„Wir brauchen zügig gezielte, empirisch bewährte Fördermaßnahmen”

Prof. Nele McElvany über den Absturz der Lesekompetenz bei Viertklässler/-innen und was dagegen zu tun ist

Die Fähigkeit zu lesen hat bei Viertklässlern und Viertklässlerinnen in Deutschland stark abgenommen. Zu diesem Ergebnis kommt  eine repräsentative Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund (IFS). Die Leiterin der Studie, Prof. Dr. Nele McElvany, erläutert  im Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement die Ergebnisse der Untersuchung und gibt Hinweise wie die Lernrückstände  am besten aufgeholt werden können.

Redaktion: Frau Prof. McElvany, Ihre Studie zur Lesefähigkeit von Viertklässlern erregt deutschlandweit Aufsehen. Sie bescheinigt Viertklässlern eine „wesentlich geringere Lesekompetenz" als noch vor fünf Jahren. In der Studie werden die Resultate „alarmierend" genannt. Welche Aspekte Ihrer Ergebnisse sehen Sie mit besonderer Besorgnis?

Prof. Dr. Nele McElvany: Das mittlere Lesekompetenzniveau ist sicherlich besonders alarmierend. Nicht nur, dass es niedriger ausfällt, sondern auch in welchem Maße es abgefallen ist. Ein Absturz um 20 Punkte entspricht etwa einem halben schulischen Lernjahr. Man kann sich andere Trendentwicklungen etwa bei IGLU (die internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, Anm. d. Red.) anschauen, die gibt es seit 2001 alle fünf Jahre. Auch da schwanken die Ergebnisse immer mal wieder ein bisschen. Aber in dieser Größenordnung ist ein Abfall noch nicht dagewesen. Das ist sicherlich auf die Besonderheiten der letzten Jahre zurückzuführen. Wir sehen zudem, dass der Rückgang alle SchülerInnen-Gruppen betrifft, wir haben weniger sehr gute und gute Lesende und gleichzeitig mehr schwache und sehr schwache. Und gerade bei den Leistungsschwächeren ist zu beachten, dass es hier um sehr basale Lesefähigkeiten geht: einzelne Informationen aus den Texten entnehmen, verstreute Informationen aus den Texten zusammenführen. Wenn man das nicht kann, hat man in allen nächsten Schritten des schulischen Lernens in allen Fächern absehbar Probleme. Von den folgenden Stationen wie Ausbildung und Beruf mal ganz abgesehen. 

Redaktion: Die Bundesregierung hat im Sommer 2021 zwei Milliarden Euro in die Hand genommen für das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche". Wie bewerten sie die dort angeschobenen Maßnahmen? Können die einen Teil der von Ihnen festgestellten Defizite einfangen?

McElvany: Man muss zunächst klar sagen, unsere Daten sind im Juni 2021 erhoben worden, das heißt bevor dieses große Bundesprogramm begonnen hat. Wir können also zu dessen Wirksamkeit nichts sagen. Aber ganz grundsätzlich ist zu wünschen, wenn zwei Milliarden in eine Fördermaßnahme fließen, dass man sich über die Evaluation wirklich gute Gedanken macht. Ohne diese systematische Überprüfung lässt sich momentan schwer beurteilen, wie wirksam das Programm sein wird. Zumal die Maßnahmen sehr heterogen sind: In den Ländern gibt es unterschiedliche Ansätze, teilweise unterscheiden sich die Maßnahmen bis hinunter auf die Schulebene. Was ich bisher gesehen habe, ist in vielen Fällen wenig auf die Schlüsselkompetenzen bezogen. Dabei kennen wir gerade für das Lesen aus der Forschung einige wirksame Förderansätze. Und bei so drastischen Ergebnissen, wie wir sie jetzt festgestellt haben, sollte man möglichst zügig auf solche gezielten, bereits empirisch bewährten Fördermaßnahmen setzen und die Kinder damit ganz konkret fördern.  

Redaktion: Können Sie diese Maßnahmen noch etwas genauer beschreiben? Wo sehen sie Lösungsansätze, um den nun in Rückstand geratenen Schülerinnen und Schülern tatsächlich zu helfen?

