Wie Schulen erfolgreich und wirkungsvoll Nachhaltigkeit in ihren Alltag integrieren
Mehr als ein weiteres Thema: Nachhaltigkeits- und Bildungsforscher Jorrit Holst erklärt im Interview, warum es sich lohnt, Nachhaltigkeit als Kompass für die gesamte Schule anzusehen

Welchen Effekt hat es, wenn Schulen sich in ihrem Alltag und in der Schulentwicklung an Nachhaltigkeit orientieren? Wie wirkt sich das auf Lehrkräfte und Schüler:innen aus? Dazu hat Forscher Jorrit Holst mit seinen Kollegen an der Freien Universität Berlin eine Studie durchgeführt. Über die Ergebnisse spricht er im Interview.
Redaktion: Herr Holst, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Nachhaltigkeit in der Bildung und betonen, dass es für eine gelingende Umsetzung wichtig ist, einen „Whole School Approach“ zu verfolgen. Was bedeutet das konkret?
Jorris Holst: Von „Whole School Approach“ spricht man, wenn Nachhaltigkeit in allen Bereichen des schulischen Handelns gelebt wird – vom Unterricht über das Management, den Partnerschaften in der Region bis zur demokratischen Schulentwicklung. Als Menschheit stehen wir in den nächsten 50, 100 Jahren vor enormen Herausforderungen: Es gibt die Klimakrise, Krisen der Demokratien, zunehmende massive soziale Ungleichheiten, um nur einige zu nennen. Das alles fordert uns heraus, Fragen von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit nicht mehr nur als ein weiteres Thema für einzelne Fächer zu betrachten. Nachhaltigkeit ist so vielmehr eine Art Kompass, eine Orientierung für das gesellschaftliche und eben auch schulische Handeln. Wir wissen aus der Bildungsforschung schon lange, dass Lernen nicht nur im Klassenzimmer passiert, sondern in der gesamten Alltagserfahrung. Im Englischen wird dazu gesagt: to walk the talk – also zu leben, was wir sagen.
Redaktion: Wie sieht so ein Whole School Approach konkret in der Schule aus?
Holst: Das beginnt schon bei der Steuerungskultur, also bei der Art und Weise, wie an einer Schule Entscheidungen getroffen werden, und wer daran wie mitwirkt. Wie werden beispielsweise die Schülerinnen und Schüler beteiligt, wenn Entscheidungen zum Klimaschutz getroffen oder eine Vision für die Schule der Zukunft entwickelt wird? Im Kern geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler über ihren Alltag an der Schule in die Lage versetzt werden, eine nachhaltigere Zukunft mitgestalten zu können. Wenn dies ernst genommen wird, kann Schule zu einem inspirierenden Raum werden, in dem Demokratie und Nachhaltigkeit greifbar werden. Das betrifft auch Bereiche wie die Kommunikation der Schule, etwa die Gestaltung der Website, das öffentliche Auftreten, oder die Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte.
Redaktion: Sie haben in Ihrer Studie die Wirkung alltäglich erlebter Nachhaltigkeit im Sinne eines Whole School Approaches genauer untersucht. Was war dabei Ihr Ansatz?
Holst: Zunächst haben wir uns gefragt, wie ein Whole School Approach, also gelebte Nachhaltigkeit in allen Bereichen der Schule, überhaupt gemessen werden kann. Da gibt es im Kern zwei Ansätze. Einerseits ist da alles, was konkret zählbar ist: die Klimabilanz, die Projekte, die durchgeführt wurden, oder die Möglichkeiten der Beteiligung von Schülerinnen- und Schülern. Aber mindestens genauso wichtig für das konkrete Lernen in der Schule ist die soziale Realität, also das, was die Menschen vor Ort in ihrem Alltag erleben und wahrnehmen. Dazu haben wir in einem umfangreichen Prozess ein Befragungsinstrument entwickelt, um die alltäglich erlebte Nachhaltigkeit und Nichtnachhaltigkeit an Schulen systematisch zu erfassen. Das haben wir dann bundesweit mit etwa 3000 jungen Menschen und Lehrenden aus allen Bundesländern erhoben.
„Wenn Nachhaltigkeit im Alltag von Schule erlebt wird, dann hat das substanzielle Effekte auf das Lernen von Schülerinnen und Schülern.“
Jorrit Holst
Redaktion: Was kam dabei heraus?
