Wie Kinder früh wissenschaftlich denken lernen können

Mit der richtigen Förderung können Kinder schon im Grundschulalter mehr wissenschaftliche Kompetenzen entwickeln, als bisher gedacht

Kinder können oft früher wissenschaftlich denken, als man bisher glaubte. Bereits in der Grundschule können sie Hypothesen aufstellen und Experimente planen. Entscheidend sind jedoch die richtigen Impulse von Eltern und Lehrkräften. Prof. Christopher Osterhaus hat einen ausschlaggebenden  Faktor für die Entwicklung dieser Fähigkeiten erforscht.

Redaktion: Herr Osterhaus, was verstehen Sie unter wissenschaftlichem Denken?

Prof. Dr. Christopher Osterhaus: Wissenschaftliches Denken bedeutet nicht nur, Fakten zu kennen, sondern aktiv nach Wissen zu suchen, Hypothesen aufzustellen und herauszufinden, wie man Erkenntnisse gewinnen kann. Dazu gehört das Verständnis grundlegender wissenschaftlicher Methoden, wie etwa Experimente durchzuführen und Variablen zu kontrollieren.

Es stellt sich die Frage, ob Kinder im Kindergarten- oder Grundschulalter solche Fähigkeiten schon besitzen. Studien, einschließlich unserer eigenen, zeigen, dass junge Kinder überraschend kompetent sind. Sie können einfache Experimente planen - zum Beispiel Dinge vergleichen, Variablen manipulieren oder konstant halten, um Zusammenhänge zu erkennen. Früher dachte man, solche Fähigkeiten entwickelten sich erst in der Adoleszenz. Doch heute wissen wir, dass junge Kinder bereits systematisch und zielgerichtet etwas erforschen können.

Redaktion: Können Sie Beispiele dafür nennen, wie Sie das wissenschaftliche Denken in der Studie überprüft haben?

Osterhaus: Wir haben Kindern Aufgaben gestellt, die oft spielerisch waren, um ihr Interesse zu wecken. Eine Frage war z. B.: Wie kann man herausfinden, ob Nacktschnecken oder Weinbergschnecken schneller sind? Eine andere Aufgabe: Löst sich Kakao in warmer oder kalter Milch schneller auf?

Kinder, die wissenschaftlich denken, planen Experimente, die die richtige Variable – in diesem Fall die Temperatur der Milch – manipulieren und andere Bedingungen konstant halten, z. B. die Menge der Milch. Wir haben den Kindern aber auch bewusst die Möglichkeit gegeben, nicht relevante Variablen zu manipulieren, um zu sehen, wie sie damit umgehen.

Die wichtigsten Studienergebnisse

Juniorprofessor Christopher Osterhaus hat für seine Studie über einen Zeitraum von fünf Jahren 161 Grundschulkinder begleitet, um die Entwicklung ihres wissenschaftlichen Denkens zu analysieren. Kinder aus Familien mit einer offenen Haltung gegenüber Wissen – zum Beispiel mit dem Verständnis, dass Wissen veränderlich und kontextabhängig ist – zeigten dabei langfristig bessere Fähigkeiten im wissenschaftlichen Denken als Altersgenossen aus weniger unterstützenden Umfeldern. Der Einfluss der elterlichen Überzeugungen blieb bestehen, auch wenn Faktoren wie Bildung der Eltern und kognitive Fähigkeiten der Kinder berücksichtigt wurden. Das führte Osterhaus zu dem Schluss, dass Schulen Unterschiede zwischen Familien weniger ausgleichen als bisher angenommen.

Redaktion: Was unterscheidet Kinder, die wissenschaftlich denken können, von denen, die es nicht können?

Osterhaus: Ein wichtiger Unterschied liegt darin, wie gut Kinder Variablen kontrollieren können. Kinder, die wissenschaftlich weniger geschult sind, wählen oft die falschen Variablen aus oder vergessen, nicht-fokale Variablen konstant zu halten.

Ein häufiger Fehler, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, ist der Wunsch, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Dabei werden mehrere Variablen gleichzeitig manipuliert, was zu einem Verlust der Aussagekraft führt. Ein Beispiel: Wenn eine Lehrkraft eine neue Unterrichtsmethode entwickelt und gleichzeitig viele Elemente verändert, ohne klare Vergleichsgruppen zu schaffen, ist am Ende unklar, welches Element tatsächlich erfolgreich war.

