"Wir werden mit einem gewissen Lehrkräftemangel klarkommen müssen."
Professor Klaus Klemm spricht im Interview über die Ursachen der fehlenden Fachkräfte in den Schulen und welche Maßnahmen jetzt noch denkbar sind
Der Mangel an Lehrkräften bereitet schon jetzt vielen Schulen Probleme. Im kommenden Jahrzehnt werden sie sich jedoch noch massiv verschärfen. Laut den Berechnungen des Bildungsexperten Professor Klaus Klemm fällt die zu erwartende Lücke noch viel größer als, als sie von der Kultusministerkonferenz derzeit kalkuliert wird. Warum das so ist und welche Lösungsansätze jetzt noch helfen könnten, erläutert der Fachmann im Interview.
Redaktion: Herr Professor Klemm, Anfang des Jahres und dann nochmals im März haben Sie mit Ihrer Berechnung im Auftrag des Verbands für Bildung und Erziehung dargelegt, dass die tatsächliche Lücke im Bedarf an Lehrkräften weitaus größer sein wird als von der Kultusministerkonferenz angenommen. Während die KMK von etwa 24.000 fehlenden Lehrkräften bis 2035 ausgeht, sehen sie eine Lücke von mindestens 127.000. Wie kommt es zu so unterschiedlichen Einschätzungen?
Prof. Klaus Klemm: Ich habe kein Problem mit dem kalkulierten Bedarf der KMK, hier kann man durchaus gewünschte Reformvorhaben einbeziehen. Aber ich habe ein Problem mit der Angebotsprognose. Die Annahme, man habe 478.000 Lehrkräfte zur Verfügung, ist schlicht unseriös. Da wurden zum Teil abenteuerliche Angebotsberechnungen angestellt. Nehmen wir etwa das Lehramt für die Sekundarstufe eins ohne die Gymnasiallehrämter in Nordrhein-Westfalen: Wir haben hier für 2021 ein Lehrkraftsangebot von 1082 – und diese Zahl wird in der KMK-Berechnung für Nordrhein-Westfalen bis 2035 einfach Jahr für Jahr fortgeschrieben. Auch andere Länder wie Thüringen und Schleswig-Holstein haben den augenblicklichen Angebotswert einfach gleichbleibend angesetzt. Dabei ist es eine Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel allein von 2025 bis 2026 die Anzahl von Absolventen mit allgemeiner Hochschulreife von 80.000 auf 36.000 sinkt – durch die Wiedereinführung von G9 fehlt hier ein ganzer Jahrgang. Solche Entwicklungen werden überhaupt nicht berücksichtigt. Und das führt zu erheblichen Mängeln in den Kalkulationen der Bundesländer.
Redaktion: Wie war die Reaktion der Politik auf Ihre Berechnungen?
Klemm: Die Reaktion war ehrlicherweise unglaublich. Ich begleite das Thema ja schon sehr lange, 1976 habe ich bereits ein Buch zur Klassenlehrerschwemme geschrieben. Und obwohl das Thema auch dieses Mal groß in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, habe ich keinerlei Reaktionen aus der Politik bekommen. Die fundamentale Kritik an der Angebotsprognostik ist von der KMK nicht kommentiert worden und sie ist erstaunlicherweise auch im Nationalen Bildungsbericht 2022 nicht präsent. Damit fehlt dieser kritische Blick auch bei den Überlegungen, was man denn nun gegen den erheblichen Fachkräftemangel tun kann, der deutlich höher ausfallen wird als 30.000 fehlende Lehrerinnen und Lehrer. Ich habe für ein solch irrationales Verhalten keine Erklärung.
„Die Reaktion der Politik war ehrlicherweise unglaublich.“
Prof. Klaus Klemm
Redaktion: Sie haben in Ihrer Forschung mehrfach darauf hingewiesen, dass es seit Jahrzehnten in Deutschland einen versetzten Zyklus gibt zwischen demographischer Entwicklung und den Entscheidungen der studienberechtigten jungen Menschen, der immer wieder zu Mangel und Überschuss auf dem Arbeitsmarkt für Lehrkräfte führt. Ist dieses Problem also im Kern gar nicht in den Griff zu bekommen?