Holst: Es gab zwei wesentliche Ergebnisse. Erstens: Der Stand der tatsächlich erlebten Nachhaltigkeit im Schulalltag ist in Deutschland bundesweit noch ziemlich ausbaufähig. Wir sehen Bemühungen, aber wenn man sich die Gesamtverteilung anschaut, dann ist da noch sehr viel zu tun. Wir sehen aber auch – und das ist der zweite zentrale Punkt: Wenn Nachhaltigkeit im Alltag von Schule erlebt wird, dann hat das substanzielle Effekte auf das Lernen von Schülerinnen und Schülern. Kinder und Jugendliche, die einen Whole School Approach erleben, also die Umsetzung von Nachhaltigkeit auf vielerlei Ebenen, fühlen sich in starkem Maße motivierter und eher in die Lage versetzt, selbst einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten, Probleme wie die Klimakrise, Biodiversitätsprobleme oder soziale Ungleichheiten anzupacken. Darüber hinaus beschreiben sie ihr eigenes Handeln, nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb in ihrem Alltag, als nachhaltigkeitsorientierter.
Redaktion: Haben Sie die Ergebnisse Ihrer Studie überrascht?
Holst: Wir hatten auf Basis bisheriger Arbeiten eine gewisse Vorstellung, dass sich Zusammenhänge zwischen alltäglich erlebbarer Nachhaltigkeit in Schule und Faktoren wie Motivation, Verhalten und Selbstwirksamkeitserfahrung der Lernenden zeigen könnten. Aber dass diese Effekte in so einem starken Ausmaß vorliegen und erkennbar werden, das haben wir nicht erwartet. Während vergangene Studien oft Schulen mit und ohne Zertifikate verglichen haben und dabei häufig geringere Effekte sahen, zeigt die Studie, dass es weniger um erworbene Zertifikate bezüglich Nachhaltigkeit geht, sondern vielmehr darum, was tatsächlich an den Schulen passiert. Zertifikate sind also nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck: Sie können dabei helfen, Aktivitäten zu Klimaschutz, demokratischer Mitgestaltung oder sozialer Gerechtigkeit anzustoßen. Aber bildungswirksam wird es, wenn das Gestalten einer nachhaltigeren Entwicklung für die Menschen vor Ort tatsächlich erlebbar wird.
Redaktion: Können Sie zentrale Erfolgsfaktoren für Nachhaltigkeit an Schulen identifizieren?
Holst: Ich glaube, ganz wesentlich ist, dass Nachhaltigkeit nicht per se nur als Thema begriffen wird, sondern als eine Haltung. Eine Art von Zugang zu dem, was im Alltag an Schule gemacht wird. Also keine isolierte Zusatzaufgabe, sondern ein umfassender Blick auf Schule, eine Schulkultur, die sich dadurch auszeichnet, dass gemeinsam versucht wird, die Frage zu beantworten, wie wir zusammen zu einer sozialen oder ökologisch gerechteren Zukunft beitragen können. Wir arbeiten derzeit auch an einer Studie, bei der wir bundesweit repräsentativ mehr als 1300 Schulleitungen in Deutschland zu Rahmenbedingungen von Nachhaltigkeit in der Schulentwicklung befragt haben. Ein Ergebnis: Trotz teils immensen Mangels an Ressourcen im System, bei all den Herausforderungen, vor denen Schulen stehen, ist ein Whole School Approach möglich und wird in Ansätzen bereits heute an vielen Standorten gelebt. Dafür ist entscheidend – und das signalisieren uns die Schulleitungen – dass Nachhaltigkeit wirklich als Kernaufgabe von hochwertiger Bildung verstanden wird. Dafür braucht es Priorisierung in den Ministerien, bei den Schulträgern, aber natürlich auch bei den Schulen selbst. Von den Menschen in Schule ist Nachhaltigkeit jedenfalls stark gewollt: In unseren Studien sehen wir, dass sich Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulleitungen bundesweit einen deutlich stärkeren Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit in Schule wünschen.
Redaktion: Wie könnte so eine stärkere Konzentration auf Nachhaltigkeit in politischen und institutionellen Rahmenbedingungen aussehen?
