(Wie) können digitale Spiele Bildungsgerechtigkeit fördern?
Im Projekt EU-FairPlay wird untersucht, welches Potenzial in digitalen Lernspielen steckt, um zu mehr Bildungsgerechtigkeit beizutragen.
Eine gerechte Bildung verspricht allen Schüler:innen die gleichen Bildungschancen. Im Zuge des digitalen Wandels gilt dieser Anspruch auch für das Thema E-Learning. Trotzdem profitieren nicht alle Schüler:innen gleichermaßen von der Digitalisierung. Im Projekt EU-FairPlay untersuchen Dr. Katerina Tsarava und ihre Kolleg:innen, ob und wie digitale Spiele zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen können.
Redaktion: Frau Doktorin Tsarava, Sie beschäftigen sich im Projekt EU-FairPlay mit dem Potential digitaler Lernspiele für eine gerechtere Bildung. Warum sind Spiele hierfür ein guter Ansatz?
Dr. Katerina Tsarava: Spiele sind ein wesentlicher Aspekt der menschlichen Kultur und Gesellschaft. Sie fördern schon bei den Kleinsten Motivation und Engagement. Aus diesem Grund wird die Spielmechanik zunehmend auch auf in der Regel spielfreie Kontexte wie die Grund- und Sekundarschulbildung oder die Erwachsenen- und Hochschulbildung übertragen. Auf diese Weise lassen sich auch in diesen Bereichen Motivation, Verhalten und Lernergebnisse fördern. Beispielsweise lässt sich durch spielbasiertes Lernen das Engagement für Lerninhalte und Teamwork steigern. Darüber hinaus verbessern spielbasiertes Lernen und Gamification nachweislich das kreative und kritische Denken sowie das Verständnis von Lerninhalten.
Redaktion: Wie lässt sich das Potenzial von spielbasiertem Lernen für mehr Bildungsgerechtigkeit nutzen?
Tsarava: Spiele sprechen Menschen aller Altersgruppen an, Menschen mit unterschiedlichen ethischen und kulturellen Hintergründen und Menschen mit verschiedenen Interessen und Fähigkeiten. Spiele, bei denen es nicht auf die Sprache ankommt, können so zum Beispiel Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen an ein gemeinsames Thema heranführen. Spiele ermöglichen es Menschen zudem, Empathie zu entwickeln, sich sogar in Situationen hineinzufühlen, die sie selbst nie erlebt haben - und wahrscheinlich auch nie erleben werden.
„Um die Bildungsgerechtigkeit zu steigern, gilt es, herkunftsbedingte Disparitäten in Bezug auf digitale Fähigkeiten entgegenzuwirken.“
Dr. Katerina Tsarava
Redaktion: In Ihrem Projekt geht es in erster Linie um das Lernen auf Basis digitaler Spiele. Warum schauen Sie sich ausgerechnet diese Medien an und inwieweit können sie tatsächlich zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen?
Tsarava: Durch die Corona-Pandemie war das Thema der Digitalisierung im Bildungswesen präsent wie nie zuvor. Gleichzeitig droht die Digitalisierung bestehende Ungleichheiten im Bildungsbereich zu verschärfen, da nicht alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen von digitalen Möglichkeiten profitieren oder die gleiche Unterstützung durch Erziehungsberechtigte und die Schule erhalten. Um die Bildungsgerechtigkeit zu steigern, gilt es daher, herkunftsbedingte Disparitäten in Bezug auf digitale Fähigkeiten (Digital Divide) entgegenzuwirken. Unser Projekt ist das erste, dass sich mit einer Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit durch den Ansatz des Digital Game Based Learning beschäftigt. Das Potenzial ist schon auf den ersten Blick offensichtlich: Digital Game Based Learning kann in verschiedenen Bildungskontexten, -ebenen und -formaten zu einer Verbesserung des Bildungssystems beitragen. Dies gilt für formelle Lernkontexte ebenso wie für informelle Settings, für Universitäten ebenso wie für Vorschulen. Häufig entfallen zudem lange Fahrtwege zu außerschulischen Bildungsangeboten. Digital Game Based Learning bietet einen niedrigschwelligen, unterhaltsamen und motivierenden Zugang zu digitalen Technologien und aus empirischen Studien wissen wir zudem schon länger, dass Game Based Learning das Lernen effektiv fördert. Eine wichtige Rolle spielt zudem die Adaptivität, indem Spielinhalte an vorhandenes Wissen und Fähigkeiten anknüpfen und es den Lernenden ermöglichen, in ihrem eigenen Tempo zu lernen.
Game-Based Learning, Lernspiele, Gamification und Serious Games – wo liegen die Unterschiede?
