Wie Freundschaften das Selbstvertrauen in Mathe beeinflussen – zumindest bei Jungen
Jungen schätzen ihre Leistungen in Mathematik weniger objektiv ein als Mädchen. Das liegt auch am Einfluss ihrer Peer Group.
Obwohl Jungen und Mädchen ähnliche Mathematikleistungen erbringen, sind Jungen oft überzeugter von ihrer eigenen Leistung. Ein Grund: Jungen vergleichen sich in Mathe stärker mit Gleichaltrigen. Isabel Raabe, Soziologin an der Uni Zürich hat das Selbstvertrauen in Mathe mit Daten von knapp 9000 Schülerinnen und Schülern untersucht.
Redaktion: Welche Rolle spielen soziale Prozesse für das Selbstvertrauen in Mathe?
Isabel Raabe: Es gibt grundsätzlich viele mögliche Einflussfaktoren auf das Selbstvertrauen. Eine Theorie geht davon aus, dass das eigene Selbstvertrauen von der jeweiligen Peer Group abhängt. Unsere Untersuchung zeigt, dass das – in Bezug auf die mathematischen Fähigkeiten – auf Jungen stärker zutrifft als auf Mädchen. Jungen scheinen in ihrer Selbsteinschätzung sensibler auf soziale Prozesse zu reagieren, sie vergleichen sich stärker mit Anderen und passen ihre Selbsteinschätzung daran an.
Bei Mädchen erweist sich die Selbsteinschätzung von Gleichaltrigen als weniger relevant für das eigene Selbstvertrauen. Mädchen orientieren sich stärker an ihren Noten und schätzen ihre Leistungen realistischer ein. Wenn ein Mädchen eine 3 schreibt, bewertet sie ihre Fähigkeiten als mittelmäßig. Jungen neigen hingegen dazu, ihre mathematischen Fähigkeiten zu überschätzen. Ein Junge würde dieselbe Note als Indikator dafür sehen, dass er immer noch ziemlich gut in Mathe ist; unsere Studie weist darauf hin, dass diese Abweichung durch soziale Prozesse zu erklären ist.
Was ist der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein?
Selbstvertrauen
Selbstvertrauen bezieht sich auf das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Urteile. Es ist spezifischer und kontextabhängig. Zum Beispiel meint es im Schulkontext das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten in bestimmten Schulfächern.
Selbstbewusstsein
Selbstbewusstsein ist ein breiteres Konzept und bezieht sich auf das allgemeine Gefühl des eigenen Werts und der eigenen Identität. Es ist weniger spezifisch und umfasst das Gesamtbild, das eine Person von sich selbst hat.
Redaktion: Wie kann man sich diese Vergleichsprozesse bei Jungen vorstellen?
Raabe: Dafür muss ich auf wissenschaftlicher Grundlage etwas spekulieren, weil wir dies in unserer Studie nicht selbst untersucht haben. Wahrscheinlich kennen Sie dies aber noch aus Ihrer eigenen Schulzeit: Wenn Noten bekannt gegeben werden, möchte jede von jedem wissen, welche Note er oder sie erhalten hat und wie zufrieden er oder sie damit ist. So bekommt jede und jeder einen Eindruck, wie Gleichaltrige auf Noten reagieren und mit welchen Leistungen sie zufrieden sind und mit welchen nicht.
Redaktion: Im Schnitt weisen Jungen schlechtere Abschlussnoten als Mädchen auf. Könnte die nicht an objektiven Leistungen orientierte Selbsteinschätzung dabei eine Rolle spielen?
Raabe: Mädchen erzielen im Durchschnitt bessere Noten, allerdings zeigen sich Unterschiede, wenn man die verschiedenen Fächer betrachtet. Zum Beispiel schneiden Jungen in Mathematik tendenziell besser ab. Diese Unterschiede sind jedoch nicht so stark ausgeprägt wie in Sprachfächern oder anderen Bereichen. Es gibt Ansätze, die argumentieren, dass dies mit den Entwicklungsunterschieden zwischen Mädchen und Jungen zusammenhängt. Die frühere Pubertät und deren Abschluss bei Mädchen könnte dazu beitragen, dass Mädchen früher erkennen, wie wichtig Schule ist. Bei Jungen scheint dieser Erkenntnisprozess später einzusetzen, wodurch Mädchen möglicherweise einen anfänglichen Vorsprung haben, der sich im Laufe der Zeit verstärkt. Gleichzeitig könnte man darüber nachdenken, wie man Jungen besser unterstützen kann, damit sie ihre eigenen Fähigkeiten realistischer einschätzen und gegebenenfalls mehr investieren, um ihre Leistungen zu verbessern.
Redaktion: Ist Selbstüberschätzung immer nachteilig?