Holst: Da geht es um Schulgesetze, Lehrpläne, Prüfungsaufgaben, da reden wir natürlich auch über die aktive Rolle der Schulträger – letztlich über all das, was explizit und implizit vorgibt, was in Schule wichtig ist und was nicht. Da geht es auch darum, dass beim notwendigen Abbau des Investitionsstaus eine Priorität darauf gelegt wird, Schulen als anregende Räume für Zukunftslernen auszugestalten. Aspekte wie die Gestaltung klimaneutraler Schulen und die Förderung sozio-emotionalen Lernens spielen hierbei eine wichtige Rolle. In Deutschland wurden in den letzten Jahren bereits Schritte gegangen, wir haben zum Beispiel deutliche Entwicklungen bei der Aufnahme von Bildung für nachhaltige Entwicklung in die Lehrpläne gesehen. Aber ehrlicherweise gehört zu Priorisierung auch die Frage: Was sollten wir möglicherweise auch bleiben lassen, weil es nicht unbedingt den Vorstellungen einer zukünftigen Bildung entspricht?
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Redaktion: Was meinen Sie damit konkret, was gehört Ihrer Meinung nach nicht mehr zur zeitgemäßen Bildung?
Holst: Ich nenne mal ein Beispiel, was aus meiner Sicht zumindest mit in die Diskussion gehört: Wir sehen in der bundesweiten Schulleitungsbefragung, dass 57 Prozent der Schulleitungen an Gymnasien einen enormen Leistungs- und Prüfungsdruck als große Hürde für Nachhaltigkeit in der Schule empfinden. Das führt uns zu der Frage, was eigentlich hochwertige Bildung ausmacht: Wolfgang Klafki hat hierzu einmal geschrieben, Allgemeinbildung solle Menschen in die Lage versetzen, die epochalen Schlüsselprobleme ihrer Zeit lösen zu können. Es geht in so einem Verständnis also um die Entwicklung des Individuums als mitgestaltungsfähiger Mensch in der modernen Gesellschaft – dafür braucht es Raum und Zeit. Die spezifischen Prioritäten zu setzen ist am Ende eine demokratisch-politische Aufgabe – in der wir als Forschende nur begleiten.
Redaktion: Was können erste Schritte sein für eine Schule, um sich mehr in Richtung Nachhaltigkeit zu entwickeln?
Holst: Eine gute Idee ist sicherlich, zuerst zu schauen, was bereits an der Schule getan wird. Welche Aktivitäten, welches Engagement ist schon da und wie kann dieses gestützt und weiter ausgebaut werden? Zum Beispiel, indem Teams gebildet werden, die sich mit weiteren Fragen der Nachhaltigkeit beschäftigen, indem Partner gefunden und eingebunden werden. Es kann hilfreich sein, sich zunächst eher schnell erreichbare Ziele vorzunehmen, Projekte zu organisieren, an denen die Idee der Nachhaltigkeit physisch sichtbar wird. Das kann eine klimafreundlichere Cafeteria sein oder die Gestaltung eines Zukunftsraums an der Schule. Es geht darum, konkrete Räume zu schaffen, an denen sich Engagement kristallisieren und weiterentwickeln kann. Dafür ist die Involvierung der Schulleitung ebenso entscheidend wie das Schaffen von Möglichkeiten für wirklich ernst gemeinte Partizipation auf Augenhöhe mit den Schülerinnen und Schülern. Wenn Schule ein Mikrokosmos für eine Gesellschaft sein soll, dann muss demokratische Mitgestaltung im Mittelpunkt stehen.
Redaktion: Was können Lehrkräfte und Schulleitungen konkret aus Ihrer Studie für ihren Alltag mitnehmen?
Holst: Wenn Lehrkräfte und Schulleitungen sich dafür einsetzen, dass sich in Schule ernsthaft und ehrlich mit Nachhaltigkeitsfragen auseinandergesetzt wird, dann ist das wichtig und wirkungsvoll. Insbesondere dann, wenn es gelingt, über das Denken in Fächergrenzen hinaus zu gehen und den Alltag von Schule, die Schulentwicklung als Ganzes in den Blick zu nehmen. Hinsichtlich der großen Gestaltungsaufgaben unserer Zeit ist wichtig: Die Verantwortungslast liegt bei den heute in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft handelnden Personen, nicht bei den jungen Menschen. Dennoch kann Schule einen wichtigen Beitrag dazu leisten, zukünftige Generationen in die Lage zu versetzen, aktiv mitgestalten zu können. Das kann heute schon für alle Beteiligten sinnstiftend sein, auch und gerade für die Lehrkräfte selbst.
Redaktion: Herr Holst, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Jorrit Holst ist Nachhaltigkeitswissenschaftler und forscht an der Freien Universität Berlin zu Fragen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit im Bildungssystem, aktuell unter anderem im Rahmen des Nationalen Monitorings zu Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in Deutschland.