(Wie) können Schulen Essstörungen vorbeugen?
Schulische Präventionsprogramme gegen Essstörungen zeigen Wirkung – auch wenn Langzeitstudien noch ausstehen

Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu, weshalb Schulen immer wichtiger für die Prävention werden. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Programme entwickelt, die Jugendliche stärken und frühe Risikofaktoren abmildern sollen. Doch welche Merkmale machen ein Präventionskonzept erfolgreich und wie gut helfen diese Programme tatsächlich
Szenen wie diese wiederholen sich in Klassenzimmern immer wieder: Ein Apfel liegt vor einer Schülerin auf dem Tisch – 54 Kalorien, essen scheint völlig undenkbar. In der großen Pause zeigt eine Lehrkraft auf den Apfel und sagt: „Iss!“ Ausgehend von solchen oft gut gemeinten, aber wirkungslosen Appellen stellt dieser Text die Frage: Ist das wirklich alles, was Schule gegen Essstörungen tun kann?
Essstörungen wie Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating nehmen in Deutschland zu, besonders unter Jugendlichen. Eine Analyse der Kaufmännischen Krankenkasse zeigt, dass die Zahl der diagnostizierten Fälle bei 12- bis 17-jährigen Mädchen zwischen 2019 und 2023 von 101 auf 150 pro 10.000 Versicherte gestiegen ist, ein Anstieg von fast 50 Prozent (KKH, 2025). Diese Entwicklung zeigt sich auch in den Zahlen des Statistischen Bundesamts: Die Zahl der stationären Behandlungen von 10- bis 17-jährigen Mädchen wegen Essstörungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt, von rund 3.000 im Jahr 2003 auf etwa 6.000 im Jahr 2023. Damit machen Jugendliche knapp die Hälfte aller stationär behandelten Patientinnen und Patienten aufgrund von Essstörungen aus (Destatis, 2025). Und dabei handelt es sich lediglich um Daten aus dem stationären Bereich die nur die schweren Fälle abbilden. Verbreiteter sind sogenannte subklinische Formen, also noch nicht voll ausgeprägte Essstörungen, die jedoch bereits Risikoverhalten wie restriktives Essverhalten oder starke Körperunzufriedenheit umfassen und ebenso mit psychosozialen Einschränkungen einhergehen (Pickhardt et al., 2019).
Soziale Medien können Essstörungen verstärken
Die Entstehung einer Essstörung beruht auf einem komplexen Zusammenspiel psychischer, biologischer und gesellschaftlicher Faktoren. Zu den zentralen Risikofaktoren zählen Schlankheitsstreben, ein negatives Körperbild, Perfektionismus, Diäthalten und ein niedriger Selbstwert, wobei insbesondere Mädchen und junge Frauen stärker gefährdet sind. Essstörungen treten zudem häufig nicht isoliert auf, sondern gehen mit psychosozialen Einschränkungen sowie inneren Belastungen wie Angst oder Depression einher. Gleichzeitig zeigen Studien, dass schützende Faktoren wie ein stabiles Selbstwertgefühl, eine positive Körperwahrnehmung, Selbstwirksamkeit und soziale Kompetenzen – etwa Konflikt- oder Medienkompetenz – das Risiko deutlich abmildern können (Pickhardt et al., 2019).
Hauptformen von Essstörungen
Expertinnen und Experten unterscheiden nach dem weltweit standardisierten Klassifikationssystem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) unter dem Code F50 drei Hauptformen von Essstörungen.
- Magersucht (Anorexia nervosa): Charakterisiert durch absichtlich herbeigeführten oder aufrechterhaltenen starken Gewichtsverlust bis hin zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht – getrieben von der Angst vor einem zu dicken Körper.
- Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa): Gekennzeichnet durch wiederkehrende Essattacken gefolgt von Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder anderen Maßnahmen zur Gewichtskontrolle. Die Betroffenen haben eine übertriebene Sorge um Körpergewicht und -form.
- Binge-Eating-Störung geht mit wiederholt unkontrollierbaren Essanfällen ohne kompensatorisches Verhalten einher, was häufig zu Übergewicht oder Adipositas führt.
