Wie Lehrkräfte gemeinsam besser werden können: Lesson Study praktisch umsetzen
Wie die Methode Lesson Study Lehrkräfte in deutschen Schulen besser zusammenarbeiten lässt, was das bringt – und welche Herausforderungen dabei zu bewältigen sind.

Die Lesson-Study-Methode ist ein internationaler, innovativer Ansatz zur Unterrichtsentwicklung, der auf Teamwork und Reflexion setzt. Im Gespräch erklärt Prof. Dr. Miriam Vock, die den Transfer der Methode in deutsche Klassenzimmer untersucht hat, welche Ergebnisse zu erwarten sind – und wie Schulleitungen den Erfolg des Ansatzes unterstützen können.
Redaktion: Frau Professorin Vock, können Sie die zentralen Ideen hinter Ihrer Arbeit zur Unterrichtsentwicklungsmethode Lesson Study erläutern?
Prof. Dr. Miriam Vock: Die Lesson-Study-Methode hat ihren Ursprung in Japan und ist dort seit über 100 Jahren ein etablierter Standard in der Unterrichtsentwicklung. Sie zeichnet sich durch ihre klare Struktur und den Fokus auf Zusammenarbeit aus. Unser Ziel war es, dieses Modell an deutschen Schulen zu erproben, da wir festgestellt haben, dass viele Lehrkräfte sich Teamarbeit wünschen, diese jedoch in der Praxis – gerade an weiterführenden Schulen – selten etabliert ist. Hier möchten wir eine Veränderung anstoßen.
Redaktion: Was zeichnet Lesson Study als Konzept der Unterrichtsentwicklung aus?
Vock: Lesson Study ist ein klar strukturierter und teamorientierter Ansatz. Die Methode gliedert sich in vier Phasen und wird in kleinen Teams von drei bis sechs Lehrpersonen durchgeführt. Der gesamte Prozess dauert etwa sechs bis acht Wochen:
- Zuerst identifiziert das Team eine zentrale Fragestellung oder Herausforderung, die im Unterricht angegangen werden soll. Zum Beispiel: Wie fördern wir leistungsstarke Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht der dritten Klasse besser?
- Anschließend recherchiert das Team basierend auf der Fragestellung relevante Materialien, sichtet Literatur oder holt sich externe Expertise. Mit diesem Wissen planen die Lehrkräfte gemeinsam eine detaillierte Unterrichtsstunde.
- Eine Lehrkraft führt die geplante Stunde durch, während die anderen Teammitglieder beobachten. Der Fokus liegt hierbei nicht auf der Lehrkraft, sondern auf der Reaktion ausgewählter Schülerinnen und Schüler.
- Nach der Stunde analysiert das Team die Beobachtungen und reflektiert gemeinsam, was gut funktioniert hat und wo Verbesserungspotenzial liegt.
Dieser strukturierte Ansatz erleichtert es Lehrkräften, Herausforderungen im Unterricht systematisch anzugehen und voneinander zu lernen. Wir haben die Lesson Study in den letzten fünf Jahren an verschiedenen Schulen in Deutschland erprobt und konnten sehen, wie es die Zusammenarbeit stärkt und nachhaltige Veränderungen im Unterricht bewirkt.
Redaktion: Welche Vorteile bietet Lesson Study?
Vock: Wir wissen aus der internationalen Forschung zur Lesson-Study-Methode, dass die Zusammenarbeit von Lehrkräften sich verbessert und die Unterrichtsqualität steigt. Es gibt zudem erste Hinweise darauf, dass auch die Leistungen der Schülerinnen und Schüler positiv beeinflusst werden können. Bei unseren Projektschulen konnten wir ähnliches beobachten.