Raabe: Nicht unbedingt. Studien zeigen, dass ein hohes Selbstbewusstsein zu höherer Motivation führt. Schülerinnen und Schüler sind aufmerksamer, nehmen aktiver am Unterricht teil und setzen sich intensiv mit dem Stoff auseinander. Das kann dazu führen, dass positive Einstellungen mit der Zeit zu besseren Leistungen führen. Es ist daher entscheidend, sich auch mit dem Konzept des Selbstbewusstseins zu befassen, auch wenn letztlich die Note eine zentrale Rolle spielt.
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Redaktion: Könnte das hohe Selbstvertrauen von Jungen auch damit zusammenhängen, dass Mathematik nach wie vor als „Jungen-Fach“ gesehen wird, bei dem Jungen internalisiert haben, besser abschneiden zu müssen als Mädchen?
Raabe: Studien legen nahe, dass Leistungen in Mathe für Jungen eine größere Rolle spielen als für Mädchen. Das Selbstbild von Jungen hängt nach wie vor stark mit guten mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten zusammen, während Mädchen ein besseres Selbstkonzept in sprachlichen Fächern aufweisen.
Redaktion: Welche Befunde gibt es bezüglich Geschlechterstereotypen?
Raabe: Eine verbreitete Vorstellung ist, dass Mädchen, die gut in Mathe sind, oft als „Nerds" abgestempelt werden und möglicherweise weniger akzeptiert sind. In der Literatur wird oft diskutiert, dass dieser Mechanismus erklären könnte, warum einige Mädchen vielleicht nicht zugeben, gut in Mathe zu sein, um mehr soziale Akzeptanz zu erlangen. Was wir jedoch festgestellt haben, ist das genaue Gegenteil: Mädchen und Jungen, die gut in Mathe sind oder sich selbst als kompetent in diesem Fach sehen, sind tatsächlich sehr gut integriert. Es scheint keine Peer-Normen zu geben, die Mädchen davon abhalten würden, ihre Fähigkeiten in Mathe anzuerkennen.
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Redaktion: Warum zeigen sowohl Mädchen als auch Jungen untereinander ähnliche Verhaltensmuster? Unterscheiden sich die Denkweisen von Jungen und Mädchen voneinander?
Raabe: Freundschaften neigen dazu, besonders im Jugendalter nach Geschlecht segregiert zu sein. Die Menschen, mit denen Schülerinnen und Schüler interagieren und deren Meinung sie als wichtig erachten, sind einfach unterschiedlich. Bei Jungen sind es hauptsächlich andere Jungen, während es bei Mädchen eher Mädchen sind. Dadurch können sich soziale Einflüsse oder normative Faktoren auf die Denkprozesse auswirken. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass dies nicht aufgrund genetischer Faktoren geschieht, sondern durch die Art der Sozialisation, der Mädchen und Jungen ausgesetzt sind.
Redaktion: Wie können Schulen diesen Mechanismus aufbrechen?
Raabe: Ein möglicher Ansatz wäre es, durch klassenübergreifende Projekte unterschiedliche Schülerinnen und Schüler zusammenzubringen. Obwohl solche Initiativen Chancen schaffen können, ist es schwer, soziale Kontakte zu erzwingen.
In Bezug auf Mathematikleistungen glaube ich, dass Lehrkräfte einen bedeutenden Einfluss haben können, je nachdem, wie sie Leistungen wertschätzen. Es gibt Studien, die zeigen, dass unterschwellige Vorurteile existieren, sei es aufgrund des Geschlechts oder anderer Faktoren, die automatische Reaktionen beeinflussen. Es ist daher umso wichtiger, dass Lehrkräfte sich dieser Mechanismen bewusst sind, um sich selbst zu hinterfragen und mögliche Vorurteile zu erkennen.
Redaktion: Generell belegen zahlreiche Studien für Mädchen eher negative soziale Vergleichsprozesse. Dies schließt ein, dass sie sich im Vergleich zu Anderen unvorteilhaft bewerten, was zu negativen Gefühlen bezüglich ihrer eigenen Fähigkeiten und Leistungen führen kann. Wie erklären Sie in Ihrer Studie die Orientierung von Mädchen an objektiven Leistungen?
Raabe: Ich denke, das liegt daran, dass Mädchen Mathematik im Schnitt als nicht so wichtig für ihre Identität einschätzen. Während körperliches Selbstbewusstsein oder Aussehen sehr bedeutend für viele Mädchen sind und daher stärker mit ihrer Identität verknüpft werden, sind mathematische Kenntnisse nicht so zentral. Wenn etwas weniger wichtig für die eigene Identität ist, fällt es leichter, objektiv zu bleiben und Feedback anzunehmen. Mädchen können dann realistischer einschätzen, ob sie gut oder schlecht in Mathe sind, ohne dass dies ihr Selbstbild stark beeinflusst. Wenn jedoch ein Bereich wichtig für das Selbstbild ist, sucht man eher nach sozialer Validierung.