Als Treiber der Zunahme von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren nennen Expertinnen und Experten gesellschaftliche Einflüsse, allen voran die Rolle sozialer Medien. Plattformen wie Instagram oder TikTok transportieren häufig unrealistische Schönheitsideale und verstärken den Hang zu sozialen Vergleichen und zur Internalisierung von Dünnheits- oder Fitnessnormen. Meta-Analysen zeigen, dass intensiver Social-Media-Konsum mit Essstörungen, gestörtem Essverhalten und einer schlechteren psychischen Gesundheit in Verbindung steht (Dane & Bhatia, 2023; Bonfanti et al., 2025). Besonders problematisch wirken Inhalte wie extrem diätorientierte Trends, pro-Essstörungs-Communities oder stark auf die äußere Erscheinung fokussierte Posts. Moderierende Faktoren wie ein hoher Body-Mass-Index, bestehende Körperbildprobleme und weibliches Geschlecht erhöhen das Risiko, während Medienkompetenz und ein stabiles Körperbewusstsein einen gewissen Schutz bieten können. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, die Förderung von Medienkompetenz nicht als technisches Thema, sondern als zentralen Baustein der Gesundheitsprävention im Schulalltag zu verankern.
All diese Befunde machen deutlich, wie wichtig es ist, gezielte Präventions- und Interventionsprogramme zu entwickeln, die Risikofaktoren frühzeitig abmildern und Schutzfaktoren stärken.
Schulische Präventionsprogramme: Ansatz und Wirkung
Präventionsprogramme gegen Essstörungen sind speziell entwickelte Konzepte, die Jugendliche frühzeitig für Themen wie Körperbild, Ernährung und den Umgang mit Medien sensibilisieren sollen. Viele dieser Programme sind bewusst schulisch ausgerichtet: Hier lassen sich ganze Klassen erreichen, Risikofaktoren frühzeitig erkennen und Schutzfaktoren systematisch fördern.
Studien zeigen, dass schulische Präventionsprogramme das Selbstwertgefühl stärken und Gewichts- sowie Figursorgen verringern können, wenn auch meist weniger stark als speziell für Risikogruppen entwickelte Programme (Pickhardt et al., 2019). Als besonders wirksam haben sich Programme herausgestellt, die interaktiv gestaltet sind, mehrere Lektionen umfassen und geschlechterspezifische Elemente einbeziehen. Idealerweise werden sie von geschulten Fachkräften durchgeführt und thematisieren Körperakzeptanz und dissonanzbasierte Übungen (Pickhardt et al., 2019, Wong et al., 2024). Letztere regen Jugendliche dazu an, gängige Schönheitsideale kritisch zu hinterfragen und ihre eigenen Überzeugungen zu reflektieren. Auch achtsamkeitsbasierte Ansätze, die den Umgang mit Stress und belastenden Gefühlen gezielt fördern, haben sich als wirksam erwiesen (Koreshe et al., 2023; Wong et al., 2024).
Auch die Medienkompetenz spielt eine wichtige Rolle, ebenso wie die Förderung einer positiven Haltung zum eigenen Körper, die das emotionale Wohlbefinden stärkt und das Risiko für Essstörungen und Depressionen senkt (Linardon et al., 2022). Noch nachhaltiger wirken Programme, die neben Körperakzeptanz auch die allgemeine Identitätsentwicklung stärken, da ein stabiler Selbstwert ein entscheidender Schutzfaktor gegen Essstörungen ist (Pickhardt et al., 2019
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Schulische Präventionsprogramme zeigen kurzfristig kleine bis mittlere Effekte, langfristige Effekte oder gar ein Rückgang der Inzidenz von Essstörungen konnten bisher kaum belegt werden. Ein Hauptproblem ist der kurze Untersuchungszeitraum vieler Studien, gerade weil Prävention oft Jahre vor dem Erkrankungsalter ansetzt und Effekte erst später sichtbar werden. Zudem fehlen häufig angepasste Konzepte für verschiedene Altersgruppen und schulische Kontexte. Langzeitstudien sind daher in Zukunft entscheidend, um die tatsächliche Wirksamkeit von Präventionsprogrammen belegen zu können (Berry et al., 2025, Pickhardt et al., 2019).
Präventionsprogramme im Überblick
Im deutschsprachigen Raum haben Pickhardt et al. (2019) in einem systematischen Review 22 Präventionsprogramme gegen Essstörungen identifiziert. Im Folgenden werden jene vorgestellt, die universell ausgerichtet und aktuell verfügbar sind.
Für Lehrkräfte stellt sich bei der Auswahl eines geeigneten Programms zunächst die Frage nach dem passenden Setting und der Zielgruppe: Soll das Programm im regulären Unterricht, in Projektform oder online umgesetzt werden? Zwar greifen die meisten Programme ähnliche Inhalte wie Schönheitsideale, gesunde Ernährung, Körperakzeptanz oder Selbstwert auf, doch unterscheiden sie sich in der methodischen Umsetzung, etwa durch Gruppendiskussionen, Rollenspiele oder kognitiv-behaviorale Übungen. Auch der zeitliche Umfang spielt eine Rolle, da mehrere Sitzungen eine intensivere Auseinandersetzung mit den Themen ermöglichen. Grundsätzlich sollten Programme bevorzugt werden, die wissenschaftlich evaluiert wurden.