Besonders beeindruckend fand ich eine große Studie aus Großbritannien von Wake und Kolleginnen/Kollegen (Link zu dieser unter diesem Artikel, Anm. d. Red.), die ein randomisiertes kontrolliertes Experiment durchführten. Dabei ging es um Jugendliche, die in Mathematik durchgefallen waren und ein zusätzliches Jahr zur Prüfungsvorbereitung absolvierten. In einer der Versuchsgruppen wurden die Lehrkräfte traditionell geschult, in der anderen arbeiteten sie mit Lesson Study. Das Ergebnis: Die Schülerinnen und Schüler der Lesson-Study-Gruppe schnitten in den Prüfungen signifikant besser ab. Solche klaren Nachweise bis auf Schülerebene sind in unserem Forschungsbereich selten und daher besonders spannend. Gleichzeitig ist die Methode nicht so leicht wissenschaftlich streng überprüfbar, da sie sehr stark auf die Eigenverantwortung und Freiheit der Lehrkräfte setzt. Sie funktioniert nur, wenn die Teams selbst entscheiden können, welche Probleme sie bearbeiten möchten und welche Themen für ihre spezifische Situation relevant sind. Diese Flexibilität ist eine große Stärke der Lesson Study, erschwert jedoch die systematische Erforschung ihrer Wirksamkeit.
Redaktion: Sie haben sich in Ihrer Forschung insbesondere mit der praktischen Umsetzung von Lesson Study beschäftigt. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Vock: Wir haben unsere Arbeit im Rahmen des Forschungsverbunds LemaS („Leistung macht Schule“, Anm. d. Red.) durchgeführt. In der ersten Phase, die über fünf Jahre lief, haben wir mit 19 Grundschulen zusammengearbeitet. Von Anfang an war es unser Ziel, partizipativ zu arbeiten: Wir haben den Schulen die Methode vorgestellt, sie begleitet und zugleich Feedback aus der Praxis eingeholt. Dabei ging es darum zu prüfen, ob Lesson Study tatsächlich zu den Bedarfen und Möglichkeiten vor Ort passt. Wir haben unter anderem untersucht, welche Gelingensbedingungen erfüllt sein müssen, damit Lesson Study erfolgreich ist.
„Unsere Ergebnisse zeigen allerdings auch, dass Lesson Study sowohl an gut ausgestatteten Schulen als auch unter herausfordernden Bedingungen wie Lehrkräftemangel erfolgreich umgesetzt werden kann.“
Prof. Dr. Miriam Vock
Redaktion: Welche Faktoren haben sich dabei als besonders entscheidend für den Erfolg von Lesson Study an Schulen herausgestellt?
Vock: Einstellungen und Haltungen der beteiligten Lehrkräfte sind sehr wichtig. Ein neugieriges, motiviertes Team, das sich auf den Prozess einlässt, ist ein entscheidender Erfolgsfaktor. Zudem kann es hilfreich sein, wenn die Lehrkräfte zeitlich entlastet werden, etwa durch die Reduktion von Unterrichtsstunden. In einigen Fällen war das möglich und wurde als großer Motivator empfunden.
Unsere Ergebnisse zeigen allerdings auch, dass Lesson Study sowohl an gut ausgestatteten Schulen als auch unter herausfordernden Bedingungen wie Lehrkräftemangel erfolgreich umgesetzt werden kann. An weniger gut ausgestatteten Schulen hängt der Erfolg jedoch oft von der Kreativität und dem Engagement der Beteiligten ab, die trotz schwieriger Rahmenbedingungen Wege finden, die Methode effektiv anzuwenden. Dadurch zeigt sich, dass Ressourcen zwar hilfreich, aber nicht allein ausschlaggebend sind. Ein zentraler Faktor ist auch die Unterstützung durch die Schulleitung.
Redaktion: Wie können Schulleitungen positiven Einfluss auf die Umsetzung von Lesson Study nehmen?
