Wertschätzung als Schlüssel: Kinder mit ADHS im Klassenzimmer erfolgreich begleiten

Zappelphilippe und verträumte Aus-dem-Fenster-Starrer: Prof. Charlotte Hanisch erklärt, wie man Schüler:innen mit ADHS bestmöglich unterstützt.

Unaufmerksame Schüler:innen, Unruhe, Störungen im Klassenzimmer: ADHS stellt Lehrkräfte und Schulen vor komplexe Herausforderungen. Doch wie gelingt es, betroffenen Kindern langfristig gerecht zu werden und gleichzeitig den Unterricht für alle produktiv zu gestalten? Professorin Charlotte Hanisch von der Universität Köln gibt Einblicke in effektive Strategien, die Rolle der Schulleitungen und die Bedeutung von Verständnis, Struktur und Zusammenarbeit mit Eltern.

Redaktion: Frau Professorin Hanisch, wie verbreitet ist ADHS in deutschen Klassenzimmern?

Prof. Dr. Charlotte Hanisch: Die großen Studien zur weltweiten Prävalenz von ADHS gehen von etwa 5 Prozent aus. Eine oft zitierte, aber bereits etwas ältere Studie aus dem Jahr 2015 besagt, dass sich die Prävalenz in den letzten 30 Jahren kaum verändert hat und weltweit relativ stabil bei etwa 5 Prozent liegt. Allerdings gibt es eine neuere Studie von 2022, die zu dem Schluss kommt, dass die Zahlen zuletzt etwas gestiegen sind – möglicherweise auf etwa 7 Prozent. Es bleibt jedoch die Frage, ob dies auf eine tatsächliche Zunahme der Fälle oder auf eine verbesserte Erkennung zurückzuführen ist. Wir gehen also von einer Prävalenz zwischen 5 und 7 Prozent aus, wobei Jungen deutlich häufiger diagnostiziert werden als Mädchen. Allerdings besteht auch hier die Möglichkeit, dass wir Mädchen möglicherweise übersehen, da wir oft den „klassischen“ ADHS-Prototyp des „zappeligen“ Jungen im Kopf haben. Das könnte dazu führen, dass Mädchen mit ADHS weniger erkannt werden.

Redaktion: Was sind die klassischen Herausforderungen, denen Lehrkräfte bei Schülerinnen und Schülern mit ADHS am häufigsten gegenüberstehen?

Hanisch: Man kann diese Herausforderungen in zwei Hauptbereiche unterteilen: Unaufmerksamkeit und eine Kombination aus Hyperaktivität und Impulsivität. Früher wurden Hyperaktivität und Impulsivität als separate Bereiche betrachtet, heute fasst man sie jedoch in der Regel zusammen. Im Bereich der Unaufmerksamkeit zeigt sich im Klassenzimmer beispielsweise, dass betroffene Kinder schnell abgelenkt sind und Schwierigkeiten haben, sich auf die Anweisungen der Lehrkraft zu konzentrieren. Ihre Aufmerksamkeit schweift häufig ab, wodurch es ihnen schwerfällt, über längere Zeit bei einer Aufgabe zu bleiben. Dies äußert sich oft auch darin, dass sie schwer in Gang kommen – wenn sie eine Aufgabe erhalten, fällt es ihnen schwer, diese selbstständig zu beginnen. Ihr Arbeitstempo ist häufig ungleichmäßig: Sie arbeiten entweder sehr flüchtig und schnell oder phasenweise sehr langsam. All diese Merkmale hängen mit der Schwierigkeit zusammen, den Aufmerksamkeitsfokus aufrechtzuerhalten. Zu den weiteren typischen Problemen im Bereich Unaufmerksamkeit gehören Planungsschwierigkeiten. Zum Beispiel fällt es manchen schwer, Arbeitsschritte sinnvoll zu planen oder notwendige Materialien mitzubringen, etwa den Sportbeutel am Tag des Sportunterrichts. Diese Herausforderungen werden oft als „exekutive Funktionsprobleme“ zusammengefasst, also als Schwierigkeiten, die Abläufe und Materialien zu organisieren.

Redaktion: Und wie zeigen sich Hyperaktivität und Impulsivität üblicherweise im Klassenzimmer?

