„Wirtschaft ist das Nebenfach unter den Nebenfächern”
Prof. Dirk Loerwald erklärt im Interview, warum es mehr ökonomische Bildung in der Schule braucht – und wie das erreicht werden kann.
Wissen über Wirtschaft ist essentiell für ein selbstbestimmtes Leben, findet Dirk Loerwald, Professor für ökonomische Bildung an der Universität Oldenburg. Doch an Deutschlands Schulen wird die wichtige Kompetenz unzureichend vermittelt. Warum das so ist und wie sich das ändern könnte, darüber spricht der Experte im Interview.
Redaktion: Herr Professor Loerwald, warum spielt ökonomische Bildung an deutschen Schulen kaum eine Rolle? Und warum sollte sich das Ihrer Meinung nach ändern?
Prof. Dr. Dirk Loerwald: Ökonomische Bildung wurde viele Jahrzehnte lang als Spezialbildung verstanden. Sie galt als Bestandteil der beruflichen Bildung. In den allgemeinbildenden Schulen – vor allem in den Gymnasien – wurde ihr keine Beachtung geschenkt. Dies konnte insbesondere mit einem speziell neuhumanistischen Bildungsverständnis in Deutschland erklärt werden, nach dem das Nützliche in diesen Schulformen keinen Platz habe. Dass das heute nicht mehr so ist, ist den Pionieren in unserem Bereich zu verdanken, die im Laufe der Jahrzehnte vielfache Begründungen dafür geliefert haben, dass ökonomische Bildung ein integraler Bestandteil von Allgemeinbildung ist. Im Wesentlichen geht es dabei erstens um ein ganz praktisches instrumentelles Wissen im ökonomischen Kontext, um das Leben zu bewältigen. Also etwa: Man sollte mit den eigenen Finanzen umgehen, die Grundlagen einer Steuererklärung durchschauen oder bei einer Wahl die wirtschaftspolitischen Programme von Parteien zumindest ansatzweise nachvollziehen können. Zweitens geht es darum, „die Grammatik einer Gesellschaft” zu begreifen, wie es Hans Kaminski nannte. Also einfach formuliert. Man soll in der Lage sein, den Wirtschaftsteil in der Zeitung oder die Wirtschaftsberichte in der Tagesschau zu verstehen. Drittens gehört auch die ethische Reflexion wirtschaftlicher Phänomene und Probleme dazu. Die Welt ist so stark von der Wirtschaft geprägt, dass kein Weg an ökonomischer Bildung vorbeiführt, wenn man sie verstehen oder auch kritisieren will.
Redaktion: Wie sieht Wirtschaftsunterricht heute an deutschen Schulen aus?
Loerwald: Im Bereich der ökonomischen Bildung tobt sich der Föderalismus aus, wie er nur kann. Wir haben 16 Bildungssysteme und in diesen jeweils wieder circa vier Schultypen an den weiterführenden Schulen. Für jedes Fach in jedem Bundesland an jeder Schule gibt es eigene Lehrpläne. Das ist zwar auch in anderen Fächern so, aber Mathematik heißt überall Mathematik, Deutsch heißt überall Deutsch. Für ökonomische Bildung haben wir in unserer von der Flossbach von Storch Stiftung geförderten OeBiX-Studie 142 Fächer mit 46 verschiedenen Fachbezeichnungen gezählt. Von Sozialkunde, Sozialwissenschaften, „Arbeit – Wirtschaft – Technik”, „Politik – Wirtschaft” bis hin zu Weltkunde in Schleswig-Holstein. Das ist schon abenteuerlich. Dass es ein eigenes Fach Wirtschaft gibt, ist die große Ausnahme. Überwiegend ist Wirtschaft in Deutschland ein Integrationsfach. Davon gibt es zwei häufig vorkommende Varianten. Die eine ist die Zusammenlegung von Wirtschaft mit Politik und Soziologie. Hier liegt der Schwerpunkt dann eher auf der Makroperspektive, oft auf wirtschaftspolitischen Themen. In solchen sozialwissenschaftlichen Integrationsfächern findet man aber wenig zu finanzieller Bildung und Verbraucherperspektiven sowie zur Entrepreneurship Education und Unternehmertum. Die zweite Integrationsfachvariante ist eher in der Sekundarstufe I zu finden und sehr auf berufliche Orientierung und Ausbildung fokussiert. Dazu gehören Fächer wie „Arbeitslehre” oder „Arbeit – Wirtschaft – Technik”.
