„Wer nicht besorgt um unser Bildungssystem ist, hat die Probleme offenbar noch nicht verstanden.”
Prof. Aladin El-Mafaalani über die Herausforderungen an deutschen Schulen, über die Chancen und Risiken zunehmender Digitalität, und was er als Bundesbildungsminister anpacken würde.
Er ist einer der renommiertesten Bildungsforscher Deutschlands: Prof. Aladin El-Mafaalani, der an der Universität Osnabrück lehrt und forscht, hat mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten und Bestsellern wie „Das Integrationsparadox“ und „Mythos Bildung“ maßgeblich zur öffentlichen Debatte über Migration und Bildungsgerechtigkeit beigetragen. Im Interview spricht El-Mafaalani, der im kommenden Jahr die aim Biko mit einer Keynote eröffnen wird, über die Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem und welche Antworten es jetzt braucht.
Redaktion: Herr Professor El-Mafaalani, „unser Bildungssystem arbeitet am Anschlag”, heißt es in der Studie „Bildung in Deutschland 2024” vom Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, die jetzt veröffentlicht wurde. Zugleich sacken seit mehr als zehn Jahren die Leistungen der Schülerinnen und Schüler durch die Bank ab, wie unter anderem Pisa und IQB-Bildungstrend zeigen. Sie haben zuletzt immer wieder auf extreme Herausforderungen für das Bildungssystem hingewiesen: Pluralisierte Familienstrukturen, eine immer größere Gruppe an Kindern, die aus resignativen Armutsmilieus in die Schulen kommen, eine superdiverse Kinderbevölkerung, die dazu führt, dass an vielen Grundschulen knapp 30 Sprachen gesprochen werden. Und eine rasante Digitalisierung, die Kinder in jungen Jahren mit gefährlichen Inhalten wie Gewalt und Pornographie konfrontiert. Wie besorgt stimmt Sie das alles?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Wer nicht besorgt ist, hat die Probleme offenbar noch nicht verstanden. Zu dem, was Sie jetzt aufgezählt haben, kommt hinzu, dass wir nicht genug, aber deutlich mehr als früher in Bildung investieren – die Inflation mit eingerechnet. So paradox das in Zeiten des Lehrkräftemangels klingen mag: Wir haben auch so viele Lehrkräfte wie noch nie in Deutschland. Und wir geben nicht nur im Schulbereich mehr aus, auch in der Kinder- und Jugendhilfe haben sich die Ausgaben nicht nur verdoppelt, sondern vervielfacht. Und zwar nicht nur aufgrund der Ausweitung im Kita-Bereich. Wenn man diese Entwicklungen zusammen betrachtet, wird deutlich: Etwas im deutschen Bildungssystem funktioniert grundlegend nicht.
Redaktion: Was funktioniert grundlegend nicht?
El-Mafaalani: Das Spannende ist, dass weder die Bildungsforschung noch die sozialpädagogische Forschung darauf eine klare, evidenzbasierte Antwort hat. Wenn man Fachleute, die diese Zusammenhänge untersuchen, dazu präzise fragt, geben diese das auch alle zu. Selbst die guten Datensätze wie NEPS (längsschnittlich erhobene Daten des Deutschen Bildungspanels zu Bildungsprozessen und Kompetenzentwicklung in Deutschland, Anm. d. Red.), mit denen wir inzwischen arbeiten können, bringen uns hier bisher nicht weiter. Wir sehen mit deren Hilfe zwar, wie sich gewisse Schülerinnen- und Schüler-Kohorten entwickeln, verstehen aber nicht, wieso jüngere Generationen so viel schwerwiegendere Probleme haben als die älteren.
„Kinder gehen so früh wie noch nie in Bildungsinstitutionen und bleiben dort täglich so lange wie noch nie.“
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani
Redaktion: Haben Sie eine Hypothese?
