Wer mit Comics lernt, kann sich Schulstoff besser merken
Das Projekt Comixplain untersucht, was Comics im Unterricht leisten können. Für Lehrkräfte stellen die Forschenden Open-Access-Material zur Verfügung.

Bildungscomics sind im Unterricht noch immer eine Seltenheit, obwohl sie viele Vorteile bieten, die sie für Lernende und Lehrkräfte gleichermaßen interessant machen. An der FH St. Pölten untersuchen Dr. Victor Adriel de Jesus Oliveira und sein Team, wie sich Comics effektiv an Schulen und Hochschulen integrieren lassen.
Redaktion: Comics sind eine Form der erzählerischen Wissensvermittlung. Welchen Vorteil haben Narrative für das Lernen?
Dr. Victor Adriel de Jesus Oliveira: Seit dem Altertum vermitteln Menschen wichtige Lebensweisheiten durch Geschichten. Die Forschung zeigt, dass Zuhörende dadurch einen Bezug zur sprechenden Person herstellen und einen Sinn aus deren Gedanken ableiten. Außerdem wird das logische Denken durch Geschichten stärker gefördert als bei einer geradlinigen Darstellung der Fakten. Für Wissenschaft und Bildung bieten Erzählungen daher den Vorteil, das Verständnis für komplexe Prozesse und Konzepte zu erleichtern.
Redaktion: Warum beschäftigen Sie sich speziell mit Comics, die im Vergleich zu anderen erzählerischen Formaten, wie zum Beispiel Erklärvideos, bislang weniger populär sind?
de Jesus Oliveira: Schon vor hundert Jahren haben Untersuchungen gezeigt, dass Comics für ein junges Publikum attraktiv sind. In Erklärvideos hängt die Wirksamkeit der Wissensvermittlung eng mit dem Timing des Filmmaterials zusammen. Comics gliedern sich in Einzelbilder, sogenannte Panels. Jedes Panel eines Comics dient als Momentaufnahme des zeitlichen Ablaufs der Geschichte, ähnlich einem Storyboard. Im Gegensatz zu anderen Medien können Schülerinnen und Schüler der Geschichte linear folgen, aber auch problemlos zu verschiedenen Sequenzen der Geschichte vor- und zurückblättern und jedes Panel in ihrem eigenen Tempo lesen. Dadurch gewinnen sie mehr Kontrolle darüber, wie sie die Lerninhalte konsumieren möchten.
„In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Comics dazu beitragen, dass sich die Schülerinnen und Schüler die dargestellten Themen langfristig einprägen.“
Dr. Victor Adriel de Jesus Oliveira
Redaktion: Welche Vorteile bieten Comics für den Lernprozess?
de Jesus Oliveira: Frühere Untersuchungen zeigen, dass Comics die Motivation der Lernenden steigern können. Das ist besonders relevant für Themen, die gesellschaftlich wichtig sind, aber erfahrungsgemäß nur wenige Menschen erreichen, wie zum Beispiel die Diskussion über AIDS-Prävention und -Behandlung. Das Comic-Format bietet dafür einen niederschwelligen Zugang und erhöht die intrinsische Motivation für ein Thema.
Darüber hinaus zeichnen sich Comics dadurch aus, dass sie komplexe Informationen visuell vereinfachen. Es ist allgemein bekannt, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass Pädagoginnen und Pädagogen visuelle Hilfsmittel wie Tabellen, Diagramme oder Poster verwenden, um die Erklärung komplexer Themen zu erleichtern. Betrachtet man die Bloom'sche Taxonomie [Klassifikationssystem für Lernziele, Anm. Red.], so scheinen Lerncomics besonders für das Erinnern und Verstehen von Konzepten effektiv zu sein. In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Comics mit ihren erzählerischen Elementen dazu beitragen, dass sich die Schülerinnen und Schüler die dargestellten Themen langfristig einprägen.
Redaktion: Sie haben Ihr Projekt im ersten Schritt für Studierende angelegt. Welche Altersgruppen profitieren Ihrer Meinung nach am meisten von der Verwendung von Comics im Unterricht?
de Jesus Oliveira: Unsere Forschung konzentrierte sich hauptsächlich auf Studierende im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die alle durchweg positiv auf unsere Materialien reagierten. Wir wissen aber auch, dass sich jüngere Menschen (unter 20 Jahren) stark von Comics angezogen fühlen. Menschen über 30 dagegen stehen Bildungscomics eher skeptisch gegenüber. Aktuell untersucht das Projekt Vis4School an der FH St. Pölten, wie digitale Lernmaterialien gestaltet sein müssen, um die „visual literacy“ in der Schulbildung zu verbessern. Dafür erreichen auch immer mehr Materialien aus dem Comixplain-Projekt den Schulunterricht.
Redaktion: Wie können Lehrkräfte Comics effektiv in ihren Unterricht integrieren, insbesondere wenn sie möglicherweise nicht mit diesem Medium vertraut sind?
de Jesus Oliveira: Comics können im Unterricht auf unterschiedliche Weise eingesetzt werden. Zum Beispiel, um eine Diskussion anzustoßen oder ein Beispiel zu geben. Sie können aber auch vor dem Unterricht als Einführung in das Thema dienen, während des Unterrichts in einem schülerzentrierten Ansatz, zum Beispiel der Think-Pair-Share-Methode, diskutiert oder im Nachhinein zur Überarbeitung der im Unterricht präsentierten Inhalte verwendet werden.