Game-Based-Learning: Der Ansatz des Digital Game-Based-Learning (auf digitalen Spielen basierte Lernen) beschreibt das Erlernen bestimmter Kenntnisse und Fähigkeiten mit Hilfe von digitalen Spielen. Dies kann durch das Spielen selbst geschehen oder durch die Entwicklung von Spielen initiiert werden. Forschung zu Game-Based-Learning beschäftigt sich daher mit der Frage, wie spielebasiertes Lernen funktioniert. Für den Bildungsbereich bedeutet dies, dass es sich nicht um speziell auf Bildungszwecke ausgelegtes Spiel handeln muss, sondern vielmehr die Nutzung von Spielen aller Art in einem Lernkontext gemeint ist. Ein Beispiel hierfür ist das Spiel Semideus Math, mit dem Schülerinnen und Schüler auf spielerische Weise Bruch- und Dezimalzahlen auf einem Tablet-Gerät trainieren können.
Serious Games: Hierbei handelt es sich um Spiele, die speziell dafür entwickelt werden, einem anderen Zweck zu dienen als der reinen Unterhaltung. Dazu gehören sogenannte Health Games im Gesundheitswesen, politische Spiele oder Spiele, die sich mit Themen der sozialen Gerechtigkeit befassen. Auch Spiele, die für allgemeine Bildungszwecke entwickelt werden, werden hierunter gefasst. Bei Serious Games ist es damit vor allem die Absicht, die ein Spiel als “serious”, ernsthaft klassifiziert.
Lernspiele: Bei Lernspielen handelt sich in der Regel um Spiele, die in einem formalen Bildungsumfeld eingesetzt werden. Dadurch unterscheiden sie sich von Serious Games, die auch in informellen Lernsettings zum Einsatz kommen. Ein Beispiel hierfür ist das lebensgroße Brettspiel Schildkröten und Krabben , das im Rahmen eines Informatikcurriculum entwickelt wurde und Grundschulkindern grundlegende Programmierkonzepte und rechnerische Denkprozesse näherbringt.
Gamification: Wenn spielerische Elemente in spielfremden Kontexten zum Einsatz kommen, spricht man von Gamification. Dabei geht es nicht unbedingt darum, dass Schüler:innen neue Erkenntnisse gewinnen, sondern darum, einzelne Elemente, Techniken oder Designprinzipien aus dem Spieldesign zu übernehmen, um einen Kurs, ein Thema oder ein Projekt mit einem Spielecharakter hervorzuheben. Zu solchen Elementen zählen zum Beispiel Storytelling, Level oder Badges (Auszeichnungen).
Redaktion: Gibt es bereits gute Beispiele, die das Potenzial digitaler Spiele demonstrieren?
Tsarava: Ein Bereich, in dem die Anwendung von spielbasiertem Lernen im Bildungsbereich bereits Früchte trägt, ist die Integration von geflüchteten Schülerinnen und Schülern. Diese Kinder haben in der Regel ganz unterschiedliche Lebensbedingungen, ihrer Lern- und emotionalen Bedürfnisse unterscheiden sich ebenso wie ihr soziokultureller Hintergrund. Oft sind sie zudem von physischen und psychischen Gesundheitsproblemen, Sprachbarrieren und Lernschwierigkeiten betroffen oder haben aufgrund verlorener Dokumente Probleme ihre Bildung im Aufnahmeland anerkennen zu lassen. In der Türkei gibt es für syrische Schülerinnen und Schüler daher zum Beispiel das Projekt Hope. Dabei handelt es sich um einen computergestützten, spielerischen Lehrplan, der darauf abzielt, Kenntnisse der türkischen Sprache und das rechnerische Denken zu trainieren sowie Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu verringern.
Redaktion: Sie sprachen bereits die heterogenen Lern- und Lebensbedingungen von benachteiligen Schüler:innen an. Wie niederschwellig und leicht zugänglich sollten Lernspiele gestaltet werden, um Bildungschancen zu verbessern und Lernzuwachs zu fördern?
Tsarava: Zum einen sollten die Bildungsbarrieren, mit denen sehr unterschiedliche Zielgruppen konfrontiert sind, bei der Gestaltung und Auswahl der jeweiligen Spiele berücksichtigt werden. Wenn die Zugangsbarriere zu Bildungsinhalten beispielsweise die Sprache ist, dann sollte das Spiel hierfür eine Lösung bieten. Auch das Alter und die kognitive Entwicklung, der kulturelle Hintergrund und die Fähigkeiten der jeweiligen Zielgruppe müssen berücksichtigt werden, um Diskriminierung zu vermeiden. Zum anderen sollte im Hinblick auf den Zugang zu bestehenden Spielen sichergestellt werden, dass die Schülerinnen und Schüler Zugang zu der technologischen Infrastruktur (mobile Geräte, Laptops, Internet) haben, die zum Spielen digitaler Spiele erforderlich ist. Aus Forschungssicht wichtig ist zudem, dass die Spiele empirisch auf ihre Wirksamkeit getestet werden, bevor sie der Zielgruppe zur Verfügung gestellt werden, denn nicht alles, was gut gemeint ist, funktioniert auch in der Praxis.