Vock: Schulleitungen spielen eine entscheidende Rolle für den Erfolg von Lesson Study. Zunächst sollten sie gut über die grundlegenden Gedanken des Modells informiert sein und die Arbeit mit der Methode aktiv unterstützen. Wertschätzung für die Lehrkräfte, die sich engagieren, ist dabei essenziell. Wichtig ist außerdem, die Teilnahme freiwillig zu gestalten und nicht zu erzwingen. In der Regel gibt es an jeder Schule ein paar Pioniere, die sich mit Begeisterung auf das Modell einlassen. Diese ersten Teams gilt es gezielt zu fördern und zu begleiten.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Planung von Kooperationszeiten. Wenn möglich, sollten Schulleitungen bereits bei der Stundenplangestaltung sicherstellen, dass das Lesson-Study-Team Zeit für gemeinsame Besprechungen hat, idealerweise während des Vormittags. Auch Überlegungen, wie die beteiligten Lehrkräfte entlastet werden können, sind hilfreich. Das kann bedeuten, andere Aufgaben zu reduzieren oder kleine zeitliche Freiräume zu schaffen. Zudem sollten Schulleitungen die Arbeit der Teams sichtbar machen, beispielsweise indem sie deren Ergebnisse in Konferenzen vorstellen lassen. Regelmäßige Rückfragen wie "Was braucht ihr? Wie können wir euch unterstützen?" signalisieren Interesse und fördern die Motivation.
Langfristig gilt es, Lesson Study nachhaltig in die Schulkultur zu integrieren. Kleine Teams sind anfällig, wenn Mitglieder durch Krankheit, Elternzeit oder Schulwechsel ausfallen. Deshalb sollten Schulleitungen frühzeitig darüber nachdenken, wie das Modell ausgeweitet werden kann. Das kann geschehen, indem weitere Kolleginnen und Kollegen eingeladen werden, zunächst als Beobachterinnen und Beobachter teilzunehmen, um später selbst Teil des Prozesses zu werden. Ziel sollte es sein, das ursprüngliche Team schrittweise zu vergrößern und mehrere Teams an der Schule zu etablieren, um die Methode dauerhaft zu verankern.
Redaktion: Gibt es typische Herausforderungen, die die Umsetzung von Lesson Study erschweren?
Vock: Eine der größten Herausforderungen ist die Öffnung des Unterrichts für Hospitationen. Viele Lehrkräfte empfinden dabei zunächst Unsicherheiten oder sogar Ängste. Deshalb empfehlen wir, dass die Teilnahme immer auf freiwilliger Basis erfolgt. Zudem sollten Lehrkräfte ihr Team selbst wählen können, idealerweise bestehend aus Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie gut zusammenarbeiten können. Zeit spielt dabei ebenfalls eine Rolle: Es ist wichtig, sich für die Einführung der Methode ausreichend Zeit zu nehmen – was natürlich eine erhebliche Herausforderung ist im derzeitigen schulischen Alltag. Anders als in Japan gibt es in deutschen Schulen keine vorgefertigten Strukturen für Lesson Study. Es braucht daher individuelle Ansätze, um Kooperationszeiten zu schaffen oder Hospitationen zu ermöglichen.
Ein weiterer Punkt ist die gemeinsame Planung der Unterrichtsstunden im Team. Dabei betonen wir immer, dass die Verantwortung für die Ergebnisse nicht allein bei der unterrichtenden Lehrkraft liegt, sondern beim gesamten Team. Diese Herangehensweise entlastet die Lehrkräfte erheblich. Der Fokus liegt dann bei der Unterrichtshospitation nicht auf der Lehrkraft, sondern vielmehr auf der Beobachtung der Schülerinnen und Schüler. Die systematische Beobachtung ermöglicht es, wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen, die im normalen Unterrichtsgeschehen oft übersehen werden. Für viele Lehrkräfte ist dies ein Aha-Erlebnis, da sie die Möglichkeit haben, sich intensiv auf das Verhalten einzelner Kinder zu konzentrieren.