„Wir sind in Deutschland weit von einer flächendeckenden Lösung für wirtschaftliches Basiswissen entfernt.“
Prof. Dr. Dirk Loerwald
Redaktion: Welche Konsequenzen hat diese Fächervielfalt? Wie gut wird Wirtschaft in den einzelnen Bundesländern unterrichtet?
Loerwald: In unserer OeBiX-Studie haben wir versucht, möglichst viele harte Daten zur ökonomischen Bildung zusammenzutragen: Welche Fächer gibt es? Wie viele Stunden werden diese jeweils unterrichtet? Sind es Pflicht- oder Wahlpflichtfächer? Wie hoch ist der Anteil ökonomischer Bildung in diesen Fächern? Gibt es fachdidaktische Professuren für diesen Bereich in der Lehrkräftebildung? Wie hoch ist der ökonomische und wirtschaftsdidaktische Anteil in den Hochschul-Curricula? Auf dieser Basis haben wir einen Index entwickelt, mit dem wir die Situation zwischen den Bundesländern vergleichbar machen können. Um 100 Prozent in dem Index zu erreichen, wurde der Maßstab eines ‚normalen‘ Nebenfachs wie Erdkunde oder Geschichte angesetzt. Das bedeutet beispielsweise in der Sekundarstufe I einen Umfang von sechs Kontingentstunden, also zwei Stunden pro Woche in Klasse 8, 9 und 10. Wie auch bei den anderen Variablen im Index ist der Benchmark damit nicht sehr hoch angesetzt, und trotzdem hat Niedersachsen als bestes Bundesland auch nur 73 Prozent erreicht. Das Schlusslicht war Rheinland-Pfalz mit 23 Prozent. Das heißt, das Land erfüllt von dieser relativ bescheidenen Forderung nicht mal ein Viertel. Damit sind wir in Deutschland weit von einer flächendeckenden Lösung für wirtschaftliches Basiswissen entfernt: Wirtschaft ist das Nebenfach unter den Nebenfächern.
Redaktion: Neben Niedersachsen gehören auch Bayern und Baden-Württemberg zur Spitzengruppe Ihrer Studie. Was machen diese Bundesländer besser als die meisten anderen in Bezug auf ökonomische Bildung?
Loerwald: Alle drei Bundesländer haben sehr wirtschaftsstarke Fächer etabliert. In Baden-Württemberg heißt das Fach „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung”. Bayern hat schon eine sehr lange Tradition mit dem Fach „Wirtschaft und Recht”. Mit dem Fach hat sich über die Jahre auch ein Verband für Wirtschaftslehrkräfte in Bayern etabliert, der Wirtschaftsphilologenverband Bayern. Niedersachsen hat an Hauptschulen, Realschulen und Oberschulen ein eigenständiges Fach Wirtschaft, plus an Realschulen sogar ein Profil, mit denen man bis zu sechs Stunden Wirtschaft pro Woche haben kann. An den Gymnasien in Niedersachsen gibt es ein Fach „Wirtschaft und Politik”, was immerhin zu 50 Prozent auch wirtschaftliche Inhalte vermittelt. Dazu gibt es eine Lehrkräfteausbildung mit fachdidaktischen Professuren und entsprechenden Curricula. Der gemeinsame Nenner ist immer: Es wurde ernsthaft Zeit im Stundenplan für das Fach Wirtschaft bereitgestellt und auf Lehrkräfteseite dafür professionell ausgebildet.
„Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, ökonomische Bildung mit politischen und sozialen Aspekten zu verknüpfen. Im Gegenteil, das muss sogar sein.“
Prof. Dr. Dirk Loerwald
Redaktion: Warum reichen Ihrer Meinung nach die Integrationsfächer in anderen Bundesländern nicht aus, um ökonomische Bildung zu vermitteln?
Loerwald: Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, ökonomische Bildung mit politischen und sozialen Aspekten zu verknüpfen. Im Gegenteil, das muss sogar sein. In Österreich macht man es mit Erdkunde, da heißt das Fach „Geographie und Wirtschaftskunde”. Das Problem dabei ist – und das weiß ich, da ich selbst Sozialwissenschaften auf Lehramt in Nordrhein-Westfalen studiert habe –, dass sich das Lehramtsstudium in drei Säulen unterteilt: in das erste Fach, das zweite Fach und das erziehungswissenschaftliche Begleitstudium inklusive der Schulpraktika. Das heißt, man studiert seine beiden Fächer sowieso nur zu einem Drittel. Wenn das Fach dann nochmals gedrittelt wird in Soziologie, Politik und Wirtschaft, dann bleibt nicht mehr viel übrig. Man macht nur ein paar Module, für mehr fehlt einem die Zeit. Kommt man dann in die Schule und soll den Schülerinnen und Schülern alle drei Disziplinen in zwei Wochenstunden vermitteln, dann funktioniert das nicht. Es stellt sich hier also ein Qualifikations- und ein Zeitproblem.
Redaktion: Sie haben sich in einer Ergänzungsstudie zur OeBiX-Studie das Zentralabitur in Bezug auf ökonomische Bildung angeschaut. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Loerwald: Wir haben uns in der Studie die Aufgaben und Materialien im Zentralabitur genauer angeguckt. Auch hier bestätigte sich die These, dass Wirtschaft das Nebenfach unter den Nebenfächern ist. Wirtschaft ist in einem eigenständigen Fach kaum Bestandteil des Zentralabiturs in Deutschland. In den Intergrationsfächern sind es dann oftmals wenige und zum Teil unverbindliche ökonomische Themen im Zentralabitur. Das wird schon allein daran deutlich, dass es zwar einheitliche Prüfungsanforderungen für das Abitur (EPA) in Wirtschaft gibt, diese aber in den sozialwissenschaftlichen Integrationsfächern in fast allen Bundesländern nicht zugrunde gelegt werden. Stattdessen wird lediglich auf die EPAs für Sozialkunde und Politik verwiesen. Nur in einem von acht Integrationsfächern wird auch die EPA für das Fach Wirtschaft vorausgesetzt. Was außerdem auffällt: In den Integrationsfächern kommen Aufgaben vor allem in Form von Texten vor. Es wird kaum mit Zahlenmaterial oder Statistiken gearbeitet – was eigentlich zur ökonomischen Bildung auch dazugehört.
„Im Kern braucht es auf der strukturellen Ebene die institutionelle Verankerung der ökonomischen Bildung. Idealerweise wäre das die bundesweite Einführung eines Fachs Wirtschaft.“
Prof. Dr. Dirk Loerwald
Redaktion: Welche Maßnahmen halten Sie von struktureller und politischer Seite für besonders wichtig, um die ökonomische Bildung zu verbessern?