El-Mafaalani: Ich sehe ein grundlegendes Problem, das den von Ihnen erwähnten Problemen zugrunde liegt: Die Institutionen müssen viel mehr Aufgaben erfüllen als jemals zuvor. Familien sind heute, wie Sie erwähnten, pluralistischer, sie machen nicht mehr das, was sie klassischerweise aus Sicht der Institutionen machen sollen. Im Gegenteil: Sie stellen Anforderungen an die Institutionen. Diese Verschiebung ist extrem weitreichend. Kinder gehen so früh wie noch nie in Bildungsinstitutionen und bleiben dort täglich so lange wie noch nie. Von der Zeit, die sie nicht schlafen, verbringen viele inzwischen mehr in den Bildungseinrichtungen als zu Hause in der Familie – und das verändert die Kindheit und das gesellschaftliche System erheblich. Die Bildungsinstitutionen müssen sich heute um Bereiche wie Gesundheit und Ernährung kümmern. Und sie sind diesen derzeit nicht gewachsen. Wir brauchen deshalb dringend mehr multiprofessionelle Teams in den Schulen, aber wir haben weder in der Handlungspraxis noch bezüglich der Disziplin in der Kooperation zwischen unterschiedlichen Professionen Tradition oder nennenswerte Erfahrungswerte. Die Herausforderungen sind anders und neu, und uns fehlt es an historischem Wissen, Eingespieltheit und auch an Infrastruktur, Gebäuden und Grundstücken, um die Situation auffangen zu können. Und vor diesem Hintergrund ist sowohl die Zusammenarbeit wie auch die Qualifizierung des Personals und das Budget für Bildung – trotz Steigerung – bei weitem nicht ausreichend.
Redaktion: Sie haben neben Ihrer Arbeit als Wissenschaftler und neben Ihrer Zeit als Lehrer auch in der Politik als Referatsleiter gearbeitet, haben also auch aus dieser Perspektive das Bildungssystem kennengelernt. Wenn Sie morgen das Bundesministerium für Bildung und Forschung übernehmen würden, auf was würden Sie zuerst Ihre Aufmerksamkeit richten und warum?
El-Mafaalani: Auch als Bundesbildungsminister hat man natürlich nur begrenzten Entscheidungsspielraum, aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich würde mich sehr darum bemühen, mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie mit der Kultusministerkonferenz intensiv und gut zusammenzuarbeiten. Immer mit dem Fokus: Was ist möglich, welche zwei, drei wichtigen Dinge bekommen wir zusammen pragmatisch und vernünftig umgesetzt? Ich denke, es gibt hier eine relativ große Schnittmenge an Zielen und konkreten Maßnahmen, auf die man sich verständigen kann, so dass rasch erste Erfolge zu erkennen sind und zugleich nachhaltige Entwicklungen angeschoben werden.
aim Bildungskonferenz 2025
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani ist nicht nur Soziologe und Bildungsforscher.
Am 29. März 2025 eröffnet er mit seiner Keynote Speech auch die aim Biko auf dem Bildungscampus Heilbronn.
Redaktion: Worauf würden diese Maßnahmen inhaltlich abzielen?
El-Mafaalani: Mir wäre es inhaltlich wichtig, vor allem die entwicklungstechnisch entscheidende Phase der Kindheit in den Blick zu nehmen: von der Geburt bis etwa zum Ende der sechsten Klasse. Hier entscheidet sich sehr viel, deswegen sollte die frühkindliche Bildung und die Grundschule maximal unterstützt und gefördert werden. Das sollte unser Schwerpunkt sein. Ganz wichtig auf Seiten der Schule wäre es zudem, ein Fortbildungssystem für Lehrkräfte zu etablieren, in dem alle an der Lehrkräfteausbildung Beteiligten, inklusive der Fachkräfte an den Universitäten, Anreize bekommen, sich an diesem Weiterbildungssystem zu beteiligen. Und am Ende das Allerwichtigste: Als Bundesbildungsminister würde ich mir wünschen, dass der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister bei den entscheidenden Besprechungen involviert sind. Denn deren Segen brauchen wir angesichts der Probleme, die da auf uns zukommen.
Redaktion: Sie haben beim Teachers' Day an der Ruhr-Universität in Bochum im März sehr anschaulich gesellschaftliche Entwicklungen anhand einer Grundschulklasse in einer westdeutschen Großstadt dargestellt: Diese hatte 17 Kinder mit Migrationshintergrund aus elf Ländern, drei Kontinenten mit acht Konventionen. Die Kinder sprachen elf Sprachen. Sie haben von Schulen gesprochen, die mit dieser Situation hervorragend umgehen. Was machen diese Schulen richtig?