McElvany: Wir müssen sowohl in den Grundschulen wie in den weiterführenden Schulen ansetzen. Unsere Studie hat sich auf die vierten Klassen bezogen, diese Kinder sind aber inzwischen in der fünften Klasse, das heißt in 14 von 16 Bundesländern sind sie damit nun auf weiterführenden Schulen angekommen, so dass es nichts nützen würde, wenn Leseförderung nur an den Grundschulen intensiviert würde. Gleichwohl muss natürlich auch dort intensiv gefördert werden. Und da wir die abgesunkenen Lesekompetenzen sowohl im oberen wie im unteren Leistungsbereich sehen, muss eine Förderung umfassend und zugleich zielgruppenspezifisch sein. So geht es bei einigen Kindern vor allem darum, im Unterricht Lesestrategien zu vermitteln. Dafür brauche ich die ausgebildete Deutsch-Lehrkraft, die diese Lesestrategien kennt und mit den Kindern einüben kann. Im unteren Leistungsbereich sind wir noch einige Schritte vom Verstehen entfernt. Hier geht es erst einmal darum, Leseprozesse zu automatisieren. Wenn Kinder in diesem Alter Probleme mit dem Lesen haben, dann betrifft das noch gar nicht die Verständnisebene. In dieser Phase des Lernens fokussieren sie ihre kognitiven Ressourcen darauf, aus den Buchstaben, die sie vor sich sehen, Laute zu formen und diese zu Worten zusammen zu ziehen und daraus Sätze zu formen. Das ist eine Frage von wiederholtem Üben. Erst wenn diese basalen Leseprozesse automatisiert ablaufen, können die Kinder sich überhaupt mit dem Verständnis dessen, was sie da lesen, beschäftigen. Das heißt, der eine Ansatz – alle üben das Gleiche – wird uns wenig helfen, stattdessen muss man genau schauen, wen man gerade fördern will.

Redaktion: Die Ergebnisse Ihrer Studie sind zumindest mutmaßlich zu großen Teilen der Corona-Pandemie geschuldet. Dabei bilden sie erst einen Zwischenstand nach einem Jahr ab. Müssen wir uns auf noch drastischere Lernrückstände in den nächsten Untersuchungen einstellen? Und gibt es mit Blick auf die Lesefähigkeit von GrundschülerInnen Möglichkeiten vorbeugend etwas gegen weitere Pandemiefolgen zu tun? 

McElvany: Wenn man heute die derzeitigen Viertklässler untersuchen würde, hätten die bereits zwei Jahre der Einschränkungen durch Corona hinter sich und es ist zu befürchten, dass wir tatsächlich noch größere Rückstände finden würden. Das betrifft auch die noch jüngeren, nachrückenden Klassen, also Schülerinnen und Schüler, die in der Zeit, in der sie anfangen sollten, lesen zu lernen, nicht in der Präsenzschule gewesen sind und keine Anleitung bekommen haben. Ich würde daher davon ausgehen, dass dies ein Thema ist, was uns noch länger beschäftigen wird. Wenn die digitalen Medien in den Grundschulen etablierter wären, als sie es zu Beginn der Corona-Pandemie waren, dann hätte man natürlich auch mehr Möglichkeiten, Kinder anzuleiten und zu fördern, etwa mit digitalen Leseförderprogrammen, Verständnisaufgaben oder Wortschatzübungen. Da wäre vieles möglich, was auch von zu Hause aus und im individuellen Lernen geschehen kann, bei dem keine Klassenlehrkraft danebensteht. Aber das muss man natürlich gut vorbereiten und dabei beachten, dass  GrundschülerInnen diesbezüglich sicherlich mehr Probleme haben als die Kinder an weiterführenden Schulen, die schon besser selbstständig lernen und mit digitalen Medien umgehen können.

Redaktion: Frau Professorin McElvany, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Nele McElvany ist seit 2014 die geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund und leitet dort die Arbeitsgruppe „Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Lehren und Lernen im schulischen Kontext“. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen empirische Bildungsforschung im schulischen Kontext, Kompetenzen von Lehrkräften und Unterrichtsqualität, Determinanten, Entwicklung und Förderung von Schriftsprachkompetenzen, Bildung und Migration sowie pädagogisch-psychologische Diagnostik und Evaluation.