Wie Stereotype Bildungsgerechtigkeit beeinträchtigen
Die Angst, negative Stereotype zu bestätigen, kann Bildungserfolg beeinträchtigen. Dr. Haliemah Mocevic erklärt das Phänomen und was Lehrkräfte dagegen tun können in ihrem Gastbeitrag.
Wer in der Schule für Geschlecht, Sprache oder Aussehen mit Vorurteilen konfrontiert wird, kann dadurch nicht nur im Selbstbewusstsein, sondern auch in kognitiven Ressourcen erheblich eingeschränkt werden. Das als „Stereotype Threat“ bekannte Phänomen und seine Auswirkungen beschreibt Dr. Haliemah Mocevic, Psychologin und Senior Scientist am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Salzburg in ihrem Gastbeitrag.
Haben Sie schon einmal erlebt, wie es sich anfühlt, wenn andere Menschen Ihre Fähigkeiten nur aufgrund Ihrer Herkunft, Ihres Geschlechts oder Ihrer Erstsprache anzweifeln? Dies kann ein belastendes Gefühl der Bedrohung erzeugen, das die eigene Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst. In der Psychologie sprechen wir von „Stereotype Threat“. Dieses Konzept beschreibt, wie die Angst, negative Stereotype zu bestätigen, das Leistungsvermögen beeinträchtigen kann.
Was ist Stereotype Threat?
Stereotype Threat tritt auf, wenn Menschen in Situationen geraten, in denen sie befürchten, aufgrund eines vorherrschenden negativen Stereotyps über ihre soziale Gruppe beurteilt zu werden. Diese Stereotypen sind weit verbreitet und oft so tief verankert, dass sie schon bei Kindern und Jugendlichen bekannt sind.
In den USA herrschen in den 90er-Jahren beispielsweise Stereotype vor, die afro-amerikanischen Hintergrund mit vermeintlich mangelnden intellektuellen Fähigkeiten verknüpfen, oder asiatische Herkunft mit einer vermeintlichen Begabung in Naturwissenschaften, insbesondere Mathematik.
Vor diesem Hintergrund ließen Steele und Aronson (1995) in ihren frühen Arbeiten weiße und afroamerikanische College-Studierende zu einem schwierigen Test antreten und gaben ihnen unterschiedliche Vorinformationen: In der Gruppe mit Stereotype-Threat-Bedingung betonten sie in der Instruktion, dass die Testung intellektuelle Fähigkeiten misst, in der Kontrollgruppe war die Anleitung neutral formuliert. In einer Reihe von Experimenten konnten sie zeigen, dass afroamerikanische Studierende schlechtere Testergebnisse erzielten, wenn das negative Stereotyp über ihre Gruppe aktiviert wurde. Ähnliche Befunde wurden auch bei anderen Gruppen, wie Frauen im Mathematikbereich oder älteren Menschen hinsichtlich ihrer Gedächtnisleistung, beobachtet.
Die Angst, das Stereotyp zu bestätigen und die Erschütterung des Selbstvertrauens führen dazu, dass kognitive Ressourcen reduziert werden, die bei der Bewältigung von Prüfungsaufgaben fehlen. Dies kann des Weiteren dazu führen, dass betroffene Personen Vermeidungsverhalten entwickeln, was auch langfristig ihre Bildungs- und Berufsziele negativ beeinträchtigt.
Auch im deutschsprachigen Raum gibt es Stereotype, die sich negativ auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund auswirken. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Bridging the Gap“ (Mocevic, 2023) wurde beispielsweise mit 467 Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe in einer quasi-experimentellen Studie festgestellt, dass die Konfrontation mit Stereotypen eine hemmende Wirkung auf die Prüfungsleistungen von Jugendlichen hat.
Bildungsgerechtigkeit durch gezielte psychologische Mini-Interventionen fördern
Wie können Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen diesen negativen Einflüssen entgegenwirken? Neben individuellen und strukturellen Faktoren, die für eine Förderung von Bildungsgerechtigkeit unerlässlich sind, spielt es auch eine wesentliche Rolle, wie Lernende den schulischen Kontext wahrnehmen. Hier kommen „weise Interventionen“ (Walton & Wilson, 2018) ins Spiel – punktuelle, oft unspektakuläre Strategien, die sich auf die subjektiven Interpretationen, das Mindset der Lernenden konzentrieren. Diese Interventionen zielen darauf ab, das Selbstwertgefühl der betroffenen Schülerinnen und Schüler zu stärken, gerade wenn sie subtile Bedrohungen erleben, und eine positive Leistungsmotivation zu fördern, trotz der widersprüchlichen Signale, die sie in Bildungsinstitutionen erhalten. Forschungsergebnisse zeigen, dass solche Interventionen oft nachhaltig wirken:
- Selbstaffirmation
In einer deutschen Studie (Lokhande & Müller, 2019) reflektierten Jugendliche der Mittelstufe schriftlich darüber, was ihnen im Leben wichtig ist. Diese einfache Selbstaffirmation führte zu einer signifikanten Reduzierung der Leistungsdifferenz zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in Mathematiktests.
- Growth Mindset
In Studien aus den USA (Blackwell, Trzesniewski & Dweck, 2007) lernten Schülerinnen und Schüler, ihr Gehirn als „trainierbaren Muskel“ zu betrachten, dessen Fähigkeiten durch Anstrengung und Beharrlichkeit verbessert werden können. Diese wachstumsorientierte Haltung (Growth Mindset) führte wiederholt zu besseren Mathematikleistungen und einer erhöhten Bereitschaft, sich Herausforderungen zu stellen.
- Weises Feedback
Eine Studie (Cohen et al., 1999) zeigte, dass Lernende aus benachteiligten Gruppen besonders gut auf Feedback reagieren, wenn ihnen einerseits hohe Erwartungen vermittelt, aber gleichzeitig auch sehr gute Fähigkeiten zugetraut werden.
Zentrale Motive hinter diesen Interventionen sind grundlegende psychologische Bedürfnisse, wie etwa das Bedürfnis nach Selbstintegrität – der Wunsch, sich selbst als „gut genug“ zu erleben, oder das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Dysfunktionale Überzeugungen, wie etwa „Die anderen denken, dass ich nicht auf diese Schule gehöre“, gefährden den Selbstwert der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Eine Reflexion der eigenen Stärken und Identitäten kann helfen, die eigene Adäquatheit zu bestätigen und dadurch das Selbstwertgefühl zu stärken. Indem eine positive Sichtweise auf das eigene Selbst und die eigenen Ressourcen aufrechterhalten wird, lassen sich subtile Barrieren auflösen.
Anregung für Lehrkräfte
Für Lehrkräfte bedeutet dies: Fördern Sie ein Umfeld, in dem möglichst alle ihre Schülerinnen und Schüler das Gefühl haben, sicher, geschätzt und unterstützt zu werden. Ermöglichen Sie es, dass psychologische Schlüsselfragen wie „Gehöre ich dazu?“ oder „Lohnt sich Anstrengung – auch für mich?“ von allen positiv beantwortet werden können. Indem Lehrkräfte eine positive Sichtweise auf das Selbst und die Ressourcen der Lernenden fördern, können sie subtile Barrieren auflösen und Bildungsgerechtigkeit stärken.