„Wer Leistung will, muss Sinn anbieten.“

Der zweite Teil des Interviews mit Pädagogin und Bildungsaktivistin Margret Rasfeld.

Innovative Lernformate für die Bildung der Zukunft: Darüber sprach Bildungsaktivistin Margret Rasfeld im ersten Teil des Interviews. Der zweite Teil des Interviews widmet sich der Frage, wie der Wandel im Bildungssystem trotz akuten Lehrkräftemangels gelingen kann und wie sich das im „OECD-Lernkompass 2030“ geforderte Well-Being durch eine neue Lernkultur erreichen lässt.

Teil 1 des Interviews lesen: Was muss sich in unserem Bildungssystem ändern, Frau Rasfeld?
Im Anschluss an die aim-Bildungskonferenz spricht die Pädagogin und Bildungsaktivistin Margret Rasfeld im Interview über Kompetenzen, innovative Lernformate und die Bildung der Zukunft. (Interview erster Teil)

Redaktion: Einer der zentralen Punkte Ihrer Lernkultur liegt darin, Kindern und Jugendlichen an Schulen die Möglichkeit zu geben, ihr Potenzial zu entfalten und ihre angeborene Begeisterung und Kreativität zu erhalten. Welche Bedeutung haben Spaß und Begeisterung für das Lernen? 

Margret Rasfeld: Wir wissen aus der Hirnforschung, dass wir nur durch Begeisterung wirklich gut lernen. Wenn uns etwas emotional berührt, vergessen wir das Gelernte auch nicht so schnell wieder. Deshalb ist das Bulimie-Lernen auch so fatal, weil die Schule den Kindern ihre Begeisterung und Lernfreunde nimmt.

Lernen und Emotionen

Emotionen spielen für den Lernprozesses eine wichtige Rolle. Studien zeigen, dass sich Menschen besser und länger an Inhalte erinnern können, wenn sie während des Lernens emotional aktiviert sind. Dabei schütten die sogenannten emotionalen Zentren im Gehirn Botenstoffe aus, die das Gelernte im Gehirn verankern. Auf diese Weise ist auch der Abruf von Erinnerungen und Gelerntem von Emotionen beeinflusst. 

Redaktion: Können alle Themen, die für die Zukunft relevant sind mit Begeisterung erlernt werden? 

Rasfeld: Ich glaube nicht, dass wir an diesen Punkt kommen. Mathematik würden Kinder und Jugendliche zum Beispiel am besten lernen, wenn sie ein Haus bauen, aber ich glaube nicht, dass wir davon wegkommen, dass solche Basics im Stundenplan stehen. Aber auch hier kann man ansetzen. Wenn Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt lernen, mal mit Kreativaufgaben und mal im Team arbeiten und selbst entscheiden, wann sie einen Test schreiben, dann nimmt das viel Angst und Druck aus der Situation und die Selbstbestimmung fördert zusätzlich die Motivation. Die Kinder wollen ja auch etwas leisten, aber wer Leistung will, muss Sinn anbieten. Lernen braucht Begeisterung, Begeisterung braucht Bedeutsamkeit, Bedeutsamkeit braucht Sinn. Diese Sinnentleerung der Schule angesichts der Sinnsuche der jungen Leute ist das eigentliche Problem. 

Redaktion: Immer mehr Schülerinnen und Schüler leiden an Erschöpfung, Depressionen oder Suizidgedanken. Als Gründe werden das selektive Schulsystem, ein zu hoher Leistungsdruck und ständige Vergleiche durch Noten genannt. Im „OECD-Lernkompass 2030“ ist das „Well-Being“ ein zentraler Begriff. Welche Schritte braucht es, um mit dem Wohlergehen an Schulen ernst zu machen?

„Die Zeit für Noten ist im 21. Jahrhundert eindeutig vorbei.“

Margret Rasfeld

Rasfeld: Die Kinder und Jugendlichen müssen an erster Stelle stehen, nicht der Stoff. Nach dem Lockdown war in vielen Schulen und auch in der Presse von der „verlorenen Generation“ die Rede, weil Schülerinnen und Schüler Stoff verpasst haben. Sie haben aber noch viel mehr verpasst als Unterrichtsstoff und nur wenige Schulen haben nach den Bedürfnissen ihre Schülerinnen und Schüler gefragt. In den meisten Schulen ging es schlicht darum, Stoff nachzuholen und genügend Noten vorweisen zu können. Bei vielen Eltern hält sich auch der Gedanke, dass es einem Kind automatisch gut geht, wenn es ein Einser-Zeugnis hat.

Die Zeit für Noten ist im 21. Jahrhundert aber eindeutig vorbei. Der gesamtgesellschaftliche Haltungswandel geht von einem „Höher, schneller, weiter“ und einer Konkurrenzhaltung über in ein kollaboratives Arbeiten und Leben. Noten schüren weiterhin Vergleiche und Konkurrenz. Wenn Schülerinnen und Schüler mit einem Einser-Abitur von der Schule abgehen und ihre Leistung immer noch als zu schlecht empfinden, dann ist etwas grundsätzlich falsch gelaufen. Dabei haben wir mit individualisierten und stärkenden Feedbacks oder Portfolios bereits gute Alternativen zu Noten. Das Problem ist, dass sich Lehrkräfte und Eltern nach wie vor stark an Noten klammern.