Redaktion: Wie müssen Spiele gestaltet sein, um das Lernen in der Praxis zu fördern?
Tsarava: Insbesondere Spielelemente wie Animation, Grafik, Spaß, Regeln und Ziele können zu mehr Engagement mit den Spielinhalten führen und das Lernen unterstützen. Weniger einheitlich sind die Forschungsergebnisse hinsichtlich der Spielform. Inwieweit Kooperationsspiele oder Wettbewerbsspiele besser für Lernspiele geeignet sind, bedarf noch weiterer Forschung.
Redaktion: Gibt es bereits Erkenntnisse dazu, welche Genres für digitale Lernspiele am besten geeignet sind?
Tsarava: Jüngste Studien haben ergeben, dass zumindest das bei weitem beliebteste Spielgenre Simulationen sind. Simulationen unterstützen das Lernen, indem sie die Spielerinnen und Spieler virtuellen Aktivitäten und Verfahren aussetzen, die die reale Welt widerspiegeln oder nachbilden. Deutlich weniger Lernspiele gibt es in den Genres Rollenspiele, Abenteuerspiele, Strategiespiele, Problemlösungsspiele oder Puzzlespiele.
Redaktion: Nun kann ein Spiel jedoch noch so gut sein, wenn es nicht gespielt wird. Welche Rolle spielt bei digitalen Spielen die Unterstützung, die Schülerinnen und Schüler zu Hause erfahren?
Tsarava: Aktuelle Studien aus der Zeit des Homeschoolings während der Coronapandemie haben gezeigt, dass die Unterstützung durch Eltern und Erziehungsberechtigte wesentlich zum Engagement der Schülerinnen und Schüler und zur Akzeptanz der Technologie beiträgt. Viele digitale Spiele werden in informellen Settings zu Hause gespielt. Wenn Eltern das Potenzial von digitalen Spielen erkennen und verstehen, erhöht sich auch die Chance, dass sie ihren Kindern den notwendigen Zugang zu mobilen oder Laptop-Geräten ermöglichen.
EU-FairPlay
Im Rahmen des Verbundprojekts EU-Fairplay wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit der Bildungspraxis neue Facetten digitaler Lernspiele erschließen und dabei deren Potential zur Verbesserung von Bildungschancen aufzeigen. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen der TU Chemnitz, der TU Dresden und dem Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen und wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über eine Laufzeit von drei Jahren gefördert. Beteiligt sind Expertinnen und Experten aus Großbritannien, Österreich, Finnland, Frankreich, Estland, Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Personen aus der Praxis, die daran interessiert sind, Teil des Netzwerks EU-Fairplay zu werden und das Potenzial digitaler Lernspiele für eine gerechtere Bildung zu erschließen, können sich per Mail an den Projektbeteiligten Markus Suren von der TU Chemnitz wenden.
Redaktion: Ziel des Projektes EU-Fairplay ist es, die Bildungsgerechtigkeit zu verbessern. Wann ist dieses Ziel erreicht? Wann ist Bildung gerecht?
Tsarava: In der Forschung gilt Bildung dann als gerecht, wenn Strategien, Praktiken und Programme entwickelt werden, die die Bildungsbarrieren aufgrund von Geschlecht, ethnischer, nationaler Herkunft, Hautfarbe, Behinderung, Alter oder einem anderen geschützten Gruppenstatus auflösen. Zudem muss eine gerechte Bildung gleiche Bildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler bieten und gewährleisten, das bedeutet, dass alle Schülerinnen und Schüler die Unterstützung bekommen, die sie benötigen, um den Standard für ihre Altersgruppe erreichen zu können. Digitale Lernspiele können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, um die Bildungschancen benachteiligter Schülerinnen und Schüler zu vergrößern. Mit dem EU-Fairplay-Projekt wollen wir dazu beitragen, empirische Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie digitale Spiele zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen können. Auf dieser Basis können Forschung und Politik anschließend gemeinsam entsprechende Programme und Strategien entwickeln, um dieses Ziel zu erreichen.
Redaktion: Frau Doktorin Tsarava, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Dr. Katerina Tsarava ist Postdoktorandin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung im Team der Wissenschaftlichen Begleitung der Hector Kinderakademien. In ihrer Forschung untersucht sie vor allem, wie sich Programmierkenntnisse und informatisches Denken im Regelunterricht vermitteln lassen. Aktuell forscht sie zum Informatikunterricht in der Grundschule.
Aus dem Englischen übersetzt von Ann-Kathrin Bielang (Redaktion Online-Magazin schulmanagement).