Wie verändert KI das Lernen und Lehren in der Schule?

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke erläutert im Interview seine Erwartungen an die bundesweite Fachtagung KI am 11. Oktober 2023 in Berlin

Wo stehen wir beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz, kurz KI, in unseren Schulen? Darüber sprechen namhafte Bildungsforscher auf einer bundesweiten Fachtagung in Berlin. Mitveranstalter Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke, Präsident des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung in Baden-Württemberg, sagt im Vorabinterview, warum es höchste Zeit ist, sich mit dem Thema grundlegend zu befassen.

Redaktion: Die Leitfrage der bundesweiten Fachtagung lautet: „Wie verändert KI das Lernen und Lehren in der Schule?“ Warum ist es aus Ihrer Sicht so wichtig, sich mit dieser Frage umgehend und umfassend zu beschäftigen?

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke: Die Antwort darauf könnte man mit dem bekannten Sprichwort formulieren: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Die Künstliche Intelligenz ist in der Welt. Und zwar nicht erst seit gestern. Sie wird auch nicht wieder verschwinden. Sie betrifft nicht nur irgendeinen Teilbereich unserer Gesellschaft, sondern alle Teile. Und zwar global. Insofern sind wir dazu gezwungen, uns zur KI in irgendeiner Weise zu verhalten. Eben auch im Bereich Lehren und Lernen. Aber KI sollte nicht nur mit einem Zwang in Verbindung gebracht werden. Seit dem PISA-Schock 2001 ist es kein Geheimnis, dass wir in Deutschland ein durchaus verbesserungswürdiges Bildungssystem haben. Gleichzeitig wissen wir, dass unser Wirtschaftsstandort ganz zentral von Bildung abhängig ist. Dennoch lassen wir es zu, dass ein nicht gerade kleiner Teil der Schülerinnen und Schüler einfach abgehängt wird. Dagegen wird noch deutlich zu wenig unternommen.

„Beim Lernen ist eine individuelle Betreuung zentral. Genau das ist die Stärke von KI in der Schule.“

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke

Ich spreche von der sogenannten Risikogruppe, die Probleme mit den basalen Kompetenzen Lesen, Schreiben, Sprechen und Rechnen vorweist. Hier sehe ich die große Chance von KI im Bildungsbereich. Durch empirische Bildungsforschung wissen wir mittlerweile um die Bedeutung von Adaptivität und Feedback für die Wirksamkeit des Unterrichts. Beim Lernen ist eine individuelle Betreuung zentral. Genau das ist die Stärke von KI in der Schule. Über ein intelligentes Tutorensystem ist es möglich, Rückmeldungen und Aufgabenstellungen noch besser an den jeweiligen Lernstand anzupassen. Das soll nicht heißen, dass Lehrkräfte durch ein solches Tutorensystem ersetzt werden sollen. Ganz im Gegenteil. Wir haben viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg, die gerne viel mehr für den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler tun wollen. Die zur Verfügung stehende Zeit lässt es jedoch nicht zu, sich mit jedem Lernenden intensiv zu beschäftigen. Diese Zeit bekommen unsere Lehrerinnen und Lehrer durch die KI.

Redaktion: Welche Aspekte des Themas sollen auf der Veranstaltung besonders beleuchtet werden und wen wollen Sie damit erreichen?

Riecke-Baulecke: Zentral ist, dass wir mit den Impulsen der Tagung am Ende ins Kerngeschäft von Schule vordringen und den Unterricht wirksamer mit Hilfe von KI gestalten können. Dieser Aspekt der Wirksamkeit von Unterricht steht deshalb auch im Vordergrund. Um diesen Aspekt drehen sich dann die anderen Bereiche, die im Schulbereich von KI betroffen sein werden.

„Wir müssen die Gefahren und Nebenwirkungen von KI im Blick haben, damit aus einem möglichen Segen kein Fluch wird.“

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke

KI verändert nicht nur den Unterricht, sondern auch die Ebenen darüber. Auf der Schulverwaltungsebene wird KI zum Beispiel mit Blick auf Data Analytics und Monitoring die Arbeit verändern. Aber alles im Hinblick darauf, was zum Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler beiträgt. Und vor allem mit Blick auf die letzten Ergebnisse von IQB oder IGLU: Wie bekommen wir es mit KI hin, das drängende Problem in Deutschland anzugehen, einen möglichst großen Teil der „Risikogruppe“ in Sachen Lesen, Schreiben und Rechnen wieder in die Spur des erfolgreichen Lernens zu bringen? Nichtdestotrotz ist es wichtig, kritische Argumente im Blick zu behalten, die von einer Verschärfung der Ungleichheit durch KI ausgehen. Wir müssen die Gefahren und Nebenwirkungen von KI im Blick haben, damit aus einem möglichen Segen kein Fluch wird.