El-Mafaalani: Die Schulleitungen und Lehrkräfte an solchen Schulen nutzen ihre pädagogische Freiheit und nehmen sich Zeit für die Vielfalt ihrer Kinder. Sie sind neugierig, wollen selbst von der Superdiversität lernen. Die dort Arbeitenden wollen wissen, wo ihre Kinder herkommen, welche Sprachen sie sprechen, wie sie leben, welche Feiertage sie feiern. An vielen anderen Schulen gibt es deutlich weniger Bewusstsein für die nationale Herkunft, Sprachen oder Religionen, die die Kinder mitbringen. An den Schulen, an denen es gut läuft, kennen die Lehrkräfte ihre Kinder – und die Eltern. Sie wissen, was bei ihren Kindern zu Hause los ist. Oftmals machen nicht nur die dort eventuell arbeitenden Sonderpädagoginnen und -pädagogen sowie die Förderfachkräfte, sondern auch die Lehrkräfte selbst Hausbesuche bei allen Eltern, also nicht nur bei den „Problemfällen”. Die Lehrkräfte dort haben erkannt, dass man auch ein bisschen Sozialpädagogin oder Sozialpädagoge ist – und das sozialpädagogische Personal an diesen Schulen hat erkannt, dass es sich auch für den Lernerfolg der Kinder interessieren muss. Alle nehmen ernst, dass sie zu wenig können und wissen, um alles allein zu schaffen. Also entwickeln sich diese Schulen, sie passen sich an. An diesen Schulen ist es Normalität, dass man sich hinterfragt, dass man spätestens alle zwei bis drei Jahre die Arbeitsweise verändert, dass man adaptiert und optimiert. Die Menschen dort arbeiten in der Haltung, dass sie die Grenzen ihrer eigenen Funktion überschreiten müssen und dass sie einander brauchen, um etwas zu erreichen.
„Weiterführende Schulen brauchen einen Plan dafür, was passieren soll, wenn ein Kind mit 11 oder 15 Jahren nach Deutschland kommt.“
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani
Redaktion: Sie haben deutlich gemacht, dass die frühkindliche Bildung und die Grundschule entscheidende Rollen haben. Worauf sollten sich Ihrer Meinung nach die weiterführenden Schulen konzentrieren?
El-Mafaalani: Die weiterführenden Schulen sollten Spezialisten werden für Menschen, die recht plötzlich und erst im Jugendalter nach Deutschland kommen. Diese Kinder können oftmals kein oder wenig Deutsch, waren nicht in deutschen Kitas oder Grundschulen. Wir haben aktuell den Befund, dass die Aussichten für diese Jugendlichen sehr schlecht sind, sie müssten viel engagierter betreut und gefördert werden. Und ich habe den Eindruck, dass sehr viele weiterführende Schulen sie praktisch aufgegeben haben. An diesen Schulen hat sich die Haltung entwickelt, dass diese Jugendlichen schlicht zu spät kommen, nicht das leisten können, was von ihnen verlangt wird. Und die Verantwortung wird dann ein Stück weit an das Berufskolleg abgeschoben. Weiterführende Schulen brauchen einen Plan dafür, was passieren soll, wenn ein Kind mit 11 oder 15 Jahren nach Deutschland kommt. Es braucht eine deutliche Verbesserung der Unterrichtsqualität, ganz spezifisch für diese Schülerschaft.
Redaktion: Sie eröffnen 2025 die Bildungskonferenz der aim. Das Thema der Biko ist Bildung der Zukunft, und zu der gehört auch der Begriff „Digital Mindfulness” – was grob übersetzt etwa verantwortungsvoller, reflektierter Umgang mit Technologie bedeutet. Was kann Schule in diesem Bereich leisten, damit Kinder einen solchen gesunden Umgang mit Technologie lernen? Insbesondere, wenn viele der Erwachsenen diesen vielleicht gar nicht unbedingt selbst vorleben?