Klemm: Es ist in der Tat so, dass wir durch die Ausbildung – Bachelor, Master und Referendariat – immer einen Vorlauf von etwa sieben Jahren brauchen. Wenn man also 2022 eine bestimmte Anzahl von Lehrkräften für die Grundschule benötigt, müsste man dafür eigentlich 2014 die Weichen gestellt haben. Und wenn in der Zeit, in der man diese Weichen stellt, sich demographische Grunddaten ändern, hat man ein Problem. 2011 hatten wir in Deutschland 663.000 Geburten, 2016 waren es 792.000, also innerhalb von fünf Jahren etwa 130.000 Geburten mehr pro Jahr. Das ist ein gigantischer zusätzlicher Bedarf an Lehrkräften. Dazu kam dann in der gleichen Phase in Deutschland eine enorme Steigerung der Zuwanderung von einem Plus von 279.000 in 2011 auf 1,139 Millionen in 2015 – das sind Menschen, die natürlich auch Kinder mitbringen und kriegen. Um also 2022 nicht diese Probleme zu haben, die wir jetzt haben, hätten wir 2014/15 die Lehrerausbildung massiv hochfahren müssen. Das haben wir nicht gemacht.
Redaktion: Solche Entwicklungen sind ja auch nicht unbedingt leicht vorauszusehen.
Klemm: Dass sich die demographischen Rahmendaten ändern, kann man der Politik nicht anlasten. Allerdings muss man hier erwähnen, dass die Kultusministerkonferenz damals lange Zeit mit einer Bedarfsprognose für Lehrkräfte von 2012 gearbeitet hat. Für den Grundschulverband habe ich 2016 ein Gutachten erstellt, in dem ich darauf hingewiesen habe, dass ein Lehrkräftemangel kommt. Hätte man damals darauf reagiert, hätte man heute eine entspanntere Situation. Es wurde vielerorts zu spät reagiert. Noch vor zwei, drei Jahren brauchte man, um Grundschullehramt in Münster zu studieren, einen Abiturdurchschnitt von 1,7. Insgesamt haben in Nordrhein-Westfalen tausende junger Menschen, die Grundschullehrkräfte werden wollten, vor den Hochschultüren gestanden und man hat sie nicht reingelassen.
„Ich sehe konkret nur wenig Möglichkeiten, den anstehenden Mangel zu bewältigen.“
Prof. Klaus Klemm
Redaktion: Wenn Sie in der Position wären, heute Maßnahmen einzuleiten, um die enorme Lücke bei den Lehrkräften zu schließen: Was würden Sie tun?
Klemm: Ich sehe konkret nur wenig Möglichkeiten, den anstehenden Mangel zu bewältigen, aber es gibt ein paar Dinge, die wir machen können, um ihn zu reduzieren, auch wenn die Mittel hier schnell ausgereizt sind.
Erstens kann man versuchen, den Eintritt in die Pensionsphase bei älteren Lehrkräften auf freiwilliger Basis durch Anreize nach hinten zu verschieben. Das ist ein Hebel, der aber nur begrenzt etwas bewirken wird.
Zweitens: Für Lehrkräfte, die in Teilzeit beschäftigt sind, sollte man Möglichkeiten und Anreize schaffen, so dass diese Lehrerinnen und Lehrer die Anzahl ihrer Arbeitsstunden erhöhen können. Was ich in diesem Zusammenhang schon öfters vorgeschlagen habe: Schulträger sollten besonders für Lehrer:innen im Schuldienst, die ihre Teilzeitstunden aufstocken wollen, Betriebskindergärten und Krippenplätze anbieten, wie das auch in vielen guten Unternehmen üblich ist. Damit wird garantiert, dass die Kinder der Lehrkräfte während der Arbeitszeit in qualitativ guten Einrichtungen betreut sind. Ähnliche Angebote könnte es auch im Ganztagsbereich geben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass man darüber noch zusätzliche Ressourcen auftun könnte.
Drittens: Es gab in den 90er-Jahren die sogenannten Vorgriffsstunden. Da mussten Lehrer in Nordrhein-Westfalen in der Altersgruppe 35 bis 50 einige Jahre eine Stunde pro Woche mehr arbeiten – unter der Garantie, dass sie diese Stunden in zehn Jahren zurückbekommen, wenn dann der Lehrkräftemangel durch ausgleichende Kapazitäten behoben worden ist. Das hat gut funktioniert, ich würde das heute allerdings etwas anders organisieren. Ich würde den Lehrkräften sagen: Wenn ihr heute mehr arbeitet als ihr müsst, dann könnt ihr die Stunden auf ein Arbeitszeitkonto einzahlen. Und etwa ab Lebensalter 55 könnt ihr aus diesem Arbeitszeitkonto eure wöchentlichen Pflichtstunden entsprechend reduzieren – oder ihr könnt Sabbatmonate oder ein Sabbatjahr in Anspruch nehmen. Die Botschaft ist: Wenn ihr euch jetzt im Stande seht, mehr zu arbeiten, dann könnt ihr zu einem späteren Zeitpunkt weniger arbeiten.
