Wenn die Schule kein sicherer Ort mehr ist – Was Schulen gegen Mobbing tun können
Nachhaltig gegen Mobbing vorgehen: Ein neues Programm versucht, zeiteffizient Schulen bei Prävention und Intervention zu helfen

Mobbing ist ein Problem, das nicht nur Betroffene belastet, sondern das gesamte Schulklima beeinträchtigen kann. Dr. Vanessa Jantzer von der Universitätsklinik Heidelberg erklärt, wie das neue Programm Mobbing & Du mit innovativen Ansätzen und digitalen Ressourcen nachhaltige Prävention und Intervention ermöglichen will.
Redaktion: Frau Dr. Jantzer, Sie sind Koordinatorin des Anti-Mobbing-Programms „Mobbing & Du”. Können Sie uns einen Überblick darüber geben, wie dieses Programm entstanden ist?
Dr. Vanessa Jantzer: Unser Programm basiert auf vielen Jahren Erfahrung mit dem Thema Mobbing. Bereits 2011 haben wir an der Universitätsklinik Heidelberg erkannt, dass immer mehr Schulen und auch Patient:innen mit einer Vorgeschichte von Mobbing auf uns zukommen. Zunächst haben wir diese Fälle punktuell bearbeitet, beispielsweise mit pädagogischen Tagen oder der Weiterleitung ins Beratungssystem. 2014 haben wir das skandinavische Olweus-Programm implementiert, ein etabliertes Anti-Mobbing-Programm, das ursprünglich in Norwegen entwickelt wurde und auf einem ganzheitlichen Ansatz basiert, bei dem die gesamte Schulgemeinschaft einbezogen wird, um Mobbing nachhaltig zu reduzieren. Obwohl dieses Programm Erfolge gezeigt hat – etwa eine 25-prozentige Reduktion von Mobbingfällen innerhalb von zwei Jahren – gab es klare Herausforderungen: Das Programm war sehr aufwändig in der Umsetzung, insbesondere für Schulen, die ohnehin stark ausgelastet waren. Viele Schulen entschieden sich daher, das Programm vorzeitig abzubrechen. Zudem war das Programm in einigen Aspekten nicht mehr zeitgemäß, etwa in Bezug auf die bereitgestellten Materialien. Deshalb haben wir 2020 begonnen, ein eigenes Programm zu entwickeln.
Redaktion: Wie unterscheidet sich „Mobbing & Du” von Olweus, und worauf legen Sie besonderen Wert?
Jantzer: Beim Programm „Mobbing & Du” setzen wir auf einen mehrstufigen, systemischen Ansatz. Das Programm richtet sich an die gesamte Schule, umfasst aber auch Bausteine für Einzelne wie Betroffene oder Täter:innen, sowie für Klassen und die Schulentwicklung insgesamt. Unser Ziel ist es, nicht nur punktuell zu intervenieren, sondern Mobbing auf nachhaltige Weise zu verhindern. Hierbei spielen präventive Maßnahmen eine große Rolle, etwa Unterrichtseinheiten, die vermitteln, wie Mobbing erkannt, beendet und verhindert werden kann. Ein zentraler Unterschied ist die Bereitstellung umfangreicher Materialien. Lehrkräfte erhalten präzise, vorstrukturierte E-Learning-Pakete und Klassenstunden. Zudem bieten wir Schulungstage und digitale Begleitung für Kernteams an den Schulen, um diese intensiv zu unterstützen. Im Vergleich zu Olweus haben wir die Frequenz von Klassenstunden reduziert, um die Durchführung realistisch zu gestalten, ohne dabei die Wirksamkeit zu verlieren.
„Den Schüler:innen wird klar vermittelt, dass Mobbing nicht die Schuld der Betroffenen ist, sondern ein systemisches Problem, das durch das Verhalten aller Beteiligten aufrechterhalten wird.“
Dr. Vanessa Jantzer
Redaktion: Wie sieht der inhaltliche Ansatz von „Mobbing & Du” aus? Was sollen die Schüler:innen lernen?