Darüber hinaus haben sich internetbasierte Präventionsangebote gegen Anorexie und Bulimie als effektive und zugleich kostengünstige Alternative zu klassischen schulbasierten Maßnahmen erwiesen. Ein zusätzlicher Vorteil dieser Online-Ansätze liegt in der Anonymität, die für viele Jugendliche die Hemmschwelle senkt, sich mit dem sensiblen Thema auseinanderzusetzen und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Übersicht deutschsprachiger Präventionsprogramme (angelehnt an Pickhardt et al., 2019)
- Bauchgefühl: Das Programm „bauchgefühl“ richtet sich an Mädchen und Jungen der 6./7. Klassen (Grundtraining) und 8./9. Klassen (Vertiefungstraining). Es umfasst fünf Einheiten à 90 Minuten mit Medieneinsatz, Gruppenarbeit, Diskussionen, Selbsterfahrung und Rollenspielen. Zu den behandelten Themen gehören Schönheitsideale, Ich-Stärkung, Gefühlswahrnehmung und Identitätsfindung. Zur Evaluation erfolgte eine Lehrkräftebefragung. Die Materialien sind käuflich erhältlich und enthalten zehn Unterrichtskonzepte und Projektvorschläge.
- Jugend mit Biss: „Jugend mit Biss“ richtet sich an Jugendliche der 7./8. Klassen. Themen sind Schönheitsideale, Medienkritik, Essen und Gefühle sowie Hilfsangebote bei Essstörungen. Das Programm bietet Fortbildungen, Beratung und flexible Unterrichtseinheiten für Schulen und Jugendeinrichtungen in Frankfurt.
- MaiStep: Das Programm richtet sich an Jugendliche der 7./8. Klassen und umfasst fünf Einheiten à 90 Minuten mit Achtsamkeits- und Erlebnisübungen, Filmen und Rollenspielen. Themen sind Schönheit, Körperwahrnehmung, Gefühle und Konfliktbewältigung. Lehrkräfte können das Programm nach einer kostenfreien eintägigen Fortbildung an der Universitätsmedizin Mainz an ihrer Schule umsetzen und erhalten dabei Materialien mit theoretischen Grundlagen und praxisnahen Methoden.
- PriMa: Das Programm PriMa richtet sich an Mädchen der 6. Klasse und umfasst neun Einheiten à 90 Minuten. Themen sind unter anderem Schönheitsideale, Essrituale, Gewichtsphobie und Depression. Lehrkräfte können das Programm mit den kostenfrei verfügbaren Materialien direkt im Unterricht umsetzen (Stand: 2017).
- Torera: Das Programm Torera richtet sich an weibliche und männliche Jugendliche der 7. Klasse und umfasst neun Einheiten à 90 Minuten mit Postern, Rollenspielen, Filmsequenzen, Diskussionen und Bewegungsübungen. Inhalte sind unter anderem die Vertiefung von PriMa, die Bedeutung von Essen, gesunde Ernährung, Bewegung und Wohlbefinden. Lehrkräfte können das Programm mit den kostenfrei verfügbaren Materialien im Unterricht umsetzen (Stand: 2018).
- Trainingsprogramm an Schulen: Das Programm richtet sich an Mädchen und Jungen der 6. Klasse mit einer Auffrischung in der 8. Klasse und umfasst zwei Einheiten à 5 Stunden. Es arbeitet mit Rollenspielen, Diskussionen, Fallbeispielen und Spiegelübungen. Themenschwerpunkte sind die kritische Reflexion von Schönheitsidealen, gesunde Ernährung, Stressbewältigung und Körperwahrnehmung. Lehrkräfte können das Programm mit dem erwerbbaren Manual inklusive Trainingsplan und Kopiervorlagen umsetzen.
Fazit
Schulische Präventionsprogramme gegen Essstörungen zeigen vielversprechende Effekte, etwa bei der Reduktion von Gewichts- und Figursorgen, beim Schlankheitsstreben sowie bei der Stärkung des (Körper-)Selbstwerts. Zwar fehlen bislang belastbare Langzeitergebnisse, doch schädliche Wirkungen wurden in den vorliegenden Studien nicht berichtet (Pickhardt et al., 2019). Für Lehrkräfte bedeutet das: Jede Auseinandersetzung mit Prävention ist wertvoll und kann Kinder und Jugendliche unterstützen.





