhersagen im Datensatz zu verbessern und nicht als kausale oder korrelative Faktoren für Abbruch oder Nicht-Abbruchquoten interpretiert werden sollten. Sollte in zukünftiger Forschung ein solches Ranking-Profil erneut festgestellt und validiert werden, könnte dies darauf hinweisen. Es kann jedoch darauf hindeuten, dass frühe Kompetenz in diesen Schlüsselbereichen ein wichtiger Faktor für die Bildungsentwicklung und das Abbruchrisiko von Schülerinnen und Schülern ist. Trotz vorhandener Daten aus den Klassen 7 und 9, die näher am Abbruchzeitpunkt der untersuchten Schülerinnen und Schüler lagen, gehörten Merkmale wie die Leseflüssigkeit aus den Klassen 1 bis 4 und die in der Vorschule bewertete schnelle automatisierte Benennung zu den Top 5 Merkmalen in unserem Modell.
Random-Forest-Klassifikator
Der Random-Forest-Klassifikator ist ein maschinelles Lernverfahren, das auf der sogenannten Entscheidungsbaum-Methode basiert. Es wird häufig zur Klassifizierung und Vorhersage verwendet und gehört zu den leistungsstärksten Algorithmen im maschinellen Lernen. Während des Trainingsprozesses analysiert der Random-Forest-Klassifikator, wie oft und wie stark bestimmte Merkmale in den Entscheidungsbäumen verwendet werden, um die Klassifikation zu verbessern. Ein Merkmal gilt als wichtig, wenn es oft dazu beiträgt, die Klassen (z. B. Schulabbruch oder Nicht-Abbruch) besser zu unterscheiden.
Redaktion: Was bedeutet das für Schulen und Lehrkräfte?
Psyridou: Unsere Vorhersagemodelle bieten wertvolle Indikatoren, die in zukünftigen Iterationen das Potenzial haben könnten, Lehrkräfte proaktiv dabei zu unterstützen, ihre bestehenden Maßnahmen zur Identifizierung und Unterstützung gefährdeter Schülerinnen und Schüler zu verfeinern. Aus früheren Forschungen weiß man, dass maßgeschneiderte Interventionen, wie die Bereitstellung akademischer Unterstützung und die Förderung der Motivation, dazu beitragen können, dass sich gefährdete Schülerinnen und Schüler stärker in ihre Bildungsreise einzubringen.
Redaktion: Frau Doktorin Psyridou, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Dr. Maria Psyridou ist Associate Professorin an der Universität Oslo in Norwegen. Zuvor arbeitete sie als Postdoktorandin an der Universität Jyväskylä in Finnland. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Bildungspsychologie, mit besonderem Interesse an der Entwicklung von Lese- und Mathematikfähigkeiten, Lernschwierigkeiten sowie der Anwendung von maschinellem Lernen in der Bildung. Zudem untersucht sie, wie kognitive, familiäre, motivationale und umweltbedingte Faktoren das Lernen und die Bildungsergebnisse beeinflussen, mit dem Ziel, effektive Interventionsstrategien und pädagogische Praktiken zu entwickeln.