Hanisch: Hyperaktivität und Impulsivität zeigen sich darin, dass die Kinder oft Schwierigkeiten haben, ruhig sitzen zu bleiben – sie zappeln, stehen häufig auf und wirken motorisch unruhig. Dies kann für die Kinder selbst sehr belastend sein, da sie das Gefühl haben, durch den Stuhl „festgehalten“ zu werden. Die Impulsivität zeigt sich durch ständiges Reinrufen, das Nicht-Abwarten-Können und das Unterbrechen anderer. Lehrkräften fällt oft besonders die impulsiv-hyperaktive Seite auf, da diese den Unterrichtsablauf stört, während die unaufmerksame Seite oft stiller ist und weniger sofort ins Auge fällt. Bei Mädchen äußern sich Hyperaktivität und Impulsivität häufig etwas anders – oft scheinen sie weniger betroffen zu sein, oder es fällt weniger auf. Viele Mädchen sind eher durch Unaufmerksamkeit beeinträchtigt: Sie arbeiten langsamer, wirken verträumt, schauen oft aus dem Fenster oder kritzeln vor sich hin. Diese Verhaltensweisen sind weniger störend und werden daher oft übersehen.

Redaktion: Viele Kinder sind ja mal verträumt oder kippeln auf ihrem Stuhl. Wie erkenne ich als Lehrkraft, dass es sich um ein ernsteres Problem wie ADHS handelt?

Hanisch: Wenn es um ADHS geht, ist ein entscheidender Punkt, dass die Auffälligkeiten typischerweise schon immer da waren. Falls Lehrkräfte den Eindruck haben, dass ein Kind bisher ganz normal in seiner Aufmerksamkeit, Anstrengungsbereitschaft und Arbeitsweise war und sich plötzlich verändert hat, könnte dies eher ein Hinweis auf eine aktuelle Belastung sein. Allerdings wird ADHS auch dann auffälliger, wenn die Anforderungen an das Kind steigen – zum Beispiel beim Übergang von der Kita in die Schule oder beim Anstieg der Leistungsanforderungen. Wenn Lehrkräfte also eine Veränderung feststellen, sollten sie sich zunächst fragen, ob diese Veränderung durch gestiegene Anforderungen erklärbar ist, etwa weil das Kind zunehmend selbstständig arbeiten oder den Übergang in die weiterführende Schule mit all den neuen Fächern bewältigen muss. Tritt das Verhalten jedoch auf, ohne dass sich die Anforderungen groß verändert haben, lohnt es sich, eher in Richtung emotionaler Belastungen weiter zu überlegen. 

Das Multimo-Programm

Das Multimo-Programm, entwickelt 2019 von einem interdisziplinären Team aus Psychologen, Pädagogen und Medizinern, richtet sich auch an Schülerinnen und Schüler mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder mit ähnlichen Verhaltensweisen. Ziel des Programms ist es, die Aufmerksamkeit, Selbstregulation und soziale Kompetenzen der Kinder im Schulalltag zu fördern. Multimo setzt hierbei bei Lehrkräften und Eltern an, also bei der Veränderung der Umgebung. So werden Maßnahmen des Classroom Managements mit systematischer Rückmeldung und positiver Verstärkung von gemeinsam festgelegten Zielverhaltensweisen kombiniert. Lehrkräfte bekommen die Möglichkeit, über einzelne Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines zwölfwöchigen Coachings zu reflektieren und gemeinsam eine individuelle Förderplanung vorzunehmen Multimo versucht, auch die Eltern in die schulischen Maßnahmen einzubeziehen und sie im Rahmen von Elternabenden über unterstützendes Erziehungsverhalten zu informieren. Studien belegen positive Effekte auf die Konzentrationsfähigkeit, die Impulskontrolle sowie das Klassenklima.

Redaktion: Sie haben an der Entwicklung von Strategien wie dem Multimo-Programm zur Bewältigung von ADHS-Symptomen gearbeitet. Was sind die wichtigsten Bestandteile einer erfolgreichen Intervention im Klassenzimmer für Schülerinnen und Schüler mit ADHS?