El-Mafaalani: Ich stimme zu, dass wir uns zunächst einmal eingestehen müssen, selbst keinen guten, etablierten Umgang mit Technologien entwickelt zu haben, zumindest nicht mit denen, die wir im Alltag verwenden. Da fehlt es vielfach noch an einem gesunden Gleichgewicht. Das betrifft im Übrigen sowohl Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher als auch Eltern und Kinder. Digitale Mittel wie Smartphones und Tablets werden nicht mehr aus unserem Leben verschwinden – und sie können sehr sinnvoll und lernförderlich eingesetzt werden. Viele digitale Tools funktionieren jedoch noch nicht so, wie man das in Schulen braucht, auch hier fehlen uns etablierte Strukturen und Traditionen. Deswegen ist es entscheidend, dass man mit den Entwicklern von digitalen Lösungen und Tools zusammenarbeitet. Als Beispiel: Ich bin Teil des Forschungsverbunds DigiSchuKuMPK. Digitalisierung an Grundschulen ist so etwas wie die Champions League. Hier arbeiten am Ende Eltern, Kinder, Lehrkräfte, sozialpädagogische Fachkräfte und Erzieherinnen und Erzieher alle mit den gleichen Tools miteinander. Das ist eine große Herausforderung und hat zugleich enormes Potential. Hinter solchen Tools stehen Entwickler, die ihre Programme regelmäßig so anpassen und updaten, wie die Schulgemeinschaft es gerade braucht. So gestaltete Tools, die im direkten Kontakt mit der Praxis entwickelt werden, beseitigen nicht die Gefahren, aber sie zeigen das Potenzial der Digitalisierung. Und wer das Potenzial einmal sieht, kann mit dem Problem besser umgehen.
DigiSchuKuMPK
Das Projekt „Digitalisierungsbezogene und digital gestützte Schul(kultur)entwicklung durch Multiprofessionelle Kooperation an ganztägigen Grundschulen“, kurz DigiSchukuMPK, zielt auf eine digitalisierungsbezogene und digital gestützte Professionalisierung des pädagogischen Personals an ganztägigen Grundschulen. Dabei geht es um die Entwicklung von Fortbildungsangeboten zur Förderung von Multiprofessionalität als Kernelement einer inklusiven Schulkulturentwicklung sowie eine länderspezifische Implementierung der entwickelten Konzepte und Formate, der Bereitstellung von Materialien über digitale Infrastrukturen sowie die Begleitung der Entwicklungsprozesse. Das Projekt startete im August 2023 und durchläuft mehrere Phasen bis zum Ende des Projekts im März 2026. Insgesamt besteht das Projekt aus 35 Mitarbeitenden der Universitäten Osnabrück, Hamburg, Oldenburg, Braunschweig und der Ruhr-Universität Bochum.
Redaktion: Noch einmal kurz zurück zur problematischen Nutzung der Technologien: Wenn Kinder und Jugendliche Apps wie TikTok auf ihren eigenen Geräten mit in die Schule bringen, wie gehen wir damit um? Was halten Sie von Handyverboten in der Schule?
El-Mafaalani: Gegen das Verbannen von ablenkender Technik, also das Verbieten der Nutzung des privaten Handys für private Zwecke in definierten Zeiten, habe ich erstmal nichts. Ich habe zahlreiche Schulen besucht, in denen das so gehandhabt wird, und dort ist es ausgesprochen sinnvoll. Ich kenne aber auch viele Schulen, in denen wird nichts dergleichen explizit verboten, und auch dort läuft es gut. Es kommt am Ende darauf an, was in der Schule passiert, wie die Umstände sind. Das Wichtigste ist, Schulen zu ermöglichen, Dinge zu verbieten oder Regeln so zu gestalten, wie es im jeweiligen Kontext der Schule am sinnvollsten erscheint. Man sollte auf keinen Fall landesweit irgendwas erlauben oder verbieten.
Redaktion: Sie haben beim Bildungsgipfel 2022 über Schule der Zukunft gesprochen. Dort haben Sie auch gesagt, dass digitale Technologien einen entscheidenden Beitrag zur Chancengleichheit im Bildungssystem leisten können. Wie meinen Sie das konkret?