Redaktion: Sie kommen zu dem Schluss, dass das Elternhaus entscheidend dafür ist, wie sich das wissenschaftliche Denken im Laufe der Grundschulzeit entwickelt. Woran machen Sie das fest?

Osterhaus: Unsere Forschung zeigt, dass die Ansichten der Eltern über Wissenschaft einen großen Einfluss auf die Kinder haben – einen größeren als der Bildungshintergrund der Eltern. Eltern mit einem absolutistischen Verständnis glauben, Wissen sei fest und unveränderlich. Relativistisch eingestellte Eltern hingegen sehen Wissen nur als subjektive Meinung.

Am hilfreichsten für das wissenschaftliche Denken der Kinder ist ein sogenanntes evaluatives Verständnis. Dabei erkennen Eltern an, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, bewerten diese jedoch anhand von Evidenzen. Kinder von Eltern mit einem solchen Verständnis zeigen die besten wissenschaftlichen Denkfähigkeiten. Interessanterweise verschwindet der Einfluss des Bildungshintergrunds der Eltern, wenn der Faktor Wissenschaftsverständnis berücksichtigt wird.

„Wissenschaftliches Denken ist eng mit sozialen Fähigkeiten verbunden, da es oft darum geht, andere von einer Hypothese zu überzeugen.“

Prof. Dr. Christopher Osterhaus

Redaktion: Wie können Lehrkräfte wissenschaftliches Denken fördern, um die Einflüsse der Elternhäuser etwas abzumildern?

Osterhaus: Lehrkräfte können viel bewirken, indem sie Neugier und eine positive Wissenskultur fördern. Wenn Schülerinnen und Schüler Fragen stellen, auf die man selbst keine Antwort weiß, ist es völlig in Ordnung zu sagen: „Ich weiß es auch nicht, aber lass uns gemeinsam die Antwort herausfinden.“ Diese Herangehensweise fördert das wissenschaftliche Denken. Genauso wichtig ist es, die Kinder immer wieder zu fragen: „Was genau möchtest du herausfinden?“ und gemeinsam zu überlegen, wie man das tun kann.

Für jüngere Kinder könnten das einfache Beobachtungen sein, wie das Mischen von Wasser mit Farben oder das Beobachten des Pflanzenwachstums. So entwickeln sie grundlegende wissenschaftliche Kompetenzen. Mit der Zeit können Aktivitäten etwas systematischer werden, z. B. Objekte wiegen oder kleine Experimente durchführen, die man auch in den Alltag integrieren kann, etwa beim Kochen oder Basteln.

Lehrkräfte können zudem einfache Experimente in den Unterricht einbauen, um die „Variablenkontrollstrategie“ zu vermitteln: Dabei wird nur eine Variable verändert, um die Auswirkungen zu beobachten. Wichtig ist auch, Kindern zu zeigen, dass es keine falschen Hypothesen gibt – nur solche, die man durch systematische Beobachtungen oder Messungen überprüfen kann.

Redaktion: Warum finden Sie es wichtig, dass Kinder schon so früh wissenschaftliches Denken lernen?

Osterhaus: Wissenschaftliches Denken ist eine essenzielle Kompetenz – sowohl für das Verständnis gesellschaftlich relevanter Fragen wie der Pandemie oder des Klimawandels als auch für die Lösung komplexer Probleme.

Es ist sinnvoll, früh anzusetzen, da sich Unterschiede in den Fähigkeiten bereits im Kindesalter manifestieren und später schwer auszugleichen sind. Zudem profitieren Kinder individuell: Wissenschaftliches Denken fördert innovative Problemlösungen und eröffnet berufliche Chancen.

Redaktion: Was planen Sie als Nächstes?

Osterhaus: Wir arbeiten an Förderprogrammen, die auch Eltern einbeziehen, um sie in ihrer Rolle als Unterstützer des wissenschaftlichen Denkens ihrer Kinder zu stärken. Ziel ist es, die Schule zu entlasten und gleichzeitig eine positive Wissenskultur zu fördern.

Redaktion: Herr Professor Osterhaus, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Christopher Osterhaus ist Junior-Professor für Entwicklungspsychologie im Handlungsfeld Schule an der Universität Vechta. Seine zentralen Forschungsthemen umfassen die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe sowie die sozialkognitive Entwicklung, insbesondere die Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen, sich in andere hineinzuversetzen.