Hanisch: Grundsätzlich profitieren Kinder mit ADHS von denselben strukturellen Maßnahmen, die generell den Unterricht erleichtern, allen voran durch gutes Classroom Management. Dazu zählen eine klare Organisation des Klassenraums, feste Regeln und Routinen sowie klare und strukturierte Anweisungen. Ein gut organisiertes Umfeld kann vieles vereinfachen: Wo sitzt das Kind, wo ist das Arbeitsmaterial, sind die Abläufe gut eingeübt? Diese Strukturen bilden eine wichtige Basis für alle Kinder, besonders jedoch für solche mit ADHS. Ein weiterer Schlüssel ist die Beziehung zwischen Lehrkraft und Kind. Häufig ist die Interaktion bei Problemverhalten eher negativ geprägt, weil Lehrkräfte ungewollt schneller auf Schwierigkeiten reagieren und dann versäumen, positives Verhalten zu bestärken. Daher ist es wichtig, immer wieder den Beziehungsaufbau zu reflektieren und sich bewusst auf positives Verhalten zu konzentrieren.

Redaktion: Was meinen Sie damit konkret?

Hanisch: Lehrkräfte tendieren in der Klasse oft dazu, problematisches Verhalten unbeabsichtigt durch Aufmerksamkeit zu verstärken. Ein Kind, das nicht mit der Arbeit beginnt, wird vielleicht mehrfach dazu aufgefordert. Doch ein positiver Schritt wird nicht bemerkt und gelobt. Hier arbeiten wir in unseren Programmen mit Lehrkräften daran, Situationen zu analysieren und in kleine Schritte zu unterteilen, die dann gezielt positiv verstärkt werden können. Dabei kann es helfen, auf kleinste Fortschritte positiv zu reagieren, beispielsweise durch Lob oder einen Daumen hoch, wenn ein Kind einen Stift zückt und mit einer Aufgabe anfängt. Neben diesen unmittelbaren Reaktionen arbeiten wir mit Rückmeldesystemen, wie etwa einer täglichen Verhaltensbeurteilungskarte. Das Kind erhält für jede Arbeitsphase eine kurze Rückmeldung, zum Beispiel in Form eines Sternchens oder Smileys, wenn es sein Ziel erreicht hat. Es ist dabei wichtig, dass die Ziele für das Kind klein und machbar sind. Die Verhaltensbeurteilungskarte kann zudem als Verbindung zu den Eltern dienen: Am Ende des Tages nimmt das Kind die Karte mit nach Hause, die Eltern unterschreiben, das Kind erhält eventuell eine Belohnung. So wird positives Verhalten verstärkt und das Kind merkt, dass sein Verhalten positive Konsequenzen hat – sowohl in der Schule als auch zu Hause.

„Gerade bei motorischer Unruhe ist es unrealistisch, einem Kind einfach nur zu sagen, dass es still sitzen soll.“

Prof. Dr. Charlotte Hanisch

Redaktion: Was ist der Hintergedanke bei diesem Rückmeldesystem?

Hanisch: Wir versuchen auf diese Weise, an der Motivation der Kinder anzusetzen, die oft Probleme mit dem Durchhaltevermögen haben, wenn Aufgaben anstrengend oder langweilig werden. Eltern und Lehrkräfte fragen häufig, ob solche Punktepläne dauerhaft nötig sind. Die Idee ist jedoch, sie nach einer Weile schrittweise zurückzunehmen, sodass die Kinder schließlich lernen, sich selbst zu loben und Stolz auf ihre Leistung zu empfinden. Doch gerade am Anfang brauchen sie diese Unterstützung.

Redaktion: Wie gehen Lehrkräfte mit impulsiven oder störenden Verhaltensweisen bei Schülerinnen und Schülern mit ADHS um? Welche Strategien empfehlen Sie, um einerseits diese Kinder und Jugendlichen zu unterstützen, andererseits einen störungsfreien Unterricht zu gewährleisten?

Hanisch: Gerade bei motorischer Unruhe ist es unrealistisch, einem Kind einfach nur zu sagen, dass es still sitzen soll. Es kann hilfreich sein, gemeinsam mit dem Kind Strategien zu entwickeln, die für Entlastung sorgen. Eine Idee ist beispielsweise eine „Flitzekarte“: Das Kind bekommt ein kleines Kärtchen, das es auf den Tisch legen kann, wenn es merkt, dass es gleich „ausflippen“ könnte. Dann darf es einmal um den Schulhof laufen und danach in den Unterricht zurückkehren. Meine Erfahrung zeigt, dass Kinder sehr verantwortungsvoll damit umgehen, wenn man ihnen zutraut, selbst zu entscheiden, wann sie eine kurze Pause brauchen, und dass sie danach zuverlässig zurückkehren. Lehrkräfte befürchten oft, dass das Kind dann ständig draußen ist, aber das habe ich in der Praxis noch nie erlebt. Allein die Möglichkeit, eine solche Pause machen zu dürfen, kann oft schon helfen, dass die Kinder sich besser selbst regulieren können.

Redaktion: Können Sie noch weitere Strategien dieser Art nennen?

Hanisch: Ich habe zum Beispiel von einer Schule gehört, die unter den Stühlen Gymnastikbänder anbrachte, gegen die die Kinder mit den Füßen wippen konnten. Das ist auf Dauer recht anstrengend und hilft dabei, überschüssige Energie abzubauen. Es gibt zahlreiche Hilfsmittel auf dem Markt, etwa bestimmte Sitzkissen, Bälle, Fidget Spinner oder drehbare Ringe. Eine aktuelle Studie hat jedoch gezeigt, dass solche Gegenstände im Klassenverband eher ablenken können. Ich würde solche Hilfsmittel individuell ausprobieren und schauen, ob sie dem Kind helfen. Auch der Placebo-Effekt spielt hier eine Rolle: Kinder brauchen manchmal einfach das Gefühl, dass man sich gemeinsam um ihre Bedürfnisse kümmert und zusammen eine Lösung findet. Schon dieser gemeinschaftliche Ansatz kann eine hilfreiche Botschaft sein.

„Eine seriöse ADHS-Diagnose umfasst mehr als nur eine kurze Einschätzung, denn das Verhalten muss in verschiedenen Lebensbereichen auftreten, nicht nur in der Schule oder nur zu Hause.“

Prof. Dr. Charlotte Hanisch

Redaktion: ADHS ist auf sozialen Plattformen ein großes Thema, viele Prominente bekennen sich dazu, viele diagnostizieren sich auch selbst. Wie geht man als Lehrkraft am besten mit Situationen um, in denen sich manche Kinder und Jugendliche eventuell selbst mit ADHS diagnostizieren – und auch identifizieren?

Hanisch: Die Diagnose ADHS scheint oft einfach, da Verhaltensweisen wie Unruhe und Unaufmerksamkeit schnell beobachtet werden können. In der klinischen Praxis ist eine fundierte Diagnose jedoch komplex. Wir brauchen in der Regel sechs Sitzungen, in denen wir zahlreiche Daten sammeln und andere Erklärungen ausschließen. Was oberflächlich wie ADHS wirkt, kann in der Realität auch auf etwas anderes hinweisen, wie Schlafstörungen oder Ernährungsprobleme. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin mit einer Selbstdiagnose auf eine Lehrkraft zukommt, ist es sinnvoll zu fragen, wer die Diagnose gestellt hat und ob sie nach den anerkannten Standards erfolgt ist. Eine seriöse ADHS-Diagnose umfasst mehr als nur eine kurze Einschätzung, denn das Verhalten muss in verschiedenen Lebensbereichen auftreten, nicht nur in der Schule oder nur zu Hause. Gerade im Jugendalter wird ADHS – wie auch Autismus – oft zur Identitätsfindung genutzt. Das Thema Neurodiversität spielt hierbei eine große Rolle, und es ist positiv, dass diese Störungen aus der Stigmatisierung herauskommen. Häufig übernehmen solche Diagnosen jedoch auch eine identitätsstiftende Funktion. Es steckt oft ein Bedürfnis dahinter, eine solche Diagnose für sich in Anspruch zu nehmen und so eine Form von Zugehörigkeit oder Besonderheit zu finden. Manche Jugendliche empfinden es als schwierig, sich als „normal“ zu fühlen, vielleicht weil sie sich langweilig finden oder unsicher sind, wo sie dazugehören. Es ist daher wichtig, mit ihnen darüber zu sprechen und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ernst zu nehmen.

Redaktion: Wie sehen Sie die Rolle der Lehrkräftefortbildung beim Umgang mit ADHS und damit verbundenen Verhaltensproblemen im Klassenzimmer?

Hanisch: Ein wesentlicher Aspekt ist, ADHS in die Ausbildung zu integrieren. In der Sonderpädagogik spielt das Thema bereits eine große Rolle, aber es könnte noch stärker betont werden. Lehrkräfte können mit grundlegenden Strategien beginnen, wie ich sie bereits beschrieben habe – jedoch sind diese oft eher „rezeptartig“. Für Kinder mit starkem Problemverhalten ist es hilfreich, ein Verständnis für die Gründe ihres Verhaltens zu entwickeln, anstatt nur auf Symptome zu reagieren. Ein Beispiel: Ein Schüler, der regelmäßig den „Klassenclown“ spielt, könnte dies tun, um unangenehme Situationen zu vermeiden oder soziale Kontakte zu knüpfen. Dieses Verhalten ist problematisch, aber es erfüllt für ihn eine Funktion. Fortbildungen und Coachings helfen, diese Perspektive zu schärfen. Wir bieten an der Universität Köln dazu etwa zunächst eine eintägige Fortbildung an, gefolgt von Coachings im Abstand von zwei bis sechs Wochen. In diesen Sitzungen analysieren wir das Verhalten eines „Zielkindes“ und übertragen die neuen Strategien in die Praxis. Dieses Format, das wir seit 2018 einsetzen, unterstützt den Transfer in den Alltag und ist besonders bei komplexen Fällen wirksam, die nicht nach Schema F funktionieren.

Redaktion: Was sollten Schulen tun, um sicherzustellen, dass Lernende mit ADHS nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig Unterstützung erhalten, während sie durch das Bildungssystem gehen?

Hanisch: Ein zentraler Punkt ist die Förderung des Selbstmanagements, besonders im Laufe der Schuljahre. Da Kinder mit ADHS oft Schwierigkeiten mit Planung und Organisation haben, nutzen wir in der Therapie Checklisten und Organisationshilfen. Der Übergang in die alltägliche Praxis funktioniert jedoch nur dann gut, wenn Eltern und schulische Bezugspersonen – zum Beispiel die Klassenlehrkräfte – mit eingebunden sind. Ein großes Thema ist auch die Schulbegleitung, die in vielen Fällen in Nordrhein-Westfalen eingesetzt wird. Sie wird jedoch oft ohne klares Konzept genutzt, was dazu führen kann, dass Schulbegleiterinnen und -begleiter Aufgaben übernehmen, die eigentlich zunehmend auf das Kind selbst übertragen werden sollten. Unterschiedliche Schulen organisieren die Zusammenarbeit mit Schulbegleiterinnen und -begleitern sehr unterschiedlich, was zu Inkonsistenzen führt. Idealerweise unterstützen Regelschullehrkräfte in Zusammenarbeit mit Sonderpädagoginnen und -pädagogen die Schüler – das bringt oft die besten Ergebnisse, besonders für Kinder mit stärker ausgeprägtem ADHS. Wenn dies nicht ausreicht, kann eine Schulbegleitung sinnvoll sein. Dann müssen allerdings für alle Beteiligten die jeweiligen Aufgaben klar sein. Auch beim Übergang zwischen Schulstufen ist es wichtig, dass Informationen gut weitergegeben werden. Oft zögern Eltern, alle Details mit der neuen Schule zu teilen, in der Hoffnung, dass ihr Kind einen „Neustart“ bekommt. Doch ich rate sehr dazu, bewährte Strategien weiterzugeben, um eine kontinuierliche Unterstützung sicherzustellen. Ein weiterer, oft notwendiger Aspekt ist die Medikation für schwer betroffene Kinder. Sie kann für eine begrenzte Zeit eine wertvolle Unterstützung bieten, da es schwierig ist, Selbstmanagementstrategien zu vermitteln, wenn ein Kind sich nur wenige Minuten konzentrieren kann.

Redaktion: Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit den Eltern von Kindern mit ADHS für die Lehrkräfte?

Hanisch: Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist zentral – und ein erster Schritt ist, Verständnis für ihre Situation zu entwickeln. Da ADHS nicht selten genetisch bedingt ist, sind viele Eltern selbst betroffen. Wenn eine Mutter beispielsweise zu einem Termin zu spät kommt, könnte das schlicht daran liegen, dass sie ebenfalls Schwierigkeiten hat, den Alltag zu organisieren. Dazu kommt, dass Familien mit ADHS-Kindern mit größerer Wahrscheinlichkeit als nicht betroffene Familien auch anderen Herausforderungen wie Armut oder Bildungsrisiken ausgesetzt sind, die Erziehung eines Kindes mit ADHS ist zudem per se herausfordernd. Ein wichtiger Ansatz ist, Strukturen für die Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus zu schaffen – beispielsweise durch Feedback-Hefte, die täglich hin und her wandern. Solche Hefte sollten jedoch nicht zu „Meckerheften“ werden, in denen nur negative Punkte festgehalten werden. Niemand möchte regelmäßig ein solches Heft mit nach Hause bringen oder lesen. Stattdessen sollte das Feedback ausgewogen sein: Positive Beobachtungen wie „Philipp hat in der Pause super mit Marvin gespielt“ sollten ebenso festgehalten werden wie Herausforderungen, beispielsweise: „In der Lernzeit hatte Philipp Schwierigkeiten, mit den Aufgaben anzufangen. Nach Unterstützung hat er es geschafft.“ Solches Feedback gibt Raum, konkrete Lösungen zu entwickeln, etwa wie der Einstieg am nächsten Tag schneller gelingen könnte. Viele Eltern reflektieren im Zuge der Diagnostik für ihre Kinder auch ihre eigene Schulzeit und merken, dass sie möglicherweise selbst betroffen sind. Wenn Schule für sie früher mit Angst, Scham oder negativen Zuschreibungen verbunden war, kann das erklären, warum sie sich heute von der Schule fernhalten oder ungern mit Lehrkräften in Kontakt treten.

Redaktion: Welche Rolle spielen Schulleitungen, eine adäquate Schulpolitik und ein Schulumfeld zu entwickeln, das sowohl den Anforderungen von Schülerinnen und Schülern mit ADHS als auch den Bedürfnissen der Lehrkräfte gerecht wird?

Hanisch: Schulleitungen spielen eine zentrale Rolle, insbesondere wenn es um die Gelingensbedingungen von Inklusion geht. Ein wesentlicher Aspekt ist die Entwicklung und Vermittlung gemeinsamer Werte: Wie offen gehen wir mit Unterschiedlichkeit um? Welche Verantwortung sehen wir als Schule und Lehrkräfte, um Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen? Es ist wichtig, eine Haltung zu etablieren, die signalisiert: „Alle Kinder sind hier willkommen, und wir passen uns als System ebenfalls an die Kinder an.“ Darüber hinaus müssen Schulleitungen die Lehrkräfte bei Belastungen unterstützen. Häufig fällt es Lehrkräften schwer, über Überforderung, Gereiztheit oder Ängste im Umgang mit schwierigen Situationen zu sprechen, da immer noch die Erwartung herrscht, dass sie alles allein bewältigen können. Eine gute Schulleitung schafft eine Kultur, in der es selbstverständlich ist, Unterstützung einzufordern – sei es durch kollegiale Beratung, Fortbildungen oder gezielte organisatorische Maßnahmen. Die Ressourcenausstattung spielt ebenfalls eine Rolle, wobei Studien zeigen, dass die bloße Anwesenheit vieler Erwachsener oder besonders kleiner Klassen nicht automatisch den größten Effekt hat. Viel wichtiger sind strukturelle Maßnahmen, die die Belastung der Lehrkräfte reduzieren, wie klar geregelte Abläufe und gute Zusammenarbeit im Kollegium. Auch die Gestaltung des Schulumfelds ist entscheidend. Kinder mit ADHS profitieren von Rückzugsmöglichkeiten, etwa einem Raum, in dem sie Reize reduzieren und zur Ruhe kommen können. Gleichzeitig sind Bewegung und die Möglichkeit, überschüssige Energie abzubauen, essentiell – ob durch Klettergerüste, Pausen mit viel Aktivität oder speziell eingerichtete Bereiche. 

Redaktion: Frau Professorin Hanisch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Charlotte Hanisch ist Professorin für Psychologie und Psychotherapie in der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln. Sie leitet die Hochschulambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Universität zu Köln und forscht intensiv zu Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter, insbesondere zu ADHS und Schule.