Redaktion: Verfolgen wir einmal den Gedanken weiter, dass Jungen stark von ihren Peers beeinflusst werden - insbesondere im Teenageralter, wo sich viele von ihnen leider innerlich von der Schule distanzieren: Ist es schwierig, dieses Verhältnis dann wieder ins Positive zu wandeln, um bessere Abiturergebnisse zu erzielen? Könnte die Rolle der Peergruppe hier eine entscheidende Rolle spielen?
Raabe: Das kann tatsächlich problematisch sein. Die Peergruppe hat einen erheblichen Einfluss, vor allem die Freunde, mit denen man sich identifiziert und regelmäßig trifft, sei es auf dem Fußballplatz, im Café oder beim Computerspielen. Diese Dynamiken können entweder positiv oder negativ sein. Wenn sich ein Junge in einem Freundeskreis befindet, der Schule als unwichtig ansieht, kann das seine Einstellung stark beeinflussen und zu schlechteren Leistungen führen. Umgekehrt kann ein Junge, der vielleicht eine Tendenz hat, sich von der Schule zu distanzieren, durch eine positive Peergruppe, die Schule wichtiger nimmt, wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Auch gemischte Freundeskreise können hier hilfreich sein. Es ist jedoch schwierig, solche Dynamiken bewusst zu steuern, da Freundschaften oft auf natürlichen Gemeinsamkeiten beruhen. Daher ist es durchaus berechtigt, wenn sich Eltern Sorgen machen, mit wem ihre Kinder befreundet sind, da Freundschaften einen großen Einfluss auf deren schulische Einstellung und Leistungen haben können.
Redaktion: Welche praktischen Anwendungen oder Empfehlungen ergeben sich aus Ihren Forschungsergebnissen für Schulen und Lehrkräfte?
Raabe: Grundsätzlich geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler eine realistischere Selbstwahrnehmung entwickeln. Lehrkräfte sollten Noten und Leistungen klar und ehrlich kommunizieren. Wenn zum Beispiel jemand eine 4 in Mathe hat, ist es wichtig, das offen anzusprechen und zu reflektieren, was das bedeutet. Natürlich geht es nicht darum, das Selbstbewusstsein zu zerstören, aber eine ehrliche Diskussion über Stärken und Schwächen ist wichtig.
Außerdem sollten Lehrkräfte besonders bei Mädchen darauf achten, unterschätzte Leistungen zu erkennen und zu fördern. Wenn ein Mädchen eine 2- in Mathe hat, könnte man sie ermutigen, vielleicht doch einen Mathe-Leistungskurs zu wählen und ihr Potenzial hervorheben. Diese positive Wertschätzung und Ermutigung kann einen großen Unterschied machen. Letztlich ist es aber auch wichtig zu erkennen, dass viele soziale Prozesse außerhalb des Klassenraums stattfinden, wo die Lehrkräfte weniger Einfluss haben.
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Redaktion: Was folgt aus der Erkenntnis, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich ticken und entwickelt sind? Sollten Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler in den MINT-Fächern und Sprachen zeitweise getrennt unterrichten?
Raabe: Ich glaube nicht, dass eine stärkere Trennung helfen würde. Im Gegenteil, wir haben gesehen, dass Freundschaften zwischen Mädchen und Jungen zu realistischeren Selbstwahrnehmungen führen.
Wenn wir feststellen, dass Jungen in Mathematik oft zu selbstbewusst sind, weil das Fach als wichtig vermittelt wird, kann das zwar zu besseren Noten führen, aber auch dazu, dass sie andere Bereiche, in denen sie gut sind, übersehen. Es geht nicht darum, dass alle Jungen Maschinenbau studieren sollen, nur weil sie denken, dass sie gut darin sind. Viel entscheidender ist, dass jede und jeder weiß, worin sie oder er gut ist. Außerdem müssen Tabus aufgebrochen werden. Ein Junge ist nicht weniger männlich, wenn er in Mathematik Schwierigkeiten hat. Es sollte nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass man bestimmte Dinge kann oder nicht kann, nur weil man ein bestimmtes Geschlecht hat. Jeder Mensch hat individuelle Stärken und Schwächen, und das sollte im Vordergrund stehen.
Redaktion: Frau Raabe, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Isabel Raabe ist SNF-Ambizione-Stipendiatin (Schweizerischer Nationalfonds) am Institut für Soziologie der Universität Zürich. Sie beschäftigt sich mit der Zusammensetzung von Schulklassen und deren Auswirkungen auf die soziale Dynamik und den Bildungserfolg.