Schließlich stellt auch die Wahl eines geeigneten Themas für Lesson Study eine Herausforderung dar. Es kann hilfreich sein, externe Moderation hinzuzuziehen, um den Teams bei der Themenfindung zu helfen. Diese Moderation kann etwa durch Landesinstitute oder Universitäten erfolgen, wie es in unserem Projekt der Fall war. Diese Unterstützung trägt dazu bei, den Prozess zu strukturieren und die Beteiligten auf Kurs zu halten.
Redaktion: Sie haben die Öffnung des Unterrichts als eine der großen Hürden angesprochen. Warum haben speziell deutsche Lehrkräfte hier offenbar besonders große Hemmungen?
Vock: Ich denke, viele der Hürden haben mit der Ausbildungszeit der Lehrkräfte zu tun. Oft wird die Beobachtung von Unterricht mit negativen Erfahrungen aus dem Referendariat assoziiert, als die Lehrkräfte ständig bewertet wurden. Das hinterlässt oft den Eindruck, dass Beobachtung immer mit Kritik oder Beurteilung einhergeht, was den Wunsch verstärkt, solche Situationen zu vermeiden. Diese Zurückhaltung ist verständlich, aber auch bedauerlich, da in vielen sozialen Berufen, die stark auf Interaktion basieren, der kollegiale Austausch und das Lernen voneinander eine wichtige Rolle spielen. Viele Lehrkräfte erleben das jedoch jahrelang nicht und entwickeln dadurch zusätzliche Ängste, wenn es darum geht, den eigenen Unterricht zu öffnen. Was wir beobachten konnten, ist, dass diese Ängste oft verschwinden, sobald der Prozess einmal begonnen hat. In Interviews haben Lehrkräfte berichtet, dass sie es viel weniger belastend fanden, als sie zunächst erwartet hatten.
Redaktion: Wo können Lehrkräfte und Schulleitungen, die sich für die Methode interessieren, mehr über den Ansatz und die praktische Umsetzung erfahren?
Vock: Für die praktische Anwendung haben wir speziell für Schulen in Deutschland ein Schritt-für-Schritt-Handbuch (Link hierzu unter diesem Interview, Anm. d. Red.) entwickelt, das Lehrkräfte durch den gesamten Prozess begleitet. Es enthält Materialien wie Protokollbögen und Vorlagen, die eine strukturierte Durchführung erleichtern. Zudem gibt es ein Brettspiel, das wir speziell für neugierige Lehrkräfte entwickelt haben. Das Spiel führt Teams spielerisch durch alle Phasen einer Lesson Study anhand eines realen Fallbeispiels. Lehrkräfte können so den Prozess im Team erleben, Quizfragen beantworten und Aufgaben lösen, um die Methode besser zu verstehen. Dabei entsteht nicht nur ein Verständnis für den Ablauf, sondern oft auch eine erste Teamdynamik, die später im echten Prozess nützlich ist.
Redaktion: Wie sieht der zeitliche Horizont aus, um Lesson Study wirksam einzusetzen?
Vock: Wir haben festgestellt, dass Lesson Study ein langfristiges Engagement erfordert. Nach ein bis zwei Durchgängen fühlen sich die Teams oft sicherer in der Methode und wachsen als Gruppe zusammen. Es braucht Zeit, um Vertrauen aufzubauen, den Unterricht für Kolleginnen und Kollegen zu öffnen und konstruktives Feedback zu geben. Diese Prozesse sind essentiell für den Erfolg der Methode.
Redaktion: Frau Professorin Vock, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Prof. Dr. Miriam Vock ist Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam. Sie ist Expertin für Hochbegabung und Begabungsförderung in der Schule und forscht darüber hinaus mit ihrem Team unter anderem zur professionellen Entwicklung von Lehrkräften. An der Universität Potsdam bildet sie zukünftige Lehrkräfte für die Sekundarstufe in den Bildungswissenschaften aus.