Jantzer: Der Ansatz unseres Programms fokussiert sich auf drei zentrale Ziele: Mobbing erkennen, beenden und verhindern. Es ist uns wichtig, den Schüler:innen klarzumachen, dass Mobbing ein ernstzunehmender Notfall ist, der physische und psychische Gesundheit stark beeinträchtigen kann. Zudem betonen wir, dass Erwachsene immer mit einbezogen werden müssen, um effektive Lösungen zu finden. Eine zentrale Methode, die wir einsetzen, ist der sogenannte Mobbingkreis. Mit diesem Modell verdeutlichen wir die acht unterschiedlichen Rollen im Mobbinggeschehen – von Täter:innen über Zuschauer:innen bis hin zu Betroffenen. Den Schüler:innen wird klar vermittelt, dass Mobbing nicht die Schuld der Betroffenen ist, sondern ein systemisches Problem, das durch das Verhalten aller Beteiligten aufrechterhalten wird. Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch passive oder unterstützende Verhaltensweisen, wie Lachen oder Wegsehen, Mobbing fördern können. Durch gezielte Unterrichtseinheiten und praktische Übungen wie Standbilder, Rollenspiele und Bildassoziationen lernen die Schüler:innen, wie sie sich selbst und andere schützen können, indem sie aktiv eingreifen oder Hilfe suchen. Unser Ziel ist es, nicht nur Einstellungen zu verändern – beispielsweise das Bewusstsein, dass Mobbing weder harmlos noch lustig ist –, sondern auch konkrete Handlungskompetenzen zu vermitteln, mit denen sie das Problem im Alltag angehen können.
Redaktion: Was können Lehrkräfte aus dem Programm mitnehmen?
Jantzer: Die Sensibilisierung der Lehrkräfte ist ein zentraler Punkt. Jede Handlung – oder auch das Unterlassen einer Handlung – hat unmittelbare Auswirkungen auf das Mobbinggeschehen. Mit „Mobbing & Du” wollen wir Lehrkräfte befähigen, frühzeitig einzugreifen und nachhaltige Lösungen zu fördern. Wir stellen ihnen dazu eine Vielzahl an Werkzeugen bereit: von Gesprächsleitfäden und Rollenspielen bis hin zu detaillierten Anleitungen für den Umgang mit Eltern und Schüler:innen in Mobbingfällen. Zudem möchten wir die Lehrkräfte ermutigen, eine sichere und offene Atmosphäre in ihren Klassen zu schaffen, in der sich Betroffene trauen, Hilfe zu suchen und alle Schüler:innen zu einer respektvollen Gemeinschaft beitragen.
Redaktion: Welche Rolle haben Schulleitungen bei „Mobbing & Du"?
Jantzer: Schulleitungen spielen eine Schlüsselrolle im erfolgreichen Einsatz des Programms. Sie sind verantwortlich dafür, Ressourcen freizusetzen, um die Umsetzung zu ermöglichen, und tragen wesentlich dazu bei, das Kollegium zu motivieren und zu sensibilisieren. Ihre aktive Unterstützung signalisiert dem gesamten Schulteam die Wichtigkeit des Themas und fördert die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Besonders hilfreich ist es, wenn Schulleitungen selbst an den Schulungen teilnehmen oder sich intensiv mit den Materialien des Programms auseinandersetzen. Ihre Präsenz bei schwerwiegenden Fällen oder ihre aktive Beteiligung an der Erstellung von schulinternen Konzepten, etwa zu Pausenkonzepten oder Maßnahmenkatalogen, verstärkt die Nachhaltigkeit der Bemühungen.
Redaktion: Das Thema Cybermobbing wird in den letzten Jahren immer präsenter. Wie gehen Sie in Ihrem Programm auf dieses Thema ein?
Jantzer: Cybermobbing ist zweifellos ein wachsendes Thema, aber es kommt nach wie vor seltener vor als das klassische Schulmobbing. Laut der aktuellen HBSC-Studie der WHO sind etwa sieben Prozent der Jugendlichen an Cybermobbing beteiligt, während die Beteiligung an Schulmobbing bei 14 Prozent liegt. Es ist also falsch, anzunehmen, dass Mobbing inzwischen nur noch online stattfindet. Tatsächlich gibt es zwischen Cyber- und Schulmobbing große Schnittmengen – die meisten Betroffenen von Cybermobbing erleben beides. Reines Cybermobbing ist vergleichsweise selten. In unserem Programm legen wir den Schwerpunkt auf Schulmobbing, berücksichtigen aber auch Cybermobbing. Besonders in der siebten Jahrgangsstufe behandeln wir Themen wie Klassenchats und respektvolles Verhalten im Netz. Wichtig ist uns, den Schüler:innen ein Bewusstsein für die Auswirkungen ihres Verhaltens zu vermitteln. Gerade im digitalen Raum fällt es oft leichter, etwas Unüberlegtes zu schreiben oder zu teilen, weil die direkte Reaktion der betroffenen Person nicht sichtbar ist. Übungen wie das Vergleichen von Chatnachrichten mit direkten Gesprächen helfen, diese Dynamik zu verdeutlichen und Empathie zu fördern. Cybermobbing wird in Zukunft sicherlich weiter an Bedeutung gewinnen, aber im Kontext von traditionellen Formen des körperlichen, verbalen und sozialen Mobbings, die wir keinesfalls aus dem Blick verlieren dürfen.
