Wer mehr liest, liest nicht zwangsläufig besser

Eine Studie am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe hat den Zusammenhang zwischen Lesekompetenz und Leseverhalten genauer untersucht.

Wer besser lesen will, sollte einfach mehr lesen? Ganz so einfach ist es beim Thema Lesekompetenz nicht, wie eine neue Untersuchung von Dr. Felix Bittmann, Soziologe und Forscher am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg, zeigt. Über die Ergebnisse seiner Studie und was Lesekompetenz wirklich voranbringt, spricht er im Interview.

Redaktion: Herr Bittmann, Sie haben sich in Ihrer aktuellen Studie mit dem Thema Lesekompetenz beschäftigt. Was haben Sie dabei genauer untersucht?

Dr. Felix Bittmann: Mir ging es darum, herauszufinden, wie sich Lesekompetenz und Leseverhalten – die Zeit und die Menge, die Kinder lesen – gegenseitig beeinflussen und über die Zeit hinweg eventuell verändern. Bisherige Studien, die dies in den Blick genommen haben, waren bezüglich der Stichprobengröße in der Regel deutlich kleiner. Da wir am Leibniz-Institut mit den Daten des Nationalen Bildungspanels, NEPS, arbeiten können, haben wir sehr viel größere Samplegrößen und können den Zusammenhang anhand von einigen tausend Kindern nachvollziehen. Zudem wollte ich mir genauer die Kausalbeziehung zwischen Lesekompetenz und Leseverhalten anschauen, also auch Aspekte wie Geschlecht, Alter, soziale Herkunft der Kinder und Bildungsabschlüsse der Eltern berücksichtigen.

Redaktion: Wie haben Sie Lesekompetenz und Leseverhalten in Ihrer Studie gemessen?

Bittmann: Die untersuchten Kinder wurden ab der 5. Klasse im Verlauf der Sekundarstufe wissenschaftlich begleitet und dreimal befragt. Dabei wurde unter anderem das Leseverhalten in den Blick genommen: Was lest ihr? Wie viel? Welche Genres? So erfahren wir, ob diese Kinder gerne und viel lesen oder nicht. Um die Lesekompetenz präzise zu ermitteln, machen die Kinder zu mehreren Messzeitpunkten einen schriftlichen Lesekompetenztest, bei dem sie unter anderem einen Text zum Lesen bekommen und dann dazu Verständnisfragen beantworten müssen. Diese Testergebnisse haben eine sehr hohe Aussagekraft und lassen es zu, über Schulen und Klassen hinweg Lesekompetenz zu vergleichen.

Redaktion: Wie hängt Leseverhalten und Lesekompetenz zusammen, wenn Sie sich die Ergebnisse Ihrer Studie anschauen?

Bittmann: Im Mittel sehen wir, dass die Kinder, die eine hohe Lesekompetenz haben, also gut lesen können, Texte gut und schnell verstehen, auch dazu neigen, mehr zu lesen. Das ist zunächst wenig überraschend. Interessanterweise lässt sich aus den Ergebnissen unserer Studie aber nicht ableiten, dass Kinder dadurch, dass sie mehr lesen, auch besser lesen. Das ist vielleicht etwas, das man annehmen würde, wenn man an andere Bereiche wie Sport denkt: Wenn ich zum Beispiel sehr viel Fußball spiele oder sehr viel Gewicht stemme, dann werde ich besser im Fußballspielen oder bekomme größere Muskeln. Diesen kausalen Zusammenhang sehen wir aber beim Lesen nicht. Kinder, die ihre Lesemengen erhöhen, erhöhen also nicht zwangsläufig ihre Lesekompetenz. 

„Beim Thema Lesekompetenz wäre ein geschlechtsspezifischer Unterricht wenig effektiv.“

Dr. Felix Bitmann

Redaktion: Was haben Sie in Bezug auf die anderen Faktoren wie Geschlecht in Ihren Studienergebnissen gesehen? Beeinflussen diese den Zusammenhang zwischen Lesekompetenz und Leseverhalten?

Bittmann: Wir wissen aus vielen anderen Studien, dass Mädchen im Schnitt besser lesen als Jungen, also eine höhere Lesekompetenz haben. Das zeigt sich über Ländergrenzen hinweg seit Jahrzehnten. Auch wir finden diesen Effekt in unseren Daten. Allerdings zeigt sich auch, dass die Beziehung zwischen Leseverhalten und Lesekompetenz im Grunde gleichermaßen funktioniert für Mädchen und für Jungs. Das heißt, die besagten Ergebnisse gelten sowohl für Mädchen als auch für Jungen. Das ist insofern für die Praxis von Bedeutung, als dass man aufgrund dieser Datenbasis etwa sagen kann: Beim Thema Lesekompetenz wäre ein geschlechtsspezifischer Unterricht wenig effektiv.

Redaktion: Welche praktischen Implikationen ergeben sich aus Ihren Ergebnissen für Lehrkräfte, die die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern wollen?

Bittmann: Grundsätzlich ist das Lesen immer positiv, und die Studie sollte keinesfalls so interpretiert werden, dass der Zugang zu Lesematerial nicht wichtig ist. Denn das ist er. Gleichzeitig gilt aber eben auch: Einem Jugendlichen einen Stoß Bücher vorzusetzen, führt nicht automatisch zu mehr Lesekompetenz. Natürlich spiegelt die Studie lediglich die Durchschnittsergebnisse von tausenden Kindern wider, es wird also auch immer Einzelfälle geben, bei denen es anders läuft, auch bestimmte Gruppen profitieren vielleicht eher von einem gewissen Lesevolumen, dazu müssten man weitere Daten erheben und analysieren.

Redaktion: Wie gelingt auf Basis Ihrer Studie eine bessere Entwicklung der Lesekompetenz – wenn nicht einfach über ein Mehr an Lesestoff?

Bittmann: Ganz entscheidend ist grundsätzlich eine dauerhafte und fortschreitende Begleitung des Lese-Lern-Prozesses. Der Annahme, in der 5. oder 6. Klasse können die Kinder ja schon lesen, da brauche es keine gezielte Leseförderung, würde ich widersprechen. Es ist hilfreich und notwendig, dass Lehrkräfte diesen Prozess des Lesen-Lernens über die Grundschule hinaus begleiten, strukturieren und anleiten. Diese Arbeit mit den Kindern lohnt sich, gerade bei den Leseschwächeren. Als abschließender Punkt zur Motivation: Man sollte den Kindern und Jugendlichen den Zugang zu einer Reihe von Genres ermöglichen. Wir sehen in unserer Studie, dass Mädchen zum Beispiel eher Belletristik bevorzugen, Jungen dagegen Sachtexte. Da das individuell sehr verschieden sein kann, lohnt es sich hier sicherlich, ein breit gefächertes Lesematerial anzubieten

Redaktion: Herr Doktor Bittmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Felix Bittmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Genese sozialer Ungleichheit im deutschen Bildungssystem, der er sich mit quantitativen Methoden und moderner Kausalanalyse widmet. Darüber hinaus arbeitet er an verschiedenen verwandten Themen der Soziologie und Psychologie.