Wie Lehrkräfte im Team besseren Unterricht entwickeln können
Wie lässt sich im Lehrkräfteteam Unterricht effektiv weiterentwickeln und verbessern? Dazu liefert das Modell Lesson Study einen erfolgversprechenden Ansatz, wie TT-Prof. Dr. Britta Klopsch im Interview erklärt.
In Deutschland nehmen sich viele Lehrkräfte nach wie vor als Einzelkämpfer wahr. Modelle wie das der Lesson Study zeigen, wie Lehrkräfte zusammenarbeiten können, um gemeinsam nach besseren, effektiveren Unterrichtsmethoden zu forschen. TT-Prof. Dr. Britta Klopsch erläutert das erfolgreiche Kooperationsmodell im Interview.
Redaktion: Frau Professorin Klopsch, was ist die Grundidee von Lesson Study? Und was ist das Besondere an diesem Ansatz?
TT-Professorin Dr. Britta Klopsch: „Lesson Study“ bedeutet „den Unterricht beziehungsweise das Lehren erforschen“ und das ist auch die Grundidee des Vorgehens. Bei der Lesson Study steht das Schülerlernen im Vordergrund. Alles Handeln ist darauf ausgerichtet, Lernprozesse im Unterricht für alle Schüler:innen ertragreicher zu gestalten. Dazu wird Unterricht gemeinsam geplant, durchgeführt, analysiert und reflektiert. Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass die Aufgabe der Unterrichtsentwicklung nicht bei einer Lehrkraft alleine liegt, sondern von einer Gruppe von Lehrkräften bewältigt wird, die sich im Prozess selbst auch weiterentwickeln.
Redaktion: Was sind die wichtigsten Aspekte dieser Form von Lehrkräftekooperation?
Klopsch: Lesson Study unterliegt einem festgelegten Zyklus, der aus den drei übergreifenden Schritten „Planen“, „Unterrichten“ und „Reflektieren“ besteht. In der Planungsphase wird zunächst eine Forschungsfrage formuliert, die mit der Unterrichtsstunde beantwortet werden soll. Ein Beispiel wäre: „Wie kann der Anteil des Sprechens im Fremdsprachenunterricht bei Schüler:innen erhöht werden?“ Die Lehrkräfte recherchieren nun, wie dies möglich gemacht werden kann, greifen auf ihr Erfahrungswissen zurück und können (fach-)didaktische Expert:innen hinzuziehen. Danach wird gemeinsam eine optimale Unterrichtsstunde geplant. In Phase II unterrichtet eine der beteiligten Lehrkräfte die geplante Stunde, die anderen Lehrkräfte sind ebenfalls anwesend, beobachten einzelne Schüler:innen und notieren über die gesamte Unterrichtszeit deren Handeln. In Phase III werden diese Notizen systematisch ausgewertet und Aktivitätskurven erstellt. Wie haben sich die Lernenden über den Unterrichtsverlauf verhalten? Wann waren alle aktiv? Wann passiv? Was hat überrascht? Nach der Diskussion der erwarteten und unerwarteten Erkenntnisse können Handlungsempfehlungen für nächste Stunden beziehungsweise die Überarbeitung dieser Stunde formuliert werden.
„Insbesondere die Lernergebnisse der leistungsschwächeren Lernenden stiegen signifikant an, wodurch die Schere zwischen leistungsstarken und leistungsschwächeren Lernenden deutlich verringert werden konnte.“
TT-Professorin Dr. Britta Klopsch
Redaktion: Welche Wirkung hat Lesson Study? Welche empirischen Erkenntnisse wurden zu dieser Methode bisher gewonnen?
Klopsch: Es zeigen sich Wirkungen auf zwei Ebenen: dem Schülerlernen und der Professionalisierung der Lehrkräfte. Bei den Schüler:innen zeigt sich die Wirksamkeit in deren Lernprozessen und dem Lernzuwachs. In Vergleichsstudien zu Nicht-Lesson-Study-Klassen zeigten sich die Leistungen als qualitativ hochwertiger. Insbesondere die Lernergebnisse der leistungsschwächeren Lernenden stiegen signifikant an, wodurch die Schere zwischen leistungsstarken und leistungsschwächeren Lernenden deutlich verringert werden konnte. Bei den Lehrkräften zeigten sich Auswirkungen im Bereich des (fach-)didaktischen Wissens, des individuellen Handelns im Unterricht sowie im Bereich der Kooperationsbereitschaft und den entwickelten Strukturen.
Redaktion: Welche Stolpersteine sind bei der Implementation dieses Ansatzes zu beachten? Wo lauern die größten Herausforderungen?
Klopsch: Die größte Herausforderung liegt darin, dass Lehrkräfte sich tatsächlich öffnen. Einmal in persönlicher Hinsicht, um gemeinsam ehrliche und produktive Gespräche über Lernprozesse zu führen und einmal hinsichtlich ihres Unterrichts. Andere hineinschauen zu lassen, gemeinsam Unterricht durchzuführen und darüber zu reflektieren, immer mit dem Blick auf die Lernenden, das erfordert Übung und ganz zu Beginn auch den Mut, sich in einen fachlich-pädagogischen Austausch mit anderen zu begeben und eigenen Unterricht und seine Wirksamkeit gemeinsam kritisch zu hinterfragen. Natürlich braucht der gesamte Lesson Study Zyklus auch viel Zeit – dies wird von Lehrkräften aber oftmals nicht als große Einschränkung wahrgenommen, weil sie im Prozess vieles lernen, das sie für ihren Unterricht nutzen können.
