Wenn Lehrkräfte mit Vorurteilen Chancengleichheit verhindern
Stereotype können die schulische Leistung betroffener Kinder beeinträchtigen. Bildungsforscherin Charlotte Schell plädiert daher für ein Umdenken, das schon während der Ausbildung von Lehrkräften ansetzt.
Eine aktuelle Studie untersucht Stereotype von Lehramtsstudierenden gegenüber Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung einer Lehrkräfteausbildung, die Stereotype abbaut. Nur so kann eine inklusive Lernumgebung geschaffen werden, in der alle Kinder die gleichen Chancen erhalten, ihr volles Potenzial zu entfalten.
Redaktion: Frau Schell, Sie forschen zu Stereotypen gegenüber Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf. Seit 2009 gilt der Artikel 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Dieser räumt Kindern mit Förderbedarf die Möglichkeit ein, Regelschulen zu besuchen. Was hat sich seither für diese Zielgruppe verändert?
Charlotte Schell: Empirische Studien zeigen, dass Kinder mit Förderbedarf in inklusiven Schulsettings mehr lernen als in Förderschulen und auch langfristig besser auf den Übergang in Ausbildung und Beruf vorbereitet sind. Diese Vorteile werden vor allem auf kognitiv anregendere Lernumgebungen zurückgeführt, wie zum Beispiel anspruchsvollere Curricula und die Interaktion mit leistungsstärkeren Mitschülerinnen und Mitschülern. Inwieweit Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf von diesen Vorteilen profitieren, hängt jedoch stark von der konkreten Umsetzung der Inklusion ab.
Redaktion: Ihre Studie untersucht Stereotype, die Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf entgegengebracht werden. Wie definieren Sie Stereotype? Und wie haben Sie diese untersucht?
Schell: Wir definieren Stereotype als generalisierte Überzeugungen, die Personen bezogen auf die Eigenschaften und das Verhalten von Menschen einer bestimmten sozialen Gruppe haben. Solche Gruppen können zum Beispiel Menschen bilden, die das gleiche Geschlecht, die gleiche Religion oder, wie in unserem Fall, den gleichen Förderbedarf oder die gleiche Diagnose haben. Stereotype werfen sozusagen alle Personen einer Gruppe „in einen Topf”, individuelle Unterschiede zwischen ihnen werden nicht berücksichtigt. Innerhalb einer Kultur herrschen oft ähnliche Vorstellungen über bestimmte Gruppen, da diese Überzeugungen stark durch unser Umfeld geprägt werden. Alle Menschen, nicht nur Lehrkräfte, haben Stereotype; sie helfen uns, unsere soziale Umwelt zu kategorisieren und zu ordnen.
Um die Stereotype gegenüber Kindern mit Förderbedarf zu erfassen, wurden Lehramtsstudierende mithilfe eines Fragebogens befragt. Sie sollten anhand einer Skala von 1 (nicht zutreffend) bis 6 (sehr zutreffend) bewerten, wie stark bestimmte Eigenschaften auf verschiedene Schülergruppen zutreffen.
Mediale Darstellungen prägen Stereotype
Medien können aufgrund ihrer großen Reichweite erheblichen Einfluss darauf nehmen, wie wir bestimmte Gruppen wahrnehmen. Besonders im Zusammenhang mit Autismus wird dieser Effekt deutlich sichtbar: Autistische Personen werden relativ häufig in Filmen, Büchern und Serien dargestellt - oft auf eine Weise, die der Individualität und Vielfalt der betroffenen Personen nicht gerecht wird. Die Charaktere werden in vielen Fällen als hochbegabte Genies und/oder sozial isolierte Personen dargestellt. Diese vereinfachten und extremen Darstellungen fördern das Bild, dass alle Autistinnen und Autisten entweder außergewöhnliche Fähigkeiten haben oder stark von der Gesellschaft abgekapselt sind. Solche Stereotype verzerren die Realität des Autismus-Spektrums, das deutlich vielfältiger ist.
Redaktion: Der Fokus Ihrer Studie lag auf der Untersuchung von Stereotypen gegenüber autistischen Schülerinnen und Schülern sowie Lernenden mit Down-Syndrom oder mit Dyslexie. Warum haben Sie speziell diese Gruppen untersucht und wie viele Schülerinnen und Schüler erhalten eine dieser Diagnosen?
Schell: Unser Fokus lag auf diesen drei Gruppen, da es sich um relativ große Gruppen von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf handelt. Für Lehrkräfte an Regelschulen ist es wahrscheinlich, dass sie im Laufe ihrer Karriere ein Kind mit einem solchen Förderbedarf unterrichten werden.
Tatsächlich ist es jedoch nicht so einfach, konkrete Zahlen anzugeben, wie viele Schülerinnen und Schüler jeweils betroffen sind. Bezogen auf Autismus geht man davon aus, dass circa ein Prozent aller Kinder autistisch sind, diese Angaben schwanken aber je nach Quelle. In den letzten Jahren ist die Anzahl der Autismusdiagnosen eher gestiegen, was hauptsächlich auf bessere Diagnostik und mehr Sensibilität für Autismus zurückzuführen ist. Dyslexie betrifft neun bis zwölf Prozent der Kinder. Das Down-Syndrom tritt bei 0,126 Prozent aller Kinder auf, was bedeutet, dass im Durchschnitt ein Kind von tausend mit Down-Syndrom geboren wird. Obwohl dies nach wenigen Kindern klingt, ist es bei der Anzahl an Kindern, die von einer Lehrkraft im Laufe ihrer Karriere unterrichtet werden, durchaus wahrscheinlich, dass sich darunter auch ein Kind mit Down-Syndrom befindet.
