Wissen, das bleibt – wie aus Grundlagen nachhaltiger Lernerfolg wird
Von Wissen zu profitieren, das man in der Grundschule aufgebaut hat, ist nicht selbstverständlich. Dr. Ralph Schumacher von der ETH Zürich hat mit seinen Kollegen erforscht, wie man anschlussfähiges Wissen aufbauen kann.
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Wenn im Sachunterricht in der Grundschule grundlegende physikalische Prinzipien erklärt werden, fragt sich manche Lehrkraft: Bringt das überhaupt etwas? Eine aktuelle Studie der ETH Zürich zeigt, dass Grundkenntnisse, die in jungen Jahren vermittelt werden, tatsächlich zu besseren Ergebnissen in weiterführenden Lernabschnitten führen können. Über die Idee eines Spiralcurriculums, bei dem Wissen stufenweise erweitert wird, spricht der Forscher im Interview.
Redaktion: Herr Dr. Schumacher, was wollten Sie sich mit Ihrer Studie zum Transfer von Wissen genau anschauen?
Dr. Ralph Schumacher: In unserer Längsschnittstudie ging es vor allem darum, wie man zukünftiges Lernen durch den Aufbau von anschlussfähigem Wissen vorbereiten kann. Wir wissen aus der Forschung, dass Wissenstransfer eine schwierige Aufgabe ist. Es gibt zwar viele Belege für den sogenannten Nahtransfer. Dieser umschreibt eine Lernsituation, in der Menschen kurz nach einer Trainingsaktivität ähnliche Aufgaben erfolgreich lösen. Den sogenannten Ferntransfer nachzuweisen, bei dem Menschen nach einem längeren Zeitraum, vielleicht sogar mehreren Jahren, Wissen erfolgreich abrufen und auf neue Aufgaben übertragen sollen, ist dagegen bisher selten gelungen. Dabei entspricht dieser Ferntransfer natürlich eher dem schulischen Alltag – dem Ziel des Lernens, Menschen auf zukünftige Anforderungen vorzubereiten und dafür Wissen aufzubauen.
Redaktion: Wie haben Sie diesen Wissenstransfer genau untersucht?
Schumacher: Wir haben die langfristigen Effekte früher Physikbildung auf das spätere Verständnis in verwandten Gebieten genauer analysiert. Dafür haben 433 Grundschülerinnen und -schüler in den Klassen 3 und 4 im Unterricht zum Thema „Schwimmen und Sinken“ eine Einführung in grundlegende physikalische Konzepte wie Verdrängung und Auftrieb bekommen. Als die Kinder die Sekundarstufe erreichten, haben sie in den Klassen 7 und 8 Unterricht dazu erhalten, wie die Auftriebskraft durch den hydrostatischen Druck zustande kommt. Ihre Lerngewinne wurden wiederum mit Vor- und Nachtests erfasst. Sie haben diesen Unterricht in gemischten Klassen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern erhalten, die in der Grundschule keinen Unterricht zu „Schwimmen und Sinken“ hatten. Diese 942 Schülerinnen und Schülern bildeten die Vergleichsgruppe.
Redaktion: Was war das Ergebnis?
Schumacher: Wir konnten belegen, dass die Schülerinnen und Schüler, die in der Grundschule solches inhaltsspezifisches Vorwissen aufgebaut hatten, von diesem in der Sekundarstufe profitierten. Diese Kinder konnten besser als die Schülerinnen und Schüler in der Vergleichsgruppe auf ihr Wissen aufbauen, Verbindungen zwischen den Grundlagen und den fortgeschritteneren Inhalten herstellen und ihren Lernerfolg deutlich steigern. Sie konnten also ihr Vorwissen nutzen, um von dem Unterricht in der Sekundarstufe stärker zu profitieren als die Schülerinnen und Schüler aus der Vergleichsgruppe. Das zeigt uns: Wer früh anfängt, kommt auch weiter.
Redaktion: Wesentlicher Teil Ihrer Studie war ein sogenanntes Spiralcurriculum. Können Sie kurz beschreiben, was dieser Begriff bedeutet und wie er anschlussfähiges Wissen kreiert?