El-Mafaalani: Nehmen wir das Beispiel Mathematik. Ich würde sagen: Bis zu 95 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs könnten Schulmathe lernen, sie ist nicht so schwer oder von einer Begabung abhängig, wie ihr Ruf. Warum können sie dann so viele Kinder nicht? Weil Mathe wie eine Sprache funktioniert: Wenn du grundlegende Teile der Grammatik nicht mitbekommen hast, geht es nicht weiter. Wenn du nicht weißt, wie du eine Klammer auflöst, wenn du Punkt vor Strich nicht kennst, wenn du Brüche nicht lösen kannst, dann kannst du alles, was danach kommt, vergessen. Das Problem ist, dass die Kinder irgendwann, spätestens in der weiterführenden Schule, gar nicht wissen, warum sie nichts mehr verstehen. Und die Lehrkräfte haben keine Zeit, sich mit jedem einzelnen Kind zu beschäftigen, zu diagnostizieren, warum ein Kind etwas nicht kann. Genau hier können digitale Tools ansetzen. Die können genau analysieren: „Ah, du kannst noch keine Klammer auflösen, das war zwar vor vier Jahren schon dran, aber wir schicken dich mal in einen (digitalen) Raum, damit du das ein bisschen übst, dann kommst du wieder zurück.” Man stelle sich mal vor, wie das ist, wenn alle Kinder einmal im Monat im Ganztag so ein Mathe-Diagnostik-Programm durchlaufen, das feststellt, was in den letzten Monaten in Mathe alles nicht verstanden wurde. So dass sich gar nicht erst ein Berg von Defiziten anhäuft, der irgendwann so groß ist, dass man nichts Neues mehr in Mathe lernen kann. Das ist nur ein Beispiel für die enorme digitale Unterstützung, die langfristig möglich ist und ungleiche Wissensstände und Voraussetzungen ausbalancieren kann.
Redaktion: Der zunehmende digitale Einfluss zeigt sich jetzt auch an politischer Front: Nach den Europawahlen gab es medial große Aufregung um den Zulauf der AfD, gerade aus der jüngeren Bevölkerung. Die AfD ist digital auf sozialen Plattformen sehr präsent. Was beobachten Sie bei der heutigen Politisierung von Jugendlichen? Welche Rolle hat die Schule dabei?
El-Mafaalani: Wenn man sich die Tragweite der Situation und die Funktion von Bildung in diesem Zusammenhang anschaut, müsste Schule noch viel mehr machen. Beispielsweise müssen internationale Konflikte, die in der Schülerschaft eine große Rolle spielen – und dazu gehört sowohl der Krieg in der Ukraine als auch der Krieg in Gaza – mehr thematisiert werden. Die Kinder und Jugendlichen interessiert das, teilweise auch aus persönlicher Betroffenheit oder weil Freunde betroffen sind. Für sie spielt es eine Rolle, aber in der Schule spielt es dann gar keine Rolle. Und diese Lücke füllen heute soziale Medien wie TikTok, darüber werden die Informationen gestreut, auch an Menschen, die sich eigentlich eher für Make-up, Fußball oder andere Dinge interessieren. Das heißt, nahezu alle Schülerinnen und Schüler bekommen ungefilterte, schwer einzuordnende, teilweise verzerrte Informationen. Die Pflicht staatlicher Schulen und Schulen in staatlicher Aufsicht wäre es, aufzuklären, einzuordnen, dagegenzuhalten. Und internationale Konflikte sind hier nur ein Thema. Über die sozialen Medien bespielt die AfD viele Themen, bei denen es nicht mehr reicht, nur auf Populismus zu verweisen. Man muss sich mit den Themen auseinandersetzen. Doch viele Lehrkräfte sehen sich im Augenblick nach Selbsteinschätzung nicht dazu in der Lage. Das ist ein wichtiger Grund für das von mir zuvor erwähnte Fortbildungssystem, was wir dringend brauchen, um die Lehrkräfte in dieser herausfordernden Situation zu befähigen.
Redaktion: Herr Professor El-Mafaalani, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund und arbeitet am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er ist Mitglied im Bundesjugendkuratorium der Bundesregierung und Beauftragter des NRW-Familienministeriums in Fragen der muslimischen Zivilgesellschaft. Seine Forschung zu Themen wie Integration, Bildungsgerechtigkeit, soziale Ungleichheit und Rassismus wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien und dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung. Für sein öffentliches Wirken erhielt er das Bundesverdienstkreuz durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.