Redaktion: Der Ansatz der Lesson Study kommt ursprünglich aus Japan. Welche Herausforderungen bringt die Übertragung dieser Idee in unseren Kulturraum mit sich? Gelingt dieser Transfer? Gibt es dazu empirische Erkenntnisse?
Klopsch: Interessanterweise verweist man in Japan als Ursprungsland der Grundidee von Lesson Study auf Deutschland. Die Bewertung von Unterricht während des Referendariats ist hier das Vorbild: Ausbildende an Seminaren beobachten den Unterricht der Lehramtsanwärter:innen und reflektieren mit ihnen; sie zeigen aber auch selbst Unterrichtsstunden, die dann gemeinsam analysiert werden. Bei dem Transfer der Lesson Study, wie sie in Japan weiterentwickelt wurde, finden wir also einfach Anknüpfungspunkte für das deutsche Schulsystem. Jetzt bedeutet dies nur, dass wir Lesson Study auch als ko-konstruktives Weiterbildungsformat im Berufsleben etablieren, das den Blick streng auf das Schülerlernen und nicht auf das Lehrkräftehandeln legt. In Deutschland sehen wir einige Schulen sehr produktiv mit Lesson Study arbeiten, auch wenn dies noch nicht flächendeckend systematisiert ist. Österreich ist uns da schon einen Schritt voraus. Dort arbeiten viele Pädagogische Hochschulen auf der Basis von Lesson Study, um es vom Studium an in den Berufsalltag einzuführen.
„Lehrkräfte müssen lernen, dass die Beobachtung einer Stunde nicht automatisch mit einer Bewertung ihrer Person einhergeht.“
TT-Professorin Dr. Britta Klopsch
Redaktion: Sie schrieben in einem Gastbeitrag mit Frau Prof. Anne Sliwka zu dem Thema “Aus deutscher Perspektive beeindruckt, dass japanische Lehrkräfte sich offenbar bereitwillig im Unterricht beobachten lassen.” Können Sie diesen Gedanken genauer ausführen? Warum ist die Beobachtung des Unterrichts in Deutschland für viele Lehrkräfte schwierig?
Klopsch: In Deutschland sind die Lehrkräfte so sozialisiert, dass in der Regel nur dann der Unterricht beobachtet wird, wenn eine Bewertung ansteht. Klassischerweise geschieht dies im Referendariat und auch bei der Verbeamtung oder bei Beurteilungen durch Schulleitungen. Der Fokus der Beobachtung sind dann immer die Lehrkraft und die Struktur und Orchestrierung des Unterrichts. Bei der Lesson Study wandelt sich der Blick: Das Lehrkräftehandeln rutscht in den Hintergrund. Interessant ist nun, was die Schüler:innen tun und wie deren Lernprozesse aussehen. Die Beobachtung und auch die Auswertung der Stunde geht auf die gemeinsame Einschätzung der Lernwirksamkeit des gemeinsam geplanten Unterrichts zurück. In Deutschland müssen wir diesen Blickwechsel noch trainieren, um bei der Beobachtung einer Stunde nicht in altbewährte Muster zu rutschen und die Lehrkraft zu beobachten. Und gleichzeitig müssen die Lehrkräfte lernen, dass die Beobachtung einer Stunde nicht automatisch mit einer Bewertung ihrer Person einhergeht. Gerade wenn Lehrkräfte zum ersten Mal eine Lesson Study durchführen erfordert dies Mut und Vertrauen in die Peer-Group.
Redaktion: Warum lohnt es sich für heute oftmals stark (über-)belastete Lehrkräfte, sich mit Lesson Study zu beschäftigen? Welche praktischen Chancen und Vorteile sehen Sie konkret in diesem Ansatz?
Klopsch: Der große Vorteil von Lesson Study liegt darin, dass Lehrkräfte gemeinsam das Schülerlernen verbessern, Innovationen in ihren Unterricht integrieren und somit aus der „Black Blox“ des Lernens eine „Glas Box“ werden lassen, das heißt, dass nachvollziehbar wird, wie Lernprozesse stattfinden und wie sie noch effektiver gestaltet werden können. Die Lehrkräfte werden bei dieser anspruchsvollen Aufgabe nicht alleine gelassen, sondern profitieren von dem Erfahrungsschatz und dem fachlichen wie pädagogischen Wissen in der Gruppe. Sie lernen gemeinsam und entwickeln so eine starke Peer-Gruppe, die auch durch Schwierigkeiten und Herausforderungen trägt. Das Berufsbild des „Einzelkämpfers“ wird so zum Teamplayer.
Redaktion: Frau Professorin Klopsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Britta Klopsch ist Tenure-Track-Professorin für Schulpädagogik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Als ausgebildete Lehrerin war sie zunächst fünf Jahre im Schuldienst, bevor sie in die Wissenschaft wechselte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der kooperativen Professionalität von Lehrkräften insbesondere durch Lesson Study, der Schulentwicklung sowie Deeper Learning.