„Es gibt bereits erste Anzeichen dafür, dass der Markt für Seiteneinsteiger weitgehend leergeräumt ist. “
Prof. Klaus Klemm
Redaktion: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das Thema Quer- bzw. Seiteneinsteiger bei der Bekämpfung des Lehrkräftemangels?
Klemm: Das Thema Seiteneinsteiger wird uns noch lange Zeit beschäftigen: In den vergangenen drei Jahren waren im Schnitt zehn Prozent der Neueinstellungen bei den Lehrkräften Seiteneinsteiger. Es gibt aber bereits erste Anzeichen dafür, dass der Markt für Seiteneinsteiger weitgehend leergeräumt ist. Wir haben zudem das Problem, dass Seiteneinsteiger vor allem in sozialen Brennpunkten und “schwierigen” Schulen eingesetzt werden und die ausgebildeten, erfahrenen Lehrerinnen und Lehrer in den vermeintlich “einfacheren” Schulen arbeiten. Hier müsste man Regelungen finden, um einen Ausgleich herzustellen.
Redaktion: In welchen Lösungsansätzen sehen Sie das größte Potential?
Klemm: Ich denke, dass wir uns bei der Quote der Quereinsteiger nicht viel weiter steigern können. Bei der attraktiveren Gestaltung der Teilzeit und Möglichkeiten über ein Arbeitszeitkonto zusätzliche Stunden zu generieren, sehe ich durchaus noch Potential. Dennoch sehe ich insgesamt eine Phase auf uns zukommen, in der wir in hohem Umfang mit einem gewissen Lehrkräftemangel klarkommen müssen.
Redaktion: Kann man den Beruf der Lehrkraft über bessere Bezahlung noch attraktiver machen?
Klemm: Ohne mich dazu äußern zu wollen, ob der Lehrer:innen-Beruf angemessen bezahlt wird: Mit Gehaltssteigerungen ist nur schwer etwas zu bewirken. Wir sehen ja etwa im Gymnasialbereich, dass wir da gar kein Problem haben, genug Lehrkräfte zu finden. Nur wenn man die Fächer betrachtet, insbesondere den MINT-Bereich: Da findet man einen großen Mangel. Und wenn sie hier – um mal ein Extrembeispiel zu nehmen – Informatiker:innen finanziell ein konkurrenzfähiges Angebot zur freien Wirtschaft machen wollen, um diese in die Schule zu bekommen, dann explodieren sämtliche Personalkosten. Mit dem Hebel Gehalt lässt sich also nicht viel bewegen.
Redaktion: Gibt es sonst noch Hebel, die mehr bewirken würden? Sehen Sie Bereiche, bei denen es sich lohnt, nochmals genauer hinzuschauen?
Klemm: Wir haben recht hohe Verluste bei den Übergängen vom abgeschlossenen Examen ins Referendariat sowie vom abgeschlossenen Referendariat in die Schule. Allerdings gibt es jenseits von einzelnen Berichten über einen gewissen Schwund hier leider keine belastbaren Daten. Dies wäre eine guter Ansatz für die Forschung, genauere Daten darüber zu erheben, wie viele ausgebildete Lehrkräfte nicht weiter in den Beruf gehen und welche Motive dahinterstehen. Gegebenenfalls müsste man hier etwa mit besseren Beratungsangeboten nachsteuern.
Redaktion: Herr Professor Klemm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Klaus Klemm ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen. Er war Mitglied mehrerer Sachverständigenkommissionen, darunter der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ‚Zukünftige Bildungspolitik‘ (1988–1990), des von der Bundesregierung und den Länderregierungen gemeinsam berufenen Forum Bildung (1999–2001), im wissenschaftlichen Beirat der PISA-Studien (bis Ende 2006) sowie im Beirat für die deutsche Bildungsberichterstattung (bis 2008) sowie im Expertenkreis ‚Inklusive Bildung‘ der Deutschen UNESCO-Kommission (seit 2010). Klemms Arbeitsschwerpunkt liegt auf den Gebieten empirische Bildungsforschung, Bildungsplanung und Bildungsfinanzierung sowie Inklusion. Klemm ist Mitglied der SPD, die er in schulpolitischen Fragen berät und deren bildungspolitischen Kurs er mitgeprägt hat.