Redaktion: Ist KI noch weitgehend Zukunftsmusik oder längst eine Herausforderung für die Gegenwart des Schulalltags?

Riecke-Baulecke: KI ist ja im Grunde kein neues Thema. Die bekannte erste Fachtagung zum Thema KI fand bereits im Jahr 1956 am Dartmouth College statt. Es gibt sogar soziologische Theorien, die sie weit früher verortet und sie mit einem wichtigen Aspekt von KI, nämlich der Statistik, im Rahmen der statistischen Erfassung von Bevölkerungsdaten im England des 17. Jahrhunderts beginnen lässt. KI ist insofern keine Zukunftsmusik, sie ist auch nicht nur eine Herausforderung für die Gegenwart, sondern sie hat bereits unsere Vergangenheit geprägt. Neu ist nur die öffentliche Aufmerksamkeit für KI durch ChatGPT. KI ist dadurch im Alltag der Menschen angekommen und hat sich natürlich auch mit Vehemenz in die Schule gedrängt. Auf der Tagung müssen wir deshalb zentrale Themen, wie beispielsweise die Prüfungsformate, aufgreifen. Es darf allerdings nicht beim Reden über KI bleiben, sondern der Blick in die Praxis mit KI und die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse wird entscheidend sein. In Baden-Württemberg hat das ZSL in Kooperation mit der Universität Tübingen und der aim-Akademie in Heilbronn bereits mit dem „Feedbook-Projekt“ reagiert. Ein intelligentes Buch für das Fach Englisch. Diesen Ansatz werden wir im ZSL weiterverfolgen und ausbauen.

Redaktion: Wo stehen die deutschen Schulen im internationalen Vergleich beim Einsatz von KI? Laufen wir einer Entwicklung hinterher oder sind wir up to date?

Riecke-Baulecke: Die Frage lässt sich einfach beantworten: Wir laufen hinterher. Es gab bereits 2016 mit einer bundesweiten Fachtagung gute Ansätze, das Thema KI in den Schulen anzugehen. Doch daraus ist wenig erfolgt. Woran das genau liegt, darüber lässt sich nur spekulieren. Ich war diesen Sommer in den USA. Hier ist mir wieder aufgefallen, wie schwer sich Deutschland mit flexiblen und schnellen Entscheidungen tut. Das liegt nicht zuletzt auch an einer ausufernden Bürokratie. Im Einzelfall mag jeder bürokratische Prozess seine Berechtigung haben. Aber mit dem Blick auf das gesamte System wirken hier so viele bürokratische Kräfte aufeinander, dass sie lähmend wirken. Wir müssen Prozesse beschleunigen und vereinfachen, ohne dabei den Datenschutz aufzugeben. Auch dabei kann die KI übrigens unterstützend wirken. Wendet man den Blick konkret in die Schulen, dann besteht hier die Herausforderung darin, die KI den Lehrerinnen und Lehrern als etwas Nützliches darzulegen. Etwas, das den Unterricht erleichtert und bereichert. Nicht etwas, das man nun neben den ganzen anderen Tätigkeiten auch noch machen muss. Wenn wir die Lehrerinnen und Lehrer in dieser Sache gewinnen können, haben wir bereits einen großen Schritt geschafft.

Redaktion: Letztlich geht es um die Frage, ob und wie sich mit KI die Qualität des Schulunterrichts verbessern lässt. Also um ein Kernanliegen des ZSL. Welchen Stellenwert hat dort das Thema KI und welche konkrete Unterstützung bietet das ZSL den relevanten Akteuren in den Schulen?

Riecke-Baulecke: Am ZSL haben wir im Sommer eine KI-Tagung mit vielen Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Wissenschaft und Pädagogik durchgeführt. Wir haben versucht, das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Mir ist ein Vortrag von Frau Professor Dr. Tina Seufert von der Universität Ulm in Erinnerung, in dem sie den Begriff der „KI-Kompetenz“ beschrieben und stark gemacht hat. Um genau das wird es uns am ZSL gehen: Wir wollen neben einem technischen Verständnis der Grundkonzeption von KI und der Anwendung von Tools vor allem eine KI-Kompetenz bei den Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften fördern.