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Das sollten Lehrerinnen und Lehrer über die inklusive Beschulung von autistischen Kindern und Jugendlichen wissen.
„Wenn eine Lehrkraft ein Kind unterschätzt, kann dies letztlich dazu führen, dass das Kind tatsächlich schlechte Leistungen zeigt.“
Charlotte Schell
Redaktion: Welche Stereotype hat Ihre Studie konkret identifiziert?
Schell: Bei autistischen Schülerinnen und Schülern zeigt unsere Studie, dass sie als sehr intelligent und akademisch leistungsstark eingeschätzt werden, aber auch als eher kalt und sozial wenig kompetent. Schülerinnen und Schüler mit Down-Syndrom wurden stereotyp als wenig intelligent, aber sehr warmherzig und sozial kompetent gesehen. Und Schülerinnen und Schüler mit Dyslexie wurden stereotyp als wenig intelligent und faul gesehen. Daneben haben wir für letztgenannte Gruppe weniger starke Stereotype gefunden als bei den anderen beiden Gruppen.
Redaktion: Wie prägen diese Stereotype die Erwartungen und das Verhalten der Lehrkräfte gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern?
Schell: Stereotype könnten eine Art Teufelskreis lostreten, den sogenannten Pygmalioneffekt. Dieser besagt, dass Einstellungen wie zum Beispiel Stereotype das Verhalten von Lehrkräften gegenüber einem Kind beeinflussen, was wiederum das Kind in seiner schulischen Entwicklung beeinflussen kann. Beispielsweise könnte eine Lehrkraft ein Kind mit Down-Syndrom oder Dyslexie stark unterschätzen, was den Lernerfolg, das Selbstbild und die Motivation des Kindes stark negativ beeinflussen kann. Das könnte wiederum dazu führen, dass das Kind tatsächlich schlechte Leistungen zeigt. Stereotype können die schulische und soziale Entwicklung der betroffenen Kinder sowie ihr psychisches Wohlbefinden somit maßgeblich beeinträchtigen.
Redaktion: Wie können Lehrkräfte für einen vorurteilsfreien Umgang sensibilisiert werden?
Schell: In erster Linie ist es wichtig, Lehrkräfte und Lehramtsstudierende für das Thema zu sensibilisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, über eigene Stereotype und Wege zu reflektieren, um deren Einfluss zu minimieren. Zudem fehlt es oft an ausreichendem Wissen sowie an Kontakt mit den jeweiligen Gruppen von Schülerinnen und Schülern, um Stereotype abzubauen. Beides sollte bereits Teil des Studiums, zum Beispiel in Form von praktischen Seminaren sein, aber auch immer wieder in Form von Fortbildungen aufgegriffen werden.
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Professorin Friederike Kern erklärt im Interview, wie man Lehrkräfte für einen vorurteilsfreien Umgang mit Schülerinnen und Schülern sensibilisiert.
Redaktion: Welche Implikationen haben Ihre Ergebnisse für die Lehrkräftebildung und die Förderung inklusiver Bildung?
Schell: Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass die Lehrkräftebildung auf die Sensibilisierung für Stereotype und andere kognitive Verzerrungen eingehen sollte. Zudem sollten Lehramtsstudierende praxisnah im Umgang mit heterogenen Lerngruppen geschult werden, um stereotype Denkmuster abzubauen. In unserem Forschungsprojekt haben wir im Anschluss an die Studie Seminare entwickelt und untersuchen aktuell, inwieweit sich diese eignen, um solche Denkmuster abzubauen.
Redaktion: Welche Verantwortung tragen Schulleitungen bei der Förderung eines inklusiven und stereotype-freien Umfelds?
Schell: Schulleitungen spielen eine zentrale Rolle, da sie die Kultur einer Schule maßgeblich beeinflussen können. Sie können durch gezielte Maßnahmen wie beispielsweise dem Schaffen einer Arbeits- oder Steuergruppe, Elternarbeit und natürlich auch dem eigenen Umgang mit dem Kollegium Impulse setzen, um ein schulisches Umfeld zu schaffen, in dem sich alle Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte akzeptiert und wohl fühlen.
Redaktion: Welche konkreten Empfehlungen würden Sie (angehenden) Lehrkräften auf Basis Ihrer Studie geben?
Schell: Ich würde ihnen raten, sich mit den eigenen Vorstellungen und Stereotypen kritisch auseinander zu setzen. Gleichzeitig macht es niemanden zu einem schlechten Menschen oder zu einer schlechten Lehrkraft, Stereotype zu haben. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein und die eigenen Stereotype zu hinterfragen. Hier kann es helfen, sich mehr mit den sozialen Gruppen auseinanderzusetzen und differenziertes Wissen anzueignen, aber auch sich mit anderen auszutauschen und sich gegenseitig Feedback zu geben.
Redaktion: Frau Schell, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Charlotte Schell ist Doktorandin am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF).