Wie Schule das Wohlergehen von Kindern vernachlässigt – und was sich ändern muss
Der Kindergesundheitsbericht und ein aktueller Report der WHO rücken besorgniserregende Trends beim Thema Gesundheit von Schüler:innen in den Fokus
Schulen sind nicht nur Orte, an denen Kindern etwas beigebracht wird. Es sind auch Orte, an denen Kinder mehr als ein Jahrzehnt ihrer Lebenszeit verbringen. Mit der Schulpflicht übernimmt der Staat “nicht nur die Verantwortung für die Bildung, sondern auch für die Gesunderhaltung der heranwachsenden Generation”, steht im kürzlich erschienenen Kindergesundheitsbericht 2024 der Stiftung Kindergesundheit. Doch wie lässt sich der Weg zu einer gesünderen Schulkultur umsetzen?
Der Bericht verdeutlicht, dass das heutige Bildungssystem dieser Verantwortung nur ungenügend nachkommt – denn der Gesundheitszustand von Schülerinnen und Schülern ist laut Kindergesundheitsbericht besorgniserregend:
Psychische Belastungen nehmen dramatisch zu:
Laut dem Bericht leiden bis zu 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler an behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen. Besonders betroffen sind ältere Jugendliche, Mädchen und genderdiverse Personen, die häufig unter Stress, Ängsten und Depressionen leiden. Die Schule sei dabei “eine Hauptquelle für belastendes Stresserleben vieler Kinder”, so der Report. Auch Mobbing und Cybermobbing sind ein Problem, sie betreffen 14 beziehungsweise 7 Prozent der Schülerinnen und Schüler.
Körperliche Inaktivität und Bewegungsmangel:
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt für Kinder und Jugendliche mindestens 60 Minuten körperliche Aktivität pro Tag. Bewegung, Sport und Spiel seien “eine essenzielle Voraussetzung für die gesunde körperliche, psychosoziale, kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen”, formulieren die Autorinnen und Autoren des Kindergesundheitsberichts. Doch nur 11 Prozent der Mädchen und 21 Prozent der Jungen in Deutschland erreichen die von der WHO genannte Zeitmarke. Ein bewegungsarmer Schulalltag trägt zu diesem Defizit bei.
Übergewicht und ungesunde Ernährung:
Etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig, knapp 6 Prozent davon leiden bereits an krankhaftem Übergewicht (Adipositas). Dieser Anteil hat sich in den letzten drei Jahrzehnten um etwa die Hälfte erhöht. Und das Problem betrifft vor allem Kinder aus ärmeren Verhältnissen, wie im Kindergesundheitsbericht anhand der Daten der Studie KIGGS (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) aufgeführt wird. Diese zeigten, “dass sich die Unterschiede in der Verbreitung von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter seit Anfang der 2000er Jahre zu Ungunsten von Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Status vergrößert haben.” Ursachen hierfür sind unter anderem unzureichende Schulverpflegung und ein sozioökonomisch bedingter schlechterer Zugang zu gesunder Ernährung.
Hohe Prävalenz psychosomatischer Beschwerden:
Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen: Viele Schülerinnen und Schüler klagen über psychosomatische Beschwerden. Auch diese Symptome stünden oft in direktem Zusammenhang mit schulischen Belastungen, sagt der Kindergesundheitsbericht. Etwa die Hälfte der Mädchen und ein Drittel der Jungen berichten von multiplen Beschwerden dieser Art.
Die WHO warnt vor besorgniserregenden Trends
Der Kindergesundheitsbericht ist nicht das erste ernstzunehmende Warnzeichen für die derzeitige gesundheitliche Belastung von Schülerinnen und Schülern: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat erst Mitte November auf Basis der Health Behaviour in School-aged Children (HBSC)-Studie die aktuellen Trends im Wohlbefinden von Jugendlichen in 44 Ländern analysiert – und dabei besorgniserregende Entwicklungen herausgestellt:
Besonders auffällig ist dabei der zunehmende schulische Druck, insbesondere bei Mädchen. Gleichzeitig geht die familiäre Unterstützung zurück: Der Anteil der Jugendlichen, die ein hohes Maß an familiärer Unterstützung erfahren, ist von 73 Prozent im Jahr 2018 auf 67 Prozent im Jahr 2022 gesunken. Dieser Rückgang ist bei Mädchen ebenfalls stärker ausgeprägt. Mädchen berichten zudem weniger oft von Unterstützung durch Lehrkräfte (36 Prozent bei Mädchen, 47 Prozent bei Jungen). Auch unter Gleichaltrigen lässt dem WHO-Bericht zufolge der Support füreinander nach, insbesondere bei Mädchen im Alter von 13 bis 15 Jahren.
Eine weitere Gruppe, welche die schwindende Unterstützung deutlich spürt, sind Jugendliche aus einkommensschwachen Familien. Sie erhalten weniger Unterstützung durch Familie und Gleichaltrige, haben seltener gemeinsame Mahlzeiten und größere Kommunikationsprobleme mit ihren Eltern. Diese sozioökonomischen Unterschiede erschweren den Zugang zu unterstützenden sozialen Umfeldern und beeinträchtigen ihre Gesundheit.
Die Kombination aus höherem Druck und weniger Unterstützung habe für die Kinder “potenziell langfristige Folgen für ihre Gesundheit und ihre Zukunftsaussichten”, sagt Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. “Diese Ergebnisse sollten für uns alle ein Weckruf sein, jetzt zu handeln, um die Bedingungen zu verbessern, unter denen unsere jungen Menschen aufwachsen.”
Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und Lernleistung
Wohlbefinden ist nicht nur ein Wert an sich, den es auch im Schulsystem zu schützen gilt. Er hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler, wie jetzt erneut eine große Studie aus Chile unterstreicht.
Für diese Untersuchung analysierten Forschende der Universidad de Chile in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium Daten von über 90.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren aus verschiedenen Regionen Chiles (Guzmán, Araya & Rodríguez, 2024). Dabei kamen standardisierte Tests zur Messung der akademischen Leistungen in Fächern wie Mathematik und Sprachen zum Einsatz sowie umfassende Fragebögen, die Aspekte des emotionalen und sozialen Wohlbefindens erfassten.
Die Ergebnisse zeigen, dass Lernende mit höherem Wohlbefinden signifikant bessere schulische Leistungen erreichten. Kinder und Jugendliche mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl zur Schule erzielten durchschnittlich 15 Prozent bessere Ergebnisse in den Tests. Besonders wichtig waren dabei auch positive Beziehungen zu Lehrkräften und Mitschülerinnen und Mitschülern, die das Lernverhalten und die Motivation positiv beeinflussten. Auch ein unterstützendes familiäres Umfeld war positiv mit höheren Testergebnissen verknüpft.
Was Schulen für mehr Gesundheit und ein besseres Wohlbefinden tun können
Der Kindergesundheitsbericht empfiehlt folgende Maßnahmen für das Bildungssystem, so dass Schulen ihrer Verantwortung für das Wohlbefinden besser nachkommen:
Integration von Gesundheitsförderung:
Sportliche Aktivitäten und regelmäßige Bewegungsphasen sollten einen festen Platz in der Struktur des Schulalltags finden, um körperliche Inaktivität zu reduzieren. Die Autoren des Kindergesundheitsberichts verweisen etwa als einen ersten, einfach umzusetzenden Schritt darauf, dass in den Ausbildungsgängen jeder Lehrperson – ein “Repertoire an Bewegungsübungen” vermittelt werden könnte. “So könnte beispielsweise in jeder Schulstunde à 45 Minuten eine fünfminütige Bewegungspause stattfinden.” An einem Schulvormittag könnte damit eine Reduktion der Sitzzeit um 30 Minuten sowie die entsprechende Zunahme der Bewegungszeit erzielt werden. “Die attraktive Gestaltung des Schulhofs und Einbindung außerschulischer Bewegungsangebote könnten diesen positiven Effekt weiter verstärken.” Der mentalen Problemlage sollten sich Schulen mit Programmen zur Stressbewältigung und Förderung der psychischen Gesundheit widmen, um den steigenden psychischen Belastungen entgegenzuwirken.
Verbesserung der Schulverpflegung:
Ausgewogene und gesunde Mahlzeiten gehörten in die Schulkantinen, so dass diese die Gefahr für Übergewicht und ungesunde Ernährungsgewohnheiten reduzierten, macht der Kindergesundheitsbericht deutlich. Mit mehr Ernährungsbildung sollten die Lernenden zudem für gesunde Essgewohnheiten sensibilisiert werden. Auch die einkommensschwachen Kinder müssten bei dem Thema besonders berücksichtigt werden. Mit einem kostenfreien Schulessen würde nicht nur die rein materielle Ernährungsarmut von Kindern und Jugendlichen, “sondern auch die soziale Ernährungsarmut bekämpft”, heißt es im Bericht. Diese impliziere, dass Menschen bei fehlenden finanziellen Ressourcen von der sozialen Teilhabe durch gemeinsames Essen ausgeschlossen sind, weil sie sich beispielsweise die Kosten für ein Mensaessen nicht leisten können.
Stärkung psychosozialer Unterstützungssysteme:
Beratungsangebote und Schulsozialarbeit können psychosomatische Beschwerden und schulische Belastungen adressieren und verringern. Ein unterstützendes Schulklima wird als einer der Schlüsselfaktoren hervorgehoben, auch um Themen wie Mobbing und Cybermobbing präventiv anzugehen und einzugrenzen. Gerade bei diesem Thema seien “schulbasierte Interventionen sehr wirksam”, führen die Autoren des Berichts aus. “Grundstein für eine effektive Prävention von Mobbing ist das Bewusstsein, dass Mobbing die gesamte (Schul-)Gemeinschaft betrifft und nicht nur ein Problem des betroffenen Opfers ist.”
Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Gesundheitssystem:
Der Kindergesundheitsbericht rät auch zur Implementierung von Schulgesundheitsfachkräften. Zu deren Aufgabengebieten sollten gehören: Gesundheitsversorgung, insbesondere die Akut- und Notfallversorgung, die Betreuung und Begleitung chronisch oder psychisch erkrankter sowie behinderter Kinder, die gezielte Gesundheitsförderung und Prävention, die Unterstützung von Lehrkräften im Unterricht bei gesundheitsrelevanten Themen, sowie die Früherkennung. “Vor allem ist die Schulgesundheitsfachkraft aber Vertrauensperson für Schülerinnen und Schüler und hat ein offenes Ohr für deren Sorgen und Nöte”, führen die Autorinnen und Autoren weiter aus. Neben Schulgesundheitsfachkräften seien regelmäßige Gesundheitschecks und Präventionsprogramme in Kooperation mit lokalen Gesundheitseinrichtungen erstrebenswert.
Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren:
Der Umgang mit sozialen Ungleichheiten ist seit jeher eine Schwäche im deutschen Bildungssystem. Umso wichtiger ist es, dass beim Thema Gesundheit und Wohlbefinden Unterstützungsprogramme für Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien diese Ungleichheiten auffangen. Denn, wie im Kindergesundheitsbericht beschrieben, kann der sozioökonomische Hintergrund von Familien “einen negativen Einfluss auf den Gesundheitszustand sowie das Erlernen gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen haben.” Gesundheitsfördernde Ressourcen für Lernende sollten daher, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund, für alle zugänglich sein.
Viele alarmierende Defizite finden sich im Kindergesundheitsbericht 2024 – ebenso wie konkrete Lösungsansätze für die mangelnde Berücksichtigung von mentaler und physischer Gesundheit im Bildungssystem. Die zentralen Herausforderungen – psychische Belastungen, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung – erfordern Maßnahmen auf mehreren Ebenen. Dazu gehören die systematische Integration von Bewegung und Gesundheitsförderung in den Schulalltag (etwa fünfminütige Bewegungspausen pro Unterrichtsstunde) – auch anhand von zusätzlichem Personal in den Schulen (Schulsozialarbeit, Schulgesundheitsfachkräfte). Ebenso würde eine bessere Ausbildung von Lehrkräften in Methoden zur Stressbewältigung und Bewegungsförderung, eine bessere Schulverpflegung und Ernährungsbildung, kostenfreie ausgewogene Mahlzeiten, die soziale Ungleichheiten mildern, sowie Programme zur psychischen Gesundheitsförderung, Schulsozialarbeit und die Implementierung von Schulgesundheitsfachkräften helfen. Zentral ist dabei der Ansatz, Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen: Schulen sollen nicht nur Orte des Lernens, sondern auch des Wohlbefindens werden.