„Wer viel von Kindern erwartet, erzeugt Erfolg“

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani spricht im Interview über bessere Chancen für benachteiligte Schüler:innen – und warum dafür nicht nur die Schule verantwortlich ist

Bildungsungerechtigkeit gehört in Deutschland seit vielen Jahren zum zentralen Befund der Bildungsforschung. Für Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani kann das Problem nur gelöst werden, wenn man sich verstärkt auf externe Faktoren jenseits der Schulen konzentriert, um unterschiedliche Chancen auszugleichen. Wieso das so ist, welche Rollen Eltern und Schulen haben, erläutert der Bildungsexperte im Interview.

Redaktion: Herr El-Mafaalani, Sie haben unter anderem in Ihrem Buch “Mythos Bildung” darauf hingewiesen, dass der Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit über die Zusammenarbeit von Schule, Sozialarbeit und Jugendhilfe führt. Inwiefern brauchen deutsche Schulen auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit externe Unterstützung?

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Wenn man sich Studien anschaut, die der Frage nachgehen, wo Ungleichheit im Bezug auf Bildung entsteht, dann findet man ziemlich widerspruchsfrei den Befund, dass der größte Effekt aus Handlungsmustern, Strategien und Möglichkeiten der Familie und des sozialen Umfelds kommt. Dass es sich also um unterrichtsexterne Faktoren handelt. Wenn wiederum diese externen Faktoren die Ursache für Ungleichheit sind, dann ist die Strategie, die Bildungsgerechtigkeit nur über Unterricht herzustellen, nicht ausreichend. Man braucht Akteure, die in den Familien und den sozialen Bezügen der Kinder und Jugendlichen agieren und hier je nach Bedarf ausgleichen oder verstärken.

Redaktion: Wie früh kann man solche Ungleichheit zwischen Kindern feststellen?

El-Mafaalani: Untersuchungen von Kindern im Kita-Alter zeigen, dass Unterschiede aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse, aus denen die Kinder kommen, bereits in diesem Alter feststellbar sind. Diese differierenden Lebenswelten haben teils gravierende Auswirkungen auf ganz elementare Dinge, wie etwa die Gesundheit der Kinder oder ihre Motorik, Ausdruck der Verbindung zwischen Gehirn und Körper. Dass bereits so früh teilweise große Differenzen messbar sind, macht umso deutlicher, dass es nicht ausreicht, alle Kinder einigermaßen gleich zu behandeln. Allein durch den Ausbau von Kitas wird man dem unterschiedlichen Förderbedarf der Kinder jedenfalls nicht gerecht. Das gelingt nur, wenn man individuell und zielgerichtet unterstützt. Hierbei brauchen die Fachkräfte in den Kitas und die Lehrkräfte in der Schule dringend Unterstützung, alleine können sie das nicht in den Griff bekommen.

„Selbst bei dünner empirischer Lage gibt es gute Hinweise darauf, dass die entscheidenden Mittel zum Ausgleich der Ungleichheit insbesondere im außerunterrichtlichen Bereich zu finden sind.“

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani

Redaktion: Sie benennen solche externen unterstützenden Akteure beispielhaft in Ihrem Buch. Da gibt es etwa die Talentscouts in Nordrhein-Westfalen, Fachkräfte aus Hochschulen und Universitäten, die talentierte Jugendliche aus Nichtakademiker-Familien auf dem Weg zu einem erfolgreichen Studium begleiten. Tragen die tatsächlich zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei?

El-Mafaalani: Ja. Eine Studie des WZB (Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, Anm. d. Red.) hat das Projekt Talentscouting NRW untersucht und festgestellt, dass es in der Bekämpfung von Ungleichheit wirksam ist. Die Ergebnisse sind signifikant – und das über einen langen Zeitraum. (Link zur Studie unter diesem Artikel, Anm. d. Red.) Es ist sogar so: Je länger wir den Zeitraum betrachten, in dem diese Kinder gefördert werden, desto stärker wird der Effekt. Im Gegensatz dazu ist mir keine Studie bekannt, die belegt, dass der Einsatz moderner Unterrichtsformen oder auch von Teamwork in der Schule zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen. Alle Kinder werden zwar besser, aber die Ungleichheit bleibt bestehen. Selbst bei dünner empirischer Lage gibt es daher gute Hinweise darauf, dass die entscheidenden Mittel zum Ausgleich der Ungleichheit insbesondere im außerunterrichtlichen Bereich zu finden sind.

„Dass Kinder sich auf die Ferien freuen ist eine sehr durch die obere Mittelschicht geprägte Perspektive.“

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani

Redaktion: Welche Rolle haben die Eltern in diesem Zusammenhang?