Redaktion: Wie lässt sich diese Haltung ändern? 

Rasfeld: Es wäre wichtig, eine Aufklärungswelle in der Elternschaft auszulösen. Viele Eltern halten Noten für unverzichtbar. Wenn wir aber zum Beispiel auch Unternehmerinnen und Unternehmer über die Rolle von Noten zu Wort kommen lassen oder darüber, was es bedeutet, wenn Jugendliche mit Fehlerangst in den Beruf starten, stößt man von der Grundschule bis ins Gymnasium auf offene Ohren.

Redaktion: In Leipzig haben Schülerinnen und Schüler mit offenen Briefen auf die psychosoziale Belastung im derzeitigen Schulsystem aufmerksam gemacht. Daraufhin haben Sie gemeinsam mit der Künstlerin Ute Puder das Real-Labor gegründet. Was wollen und können Sie damit bewegen? 

Margret Rasfeld: Mit dem Real-Labor haben wir die friedliche Bildungsrevolution ausgerufen. Es geht nicht darum, das Bestehende zu optimieren, sondern um einen Systemwechsel, wie er in Leipzig schon einmal stattgefunden hat. Diesen Geist spüren wir in der Stadt noch immer. Das Real-Labor ist ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen können, um sich über Schule und Zukunft zu informieren, an dem sie Angebote wie den „Frei Day“ kennenlernen und sich in Cafés und Diskussionsrunden austauschen können. Der Einbezug der Kunst ist wichtig, um den Wandel körperlich erfahrbar zu machen. 

„Damit sich mehr Studierende für die Schule entscheiden, muss sich das System ändern.“

Margret Rasfeld

Redaktion: Welche Impulse senden Sie mit dem Real-Labor an die Bildungspolitik?

Rasfeld: Es ist schwierig mit diesem Thema an die Bildungspolitik heranzukommen, weil es schnell auf dem Tisch des Familienministeriums landet. Das stellt dann 10 Millionen Euro für Mental Health Coaches an Schulen bereit und schon ist das Thema wieder vom Tisch. Wir wollen im Real-Labor gezielt Kinder und Jugendliche mit Menschen aus der Bildungspolitik zusammenbringen. Der Austausch ist wichtig und wie ein Manager mir einmal gesagt hat gilt die Aussage: „Wenn ich einem Kind in die Augen schaue, kann ich nicht mehr beliebig sein.“

Redaktion: Der Beziehungsaspekt spielt in Ihrer neue Lernkultur eine entscheidende Rolle und sieht vor, dass sich Lehrkräfte individuell auf ihre Schülerinnen und Schüler einstellen. Wie lässt sich diese Anforderung mit dem akuten Lehrkräftemangel vereinbaren?

Rasfeld: Gerade jetzt ist die Zeit für eine Veränderung. Im Lockdown haben viele Lehrkräfte gesagt, dass sie Lernformate ausprobiert haben, die sie sich und den Schülerinnen und Schülern davor nicht zugetraut hätten und die erstaunlich gut funktioniert haben. An diese Haltung müssen wir uns zurückerinnern. Denn die Umstellung ist erst einmal ein Mut-, Kraft- und Zeitaufwand, aber die Lehrkräfte gehen gestärkt daraus hervor. In der neuen Lernkultur arbeiten die Schülerinnen und Schüler selbstorganisiert. Lehrkräfte müssen sich somit nicht mehr jeden Abend überlegen, wie sie den Unterricht vorbereiten und welche Arbeitsblätter sie kopieren. Lehrkräfte werden zu Begleiterinnen und Begleitern, die Kinder und Jugendlichen zur Seite stehen, wenn sie Fragen haben. Das ist etwas ganz anderes als der Dauerstress, den Lehrkräfte erleben, wenn sie eine Klasse ruhig halten müssen. Und das fördert wiederum die psychische Gesundheit – sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für die Lehrkräfte.

Und auch um gegen den Lehrkräftemangel vorzugehen, muss sich etwas ändern. In den Ministerien hält sich der Gedanke, dass durch mehr Studienplätze und mehr Professorenstellen automatisch mehr Lehrkräfte an die Schulen kommen, aber damit sich mehr Studierende für die Schule entscheiden, muss sich das System ändern.

Redaktion: Wenn Sie bei der Bildungspolitik einen Wunsch zur Entwicklung unseres Schulsystems freihätten, welcher wäre das?

Rasfeld: Abschaffung der Noten, mindestens bis Klasse 9 und mehr Autonomie für Schulen.

Redaktion: Frau Rasfeld, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Margret Rasfeld ist Bildungsinnovatorin und Mitbegründerin der Initiative „Schule im Aufbruch“, die sich für eine Neuausrichtung der Bildung einsetzt. Dabei orientiert sie sich unter anderem an den Leitlinien der UNESCO Bildung für nachhaltige Entwicklung.