Schumacher: Ein Spiralcurriculum ist ein Curriculum, bei dem man sich überlegt, wie Wissen schrittweise aufgebaut werden kann. Man startet mit starken Vereinfachungen, sogenannten Präkonzepten, die auch schon in der Primarschule unterrichtet werden können. Sie sind dabei sachlich nicht verfälscht, nur vereinfacht und somit anschlussfähig. Nehmen wir als Beispiel das Thema der physikalischen Kräfte: Man kann Kinder bereits in den ersten Schuljahren mit dem Rückstoßprinzip vertraut machen, dass also ein Objekt, das eine Masse in eine Richtung stößt oder ausstößt, sich selbst in die entgegengesetzte Richtung bewegt: Wenn man einen Luftballon aufpustet und loslässt, dann bewegt er sich in die Gegenrichtung der ausgestoßenen Luft. Das könnte man schrittweise in einem Spiralcurriculum anreichern, es formaler beschreiben, auf andere Bereiche wie etwa elektrische Ladungen übertragen. Später, etwa auf dem Gymnasium, wird das Verständnis weiter verfeinert und ein tieferes Verständnis von Wechselwirkungskräften aufgebaut.
Redaktion: Können Sie noch etwas genauer beschreiben, was den Unterricht am Anfang des Spiralcurriculums ausmacht, damit ein Wissenstransfer, wie in Ihrer Studie belegt, erreicht wird?
Schumacher: Damit Wissen anschlussfähig ist und zukünftiges Lernen erleichtern kann, sollte es den richtigen Grad an Abstraktheit haben. Im Fall von „Schwimmen und Sinken“ bedeutet das zum Beispiel, dass sich die Kinder nicht nur merken, dass Fichtenholz, Styropor und Bimssteine im Wasser schwimmen. Vielmehr sollten sie auch verstehen, dass alles, was leichter ist als ein gleich großer Wasserwürfel, im Wasser schwimmt, und dass alles, was schwerer ist als ein gleich großer Wasserwürfel, im Wasser untergeht. Dieses Wissen kann ihnen später zum Beispiel das Verständnis des physikalischen Konzepts der Dichte erleichtern. In vergleichbarer Weise kann man beim Thema „Schall“ die Kinder auf den Sekundarschulunterricht zum Dopplereffekt vorbereiten, indem man bereits in der Grundschule mit ihnen bespricht, dass Schall aus Schwingungen besteht und sich durch Wellen ausbreitet. Diesen Wissenstransfer untersuchen wir gerade in einer weiteren Studie. Zentral ist auch der Austausch zwischen Lehrpersonen der Primar- und Sekundarstufe, so dass der Aufbau von anschlussfähigem Wissen durch bessere Abstimmung optimiert werden kann. Dann können die Lehrpersonen der Primarschule besser abschätzen, wo die “Wissensreise” langfristig hingehen soll und im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen aus der weiterführenden Schule die Frage beantworten: Wie können wir das vorbereiten?
Redaktion: Sie haben sich in Ihrer Studie auf physikalisches Vorwissen konzentriert. Glauben Sie, dass man ähnlich effektive Lerntransfers auch in anderen Fächern so aufbauen kann?
Schumacher: Ja, ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Ob Biologie, Geografie, Mathe oder Deutsch: In jedem Fach gibt es grundlegende Vorläuferkenntnisse und Fertigkeiten, bei denen man anschlussfähiges Wissen vorbereiten kann, um den Zugang zu komplexeren Themen später einfacher zu machen. Natürlich gibt es auch Fächer, die erst in der Sekundarstufe beginnen, wie der Chemieunterricht, der in der Schweiz erst im achten Schuljahr startet. Doch der von uns untersuchte Wissenstransfer beschränkt sich nicht auf den Sprung zwischen Primar- und Sekundarstufe. Auch in der achten Klasse kann entsprechend Vorwissen für weitreichendere Konzepte etwa im zwölften Schuljahr aufgebaut werden.
Redaktion: Herr Doktor Schumacher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Zur Person
Dr. Ralph Schumacher leitet gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Vaterlaus das MINT-Lernzentrum der ETH Zürich, in dem mathematisch-naturwissenschaftliche Unterrichtsmaterialien entwickelt, getestet und durch Seminare und Fortbildungen verbreitet werden. Seine Forschung konzentriert sich auf die Umsetzung kognitiv aktivierender Lernformen.