El-Mafaalani: Manche Eltern können unterstützen, wenn ihre Kinder psychologische, motivationale oder sonstige Lernprobleme haben und im Unterricht etwas nicht verstanden haben. Aber manche Eltern können das eben auch nicht. Also müssen wir ein System entwickeln, in dem diejenigen, die kaum oder keine Unterstützung von ihren Eltern erfahren, aufgefangen werden.  Kinder bekommen insbesondere in jüngeren Jahren weitaus stärkere Entwicklungsimpulse von ihren Eltern als von ihren Bildungseinrichtungen. Angesichts der Rahmenbedingungen dort können die gar nicht mehr leisten, dazu müsste die Unterstützung in Kitas, Schulen und Horten viel individualisierter ablaufen. Gemeinsamer Klassenunterricht, bei dem alle das Gleiche machen, ist jedenfalls kein starker Impuls für das einzelne Kind. Dagegen erfahren einige Kinder zu Hause enorme Unterstützung, und das in einem Ausmaß, dass sie sogar während der Ferien deutliche Lernzuwächse haben. Vielleicht lernen manche in den Ferien mehr als in der Schulzeit. Andere Kinder würden am liebsten nach einer Woche Ferien wieder zur Schule gehen. Dass Kinder sich auf die Ferien freuen ist eine sehr durch die obere Mittelschicht geprägte Perspektive. Schon vor Corona habe ich feststellen können: Je prekärer die Lebenslage der Kinder, desto trauriger sind sie schon nach wenigen unterrichtsfreien Tagen, dass es noch lange dauert, bis die Schule wieder anfängt.

„Wenn man zu Hause nicht viel von den Kindern erwartet und dann in der Schule auch nicht mehr, ist das quasi eine Koalition für Benachteiligung.“

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani

Redaktion: Sie betonen die Rolle der externen Unterstützer, um Benachteiligung auszugleichen. Was könnten Schulen und Kitas besser machen, um diese Herausforderung zu meistern?

El-Mafaalani: Das Falscheste, was man machen kann, ist, wenn Institutionen von Kindern weniger erwarten, gerade weil sie um deren Benachteiligung wissen. Wenn sie also den Effekt der Benachteiligung nochmals verstärken, etwa, indem man das Unterrichtsniveau senkt. Ein Beispiel aus der musikalischen Förderung: Da wird in Schulen, in denen es sehr viele benachteiligte Kinder gibt, Hip-Hop-Musik gehört und nach Hip-Hop getanzt. Also etwas, was die Kinder in ihrer Freizeit sowieso tun. Sicherlich kann man Elemente in den Unterricht einbauen, die die Kinder kennen. Aber man muss das verknüpfen und die Kinder auch fordern. Einfach zu sagen “Wir spielen Fußball, wenn es um Bewegung geht, wir hören Hip Hop, wenn es um Musik geht. Wir machen einfach, was die Kinder interessiert.” – das reicht nicht. Schule kann nicht einfach nur eine Weiterführung der Freizeit sein, sie muss fordern, es muss eine Transformation geben. Die internationale empirische Bildungsforschung zeigt einen starken Zusammenhang: Wer viel von den Kindern erwartet, erzeugt Erfolg. Das Ziel muss erreichbar sein, es darf nicht aussichtslos sein, aber wer konstant mehr von dem Kind erwartet, als es im Augenblick im Stande ist zu leisten, startet eine positive Entwicklung. Wenn man zu Hause nicht viel von den Kindern erwartet und dann in der Schule auch nicht mehr, ist das quasi eine Koalition für Benachteiligung.

Redaktion: Ab 2026 wird der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule schrittweise eingeführt. Eine gute Möglichkeit, externe Akteure in die Unterstützung der Kinder einzubinden. Nun gibt es aber Forscher wie Dr. Stephan Kielblock vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt, der im Interview mit uns darauf hinwies, dass es “viel zu wenig gut evaluierte Angebotskonzepte für den Ganztag gibt”. Fehlt es da also nicht auch an Unterstützung aus der Wissenschaft, um solche Kooperationen, wie Sie sie sich wünschen, umzusetzen?

El-Mafaalani: Es ist richtig, dass wir kaum Untersuchungen haben, die etwas über außerunterrichtliche Programme aussagen, welche die Lernentwicklung überproportional fördern. So dass sich die Schwachen schneller und stärker verbessern als die Starken. Das ist ein Riesenproblem. Bund und Länder wollen berechtigterweise nicht irgendetwas fördern, das nicht evidenzbasiert ist. Und nun haben wir diese Ungleichzeitigkeit, dass wir in vier Jahren für jedes Kind in der ersten Grundschulklasse einen Ganztagsschulplatz anbieten müssen, wir es aber nicht mehr schaffen, die Studien bis dahin zu machen. Zumindest nicht so, dass wir die Ergebnisse rechtzeitig einbauen können. Das Problem kriegen wir nicht gelöst. Deshalb muss man wenigstens grundsätzlich überlegen: Was sind eigentlich die Problemstellen? Und wer berührt diese Problemstellen? Nur so können wir uns einigermaßen für die Situation wappnen. Aber optimal ist die Situation sicherlich nicht.

Redaktion: Herr Professor El-Mafaalani, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Gleichzeitig betreut er als Beauftragter des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) die "Koordinierungsstelle für muslimisches Engagement in NRW" und ist Mitglied des Beirats für Teilhabe und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. El-Mafaalani ist einer der Herausgeber der Zeitschrift für Migrationsforschung und erfolgreicher Buchautor. Die bei Kiepenheuer und Witsch erschienenen Bücher "Das Integrationsparadox" (2018), "Mythos Bildung" (2020) und "Wozu Rassismus?" (2021) waren auf Bestseller- und Bestenlisten.