Loerwald: Im Kern braucht es auf der strukturellen Ebene die institutionelle Verankerung der ökonomischen Bildung. Idealerweise wäre das die bundesweite Einführung eines Fachs Wirtschaft. Es gab mal eine Vorgabe von der Kultusministerkonferenz, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden sowie Lehrer- und Elternverbänden, dass kein Lernender die Sekundarstufe I verlassen sollte, ohne mindestens 200 Stunden ökonomische Inhalte unterrichtet bekommen zu haben. Das wäre etwa der Benchmark aus unserer OeBiX-Studie. Und das ist die Richtgröße, die man als Bundesland hinbekommen sollte. Und wenn es ohne eigenständiges Fach Wirtschaft gehen soll, dann muss man in den Integrationsfächern zumindest dafür sorgen, dass die Inhalte 50 zu 50 aufgeteilt werden – und nicht 80 Prozent Politik und ein paar ökonomische Themen. Und: Die Wirtschaftslehrkräfte sind das Nadelöhr. Wir müssen qualifizierte Lehrkräfte haben, die wirtschaftswissenschaftlich und fachdidaktisch ausgebildet sind. Ohne die wird gar nichts passieren. Unterricht über Wirtschaft ist nicht zwingend Wirtschaftsunterricht, es braucht Fachkompetenz. Nur weil man im Kunstunterricht eine Blume malt, macht man ja auch noch nicht Biologieunterricht.
Redaktion: Was können Schulverwaltungen, Schulleitungen und Lehrkräfte selbst vor Ort tun, um das Thema ökonomische Bildung mehr in den Unterricht einzubringen?
Loerwald: Wenn es um Schulmanagement geht: ruhig den Mut haben, Schulen ein ökonomisches Profil zu geben. Schulen, die damit offensiv werben, machen gute Erfahrungen. Wir haben beispielsweise hier in Oldenburg Gymnasien, die sich ein ökonomisches Profil gegeben haben und damit viele Schülerinnen und Schüler gewinnen konnten. Grundsätzlich ist ein Wirtschaftsprofil für eine Schule eine gute Werbemaßnahme. Alle Umfragen zeigen, dass Lernende und Eltern sich dieses Fach wünschen. An Schulleitungen und Lehrkräfte gerichtet: In den meisten Bundesländern findet sich ja irgendein institutioneller Rahmen, in dem man ökonomische Bildung unterrichten kann. Dafür gibt es inzwischen viele innovative und kostenlos zugängliche Materialien, die zu empfehlen sind (weiterführende Links finden Sie unter diesem Interview, Anm. d. Red.) Gerade in unserem Feld mussten wir vielfach den Beweis antreten, dass moderner Ökonomieunterricht möglich ist. Dabei ist viel Hochwertiges entstanden. Es gibt zudem viele Projekte, in denen man mitmachen kann. Um ein Beispiel zu nennen: Wir haben mit der PwC-Stiftung das Projekt Wirtschafts.Forscher! entwickelt, bei dem sich Schulen bundesweit anmelden und mitmachen können. Hier geht es um eine digitale Lernplattform, auf der der Zusammenhang zwischen Wirtschaft, Ethik und Digitalisierung ausgeleuchtet wird. Man sollte solche Projekte nicht als Ersatz für Wirtschaftsunterricht sehen, aber sie können dabei helfen, das Thema innovativ zu vermitteln.
Redaktion: Herr Professor Loerwald, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Dirk Loerwald ist seit Mitte 2011 Professor für Ökonomische Bildung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (IfÖB) und seit Mitte 2019 wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer des An-Instituts IÖB. Seit 2017 ist er darüber hinaus wissenschaftlicher Leiter des digitalen Experimentallabors Ökonomische Bildung (OX-Lab).Er ist aktuell Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung (DeGÖB) und im Vorstand des Bündnisses Ökonomische Bildung Deutschland (BÖB). Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Arbeit sind Bildung für nachhaltige Entwicklung, Finanzielle Bildung und Verbraucherbildung, Entrepreneurship Education, wirtschaftsethisch fundierte ökonomische Bildung, Classroom Experiments, Methodik des Wirtschaftsunterrichts, Digitalisierung sowie Lehrkräftefort- und -weiterbildung. Die fachdidaktischen Forschungsschwerpunkte sind Diagnostik von Schülerleistungen (Tests) und Schülervorstellungen (Interviews/Fragebögen), Experimentelle Interventionsstudien (Lehr-Lern-Labor), Schulversuchsforschung (Evaluationsstudien) und konzeptionelle Arbeiten zur ökonomischen Bildung.