[Think-Pair-Share ist eine Methode, bei der Lernende ein Thema zunächst individuell bearbeiten (Think), sich dann darüber zu zweit austauschen (Pair) und anschließend ihre Überlegungen mit der gesamten Klasse teilen (Share). Anm. Red.]
Redaktion: Wie können Lehrkräfte die Materialien aus Ihrem Comixplain-Projekt nutzen?
de Jesus Oliveira: Wir wissen, dass Lehrkräfte meist nur wenig Zeit haben, um Inhalte von Grund auf neu zu erstellen, insbesondere wenn es um die Entwicklung von Comics geht. Aus diesem Grund haben wir eine Auswahl an vorgefertigten Geschichten angelegt. Alle Inhalte sind quelloffen, frei verwendbar und können weitergegeben werden. Jede Geschichte wird im PowerPoint-Format oder als PDF zur Verfügung gestellt, so dass keine Kenntnisse im Umgang mit Grafikdesign-Tools erforderlich sind. Darüber hinaus bieten wir einen umfangreichen Katalog von Illustrationen für Autorinnen und Autoren, die sich keine Zeichenkünste zutrauen. Zudem bieten wir einen Leitfaden, der Lehrerinnen und Lehrer bei der Erstellung ihrer eigenen Comics unterstützt. Unser Ziel ist es, unser Repertoire kontinuierlich zu verbessern und eine offene Plattform für Bildungscomics zu fördern.
„Comics können nachhaltig erste Basiskonzepte vermitteln, auf die späteres Wissen aufbauen kann.“
Dr. Victor Adriel de Jesus Oliveira
Redaktion: Was zeichnet einen guten Comic für die Wissensvermittlung aus? Auf welche Eigenschaften kommt es bei der Entwicklung der Charaktere an?
de Jesus Oliveira: In unserem Projekt ist ein Comic dann erfolgreich, wenn er Verweise auf seine Quellen enthält und die Genauigkeit der Definitionen beibehält, ohne Kompromisse bei der Comicstruktur, dem Stil oder der Pointe einzugehen. Dieses Verfahren stellt sicher, dass unsere Comics nicht nur ansprechend und informativ sind, sondern auch glaubwürdige und zuverlässige Ressourcen für Lehrkräfte und Lernende darstellen.
Darüber hinaus war es uns wichtig, dass wir nicht das klassische Muster wiederholen, das in Geschichten häufig zu finden ist. In der Regel gibt es in solchen Erzählungen immer jemanden, der alles weiß und eine Person, die wenig oder nichts weiß und die Inhalte von diesem Know-it-all erklärt bekommt. Uns war es ein Anliegen, von Anfang an ein Gleichgewicht zu schaffen und Wissen auf unterschiedliche Charaktere zu verteilen, um deutlich zu machen, dass der Austausch mit vielen Menschen das Lernen befördert. Auch haben wir darauf geachtet, das Alter und Geschlecht unserer Figuren zu variieren. Insgesamt ist der Stil unserer Comics sehr minimalistisch, damit die Attribute der Personen hinter den Inhalt zurücktreten.
Redaktion: Comics enthalten naturgemäß einfache Worte und kurze Sätze. Ist das von Vor- oder Nachteil für die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler?
de Jesus Oliveira: Tatsächlich werden Comics zur Förderung der Lesegewohnheiten von Schülerinnen und Schülern eingesetzt. Das liegt vor allem an der oben erwähnten intrinsischen Motivation für das Format. Gleichzeitig bieten Comics einen niederschwelligen Zugang. Weil sie den Text nicht über die gesamte Seite ausbreiten können, sind Autorinnen und Autoren gezwungen, in einfacher, aber prägnanter Sprache zu denken. Die meisten Botschaften werden mit Bildern und nur einem kleinen Text vermittelt. Dadurch sind Comics zugänglicher für Menschen, die die Sprache noch nicht so gut beherrschen, oder für eine kleinere Gruppe, die gerade erst lesen lernt und Satz für Satz liest. Die Rückmeldungen in unserem Projekt machen zudem deutlich, dass allein diese Eigenschaft Comics auch zu einem großartigen Werkzeug für Lernende mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne macht.
Weiterlesen: Lesen fördern – Bildungsgerechtigkeit schaffen
Die Vermittlung von Lesekompetenz ist nicht nur eine Aufgabe für die Schulen, argumentieren Dr. Tanja Rettinger und Prof. Dr. Simone C. Ehmig in ihrem Gastbeitrag.
Redaktion: Bei all den Vorteilen: Wo liegen die Grenzen von Comics?
de Jesus Oliveira: Der Kompromiss besteht darin, dass Comics wahrscheinlich nicht jede Art von Information abbilden können, aber für viele Schülerinnen und Schüler einen Einstieg in ein Thema bieten, von dem sie vielleicht gar nicht wussten, dass es sie interessiert. Comics können nachhaltig erste Basiskonzepte vermitteln, auf die späteres Wissen aufbauen kann. Deshalb empfehle ich auch immer, Quellen hinzuzufügen. So können die Schülerinnen und Schüler tiefer in das Thema eintauchen.
Redaktion: Herr Doktor de Jesus Oliveira, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Dr. Victor Adriel de Jesus Oliveira ist Dozent im Department Medien und Digitale Technologien an der Fachhochschule St. Pölten.
Aus dem Englischen übersetzt von Ann-Kathrin Bielang (Redaktion Online-Magazin schulmanagement).