„Der Schlüssel zur Multiplikation von KI-Kompetenz besteht zweifellos in der Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer.“

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke

Interessant an diesem Ansatz zur KI-Kompetenz ist vor allem, dass sie der Bildung eines Vorwissens über die Welt bei den Schülerinnen und Schülern große Bedeutung beimisst. Das menschliche Gedächtnis verarbeitet demgemäß Informationen, indem es die Sinnesdaten mit dem bereits gewonnenen Vorwissen überprüft. Dieses Vorwissen über die Welt, das in der Schule ausgebildet werden sollte, stellt insofern eine entscheidende kritische Instanz zur Überprüfung und Begleitung von KI dar. Der Schlüssel zur Multiplikation von KI-Kompetenz besteht zweifellos in der Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer. Aber da sind wir sehr optimistisch, dass dieses Fortbildungsangebot angenommen wird. Wir hatten im letzten Jahr ein Rekordergebnis, was die Fortbildungszahlen in Baden-Württemberg betrifft. Zugleich bemerken wir, dass von Seiten der Lehrerschaft ein großes Interesse an KI besteht. Das liegt sicher daran, dass KI bereits durch den Alltag, vor allem durch ChatGPT, eine spürbare Herausforderung für die Lehrerschaft darstellt.

Redaktion: Wie jede Technik birgt auch der Einsatz von KI Chancen und Risiken. Mit Blick auf den Bildungsbereich: Was überwiegt aus Ihrer Sicht und warum?

Riecke-Baulecke: Ganz klar überwiegen die Chancen. Alleine schon die Prognose, dass sich in den nächsten Jahren mehr als eine Milliarde Menschen vor dem Hintergrund der KI-Entwicklung beruflich neu qualifizieren müssen, macht die Herausforderung, aber vor allem die Chance für das Bildungssystem deutlich. Wenn man sich den Gedanken aus der Khan Academy anschaut, dass in Zukunft jede Lehrkraft ein intelligentes Tutorensystem an die Hand bekommen soll und jeder Lernende ebenso durch eine KI unterstützt werden könnte, dann bietet sich uns die Möglichkeit, genau das umzusetzen, was die empirische Bildungsforschung als „wirksamen Unterricht“ bezeichnet. Individuell zugeschnittene und kognitiv herausfordernde Aufgaben, bei denen man nicht alleine gelassen wird, sondern die mit Hilfe einer KI und der Lehrkraft erarbeitet werden können. Die Lehrkräfte werden dabei nicht ersetzt. Nein, sie können sich sogar auf zentrale Bereiche konzentrieren, die für das Lernen wichtig sind. Dazu gehört vor allem auch die zwischenmenschliche Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern. Die Lehrerschaft wird künftig im Unterricht beispielsweise viel mehr Zeit haben, Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.

„KI ist in der Welt und wir sind dazu gezwungen, uns in ein Verhältnis zur KI zu setzen.“

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke

Natürlich darf man bei alldem die Risiken nicht aus dem Blickfeld verlieren. Ich denke da in der Schule zunächst an das Problem der Prüfungsformate, die in Zukunft vielleicht mehr auf Mündlichkeit ausgerichtet werden müssen. Aber auch an die verzerrenden „biases“ durch einseitige KI-Trainingsdaten, die zur Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen führen. Oder an die „Clickworker“, die im „globalen Süden“ in einem Ausbeutungsverhältnis arbeiten. Auch die Umweltproblematik oder der Datenschutz stellen ein Problem dar. Aber all diese Probleme werden wir nicht lösen, indem wir KI einfach ignorieren oder bürokratisch kleinarbeiten. KI ist in der Welt und wir sind dazu gezwungen, uns in ein Verhältnis zur KI zu setzen. Wir benötigen dazu eine positive Zukunftsvision, mit der wir positive Ziele insbesondere mit Blick auf Bildung und Teilhabe formulieren. An diesen Zielen müssen wir uns messen lassen.

Redaktion: Die bundesweite Fachtagung in Berlin will alle Facetten dieses wichtigen Themas unter die Lupe nehmen. Wie würden Sie den folgenden Satz ergänzen? „Diese Veranstaltung wäre für mich ein Erfolg, wenn sie …

Riecke-Baulecke: … eine gemeinsame positive Zukunftsvision und ein klar formuliertes Ziel entwickelt, an der sich alle beteiligten Akteure im Hinblick auf die Entwicklung von KI in der Schule messen lassen wollen.

Zum Abschluss möchte ich Herrn Dr. Nikolai Häußermann aus dem Studiengang Schulmanagement & Leadership danken, der für dieses Interview wertvolle Impulse gegeben hat.

Redaktion: Herr Professor Riecke-Baulecke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke ist Präsident des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) in Baden-Württemberg. Zuvor hat er unter anderem das schleswig-holsteinische Institut für Qualitätsentwicklung aufgebaut und 15 Jahre lang geleitet. Von 2002 bis 2021 war er zudem Herausgeber der Zeitschriften schulmanagement und des Schulmanagement-Handbuchs.