Redaktion: Ihre Studie begleitet das Programm wissenschaftlich. Welche Fragen möchten Sie untersuchen? Und gibt es bereits erste Ergebnisse?
Jantzer: Die Hauptfrage unserer Studie lautet: Reduziert das Programm die Mobbingrate? Wir erfassen hierbei sowohl die Betroffenen- als auch die Täterrate. Darüber hinaus messen wir die psychische Gesundheit und Belastung der Schüler:innen, um zu verstehen, wie sich das Programm auf ihr Wohlbefinden auswirkt. Eine zentrale Fragestellung ist auch, welche Programmbestandteile besonders effektiv sind und bei welchen Schüler:innengruppen die größten Fortschritte erzielt werden. Obwohl die Studie noch läuft und keine vollständigen Datenanalysen vorliegen, erhalten wir schon jetzt wertvolles Feedback von den teilnehmenden Schulen. Viele berichten, dass durch das Programm Fälle aufgedeckt wurden, die bislang unentdeckt geblieben waren. Besonders erfreulich ist, dass Lehrer:innen von positiven Veränderungen im Schul- und Klassenklima sprechen. Dieses qualitative Feedback deutet darauf hin, dass das Programm nicht nur präventiv wirkt, sondern auch dazu beiträgt, das allgemeine Miteinander an den Schulen zu verbessern.
Redaktion: Welche Rolle spielen digitale Inhalte und Materialien im Programm?
Jantzer: Digitale Inhalte sind ein wichtiger Bestandteil. Wir nutzen die Moodle-Plattform, um E-Learning-Pakete für Lehrkräfte und Schüler:innen bereitzustellen. Darüber hinaus haben wir Videos und Materialien für Klassenstunden produziert, die konkrete Szenarien zeigen, etwa wie Lehrkräfte in Mobbing-Situationen eingreifen oder Gespräche mit Eltern, Betroffenen und Täter:innen führen. Diese digitalen Ressourcen ermöglichen eine flexible und stressfreie Nutzung, insbesondere für Lehrkräfte, die wenig Zeit haben.
Redaktion: Für Ihr Programm gibt es bereits eine Warteliste. Was möchten Sie Schulen mitgeben, die nicht an Ihrem Programm teilnehmen können, aber dennoch mit dem Problem Mobbing zu kämpfen haben?
Jantzer: Schulen, die nicht direkt an unserem Programm teilnehmen können, haben dennoch viele Möglichkeiten, aktiv gegen Mobbing vorzugehen. Ein erster Schritt ist die Entwicklung klarer und praktikabler Konzepte für Interventionen und Stufenpläne. Diese sollten genau festlegen, wie bei Mobbingfällen vorzugehen ist, wer beteiligt wird und welche Maßnahmen in welcher Reihenfolge ergriffen werden. Ein weiterer wichtiger Ansatz sind regelmäßige Klassenstunden, die auf die Sensibilisierung und Förderung sozialer Kompetenzen abzielen. Dabei sollten Themen wie das Erkennen von Mobbing, die Rollen im Mobbinggeschehen oder Handlungsmöglichkeiten für Betroffene und Beobachtende im Mittelpunkt stehen. Durch Rollenspiele und praktische Übungen können Schüler:innen lernen, Empathie zu entwickeln und effektiver miteinander umzugehen. Entscheidend ist auch die Etablierung eines festen Teams innerhalb der Schule, das sich gezielt dem Thema widmet. Dieses Team könnte aus Lehrkräften, Schulsozialarbeitenden und gegebenenfalls Schulleitungsmitgliedern bestehen. Es ist wichtig, dass diese Gruppe als Ansprechpartner:innen bekannt sind und eine Kultur des Hinsehens und Handelns fördern. Sie ist entscheidend, um eine nachhaltige Veränderung zu erreichen.
Redaktion: Frau Dr. Jantzer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Dr. Vanessa Jantzer ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg. Sie koordiniert das Präventionsprogramm „Mobbing & Du”, das im Auftrag der Baden-Württemberg Stiftung entwickelt wurde und aktuell in einer Pilotphase an 40 Schulen erprobt wird. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Prävention und Intervention bei Mobbing sowie in der Evaluationsforschung