Wohlbefinden messen – Was Kinder brauchen, um in der Schule zu wachsen
Die UWE-Befragung macht sichtbar, wie es Kindern in der Schule wirklich geht – und eröffnet neue Wege für Schulentwicklung und Zusammenarbeit

Wie geht es unseren Schülerinnen und Schülern wirklich? Die UWE-Befragung stellt genau diese Frage – und liefert empirische Daten zum subjektiven Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, die Schulen, Kommunen und Stadtteile ins Handeln bringen. Isabel Schwandt erklärt im Interview, wie UWE funktioniert, warum das Thema Wohlbefinden immer wichtiger wird – und wie aus einer Umfrage echte Veränderungen entstehen können
Redaktion: Frau Schwandt, was macht die UWE-Befragung aus und wie unterscheidet sie sich von anderen Monitoring-Instrumenten an Schulen?
Isabel Schwandt: UWE steht für Umwelt, Wohlbefinden, Entwicklung: Und genau darin liegt das Alleinstellungsmerkmal dieser Befragung: Wir fragen nach dem Wohlbefinden der Kinder. Wir interessieren uns nicht primär für die schulischen Leistungen, sondern stellen ganz bewusst die Frage: „Wie geht es dir eigentlich?“ Hintergrund für diesen Ansatz ist unter anderem die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Kinder besser lernen und sich besser entwickeln, wenn es ihnen gut geht. Gerade im Schulkontext wird das zunehmend relevanter – sei es im Blick auf den Ausbau des Ganztags oder im Rahmen von Diskussionen über PISA-Ergebnisse. UWE basiert auf dem kanadischen Konzept des Middle-Years-Development-Instruments. Das wird in Kanada bereits seit 2009 eingesetzt. Professor Klaus Peter Strohmeier hat es 2017 nach Deutschland geholt und zunächst in Herne und Bottrop in Pilotprojekten erprobt. Seit 2022 bieten wir die Befragung bundesweit für interessierte Kommunen an.
Umwelt – Wohlbefinden – Entwicklung
Die UWE-Befragung (Umwelt – Wohlbefinden – Entwicklung) ist ein Instrument zur Erfassung des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie wurde entwickelt, um eine datenbasierte Grundlage für die Schul- und Stadtentwicklung zu schaffen. Ziel ist es, das Wohlbefinden junger Menschen zu erfassen und zu verstehen, welche Faktoren dieses beeinflussen. Dabei werden Kinder und Jugendliche als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt ernst genommen, es geht darum, ihre subjektive Sicht auf ihr Leben in Schule, Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis zu erheben. Die Befragung wird in der Regel in den Jahrgangsstufen 4, 7 und 9 durchgeführt und deckt Themen wie soziale und emotionale Entwicklung, Gesundheitsaspekte, Beziehungen, Freizeitverhalten und Schulerfahrungen ab. Die Ergebnisse werden auf Schul- und Stadtteilebene ausgewertet und bieten konkrete Ansatzpunkte für Maßnahmen zur Förderung des Wohlbefindens.
Redaktion: UWE ermittelt also explizit das Wohlbefinden der Schüler:innen. Welche Themen werden dabei konkret erfasst
Schwandt: Wir fragen viele Aspekte ab, etwa die Beziehungen der Kinder zu Erwachsenen an der Schule – das kann die Lehrkraft sein, die Schulleitung, aber auch der Hausmeister oder die Schulsozialarbeit. Wichtig ist, dass sich Kinder von Erwachsenen gesehen, ernst genommen und unterstützt fühlen. Außerdem betrachten wir das Schulklima: Wie geht man an der Schule miteinander um? Gibt es eine Atmosphäre, die gemeinsames Lernen und persönliche Entfaltung ermöglicht? Darüber hinaus fragen wir auch, was Kinder in ihrer Freizeit machen, welche Angebote sie nutzen oder welche Einschränkungen und Hindernisse sie erfahren – etwa zu hohe Kosten oder zu große Entfernungen, um an Schul- oder Freizeitangeboten teilzunehmen. Ziel ist dabei immer, Anknüpfungspunkte für eine bessere Gestaltung von Schule und Umfeld zu finden.
„Schulen allein können nicht alle Aufgaben stemmen.“
Isabel Schwandt
Redaktion: UWE ist also auch darauf ausgerichtet, Kooperationen über die Schule hinaus zu stärken?
Schwandt: Absolut. Uns geht es mit UWE auch darum, Kooperationen mit Akteuren im Sozialraum anzustoßen – also mit Angeboten der offenen Kinder- und Jugendarbeit, Vereinen, Musikschulen, Stadtteilbüros und weiteren Partnern. Denn Schulen allein können nicht alle Aufgaben stemmen. Es ist wichtig, gemeinsam zu schauen, wie wir die Ressourcen der Kinder stärken können: indem wir Freizeitangebote näher zu ihnen bringen, Beziehungen untereinander und zu Erwachsenen fördern und dafür sorgen, dass die Kinder in ihrem Umfeld Unterstützung erfahren. Dabei wollen wir auch Eltern mit ins Boot holen und bestehende Netzwerke wie Stadtteilbüros stärker einbinden. UWE bietet da viele offene Anknüpfungspunkte, um Zusammenarbeit über die Schule hinaus gezielt zu entwickeln. Ein besonderes Augenmerk liegt natürlich auch auf der Zusammenarbeit zwischen Schule und Kommune – denn nur wenn beide im engen Austausch sind, können kommunale Angebote an Schulen oder im Stadtteil passgenau und bedarfsorientiert entwickelt werden. So entstehen gemeinsame Strategien, die sich an den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen orientieren.
Redaktion: Welche Vorteile haben Schulen konkret von der UWE-Befragung?
Schwandt: Mit UWE bekommen Schulen belastbare Daten an die Hand. Sie sehen schwarz auf weiß, wie es den Kindern wirklich geht, wo sie starke Ressourcen haben – zum Beispiel im Bereich sozialer Kontakte – und wo es noch Entwicklungsbedarf gibt, etwa bei Sport und Bewegung, beim Lesen oder im kreativen Bereich. Diese Daten helfen nicht nur bei der Einschätzung der eigenen Arbeit, sondern sind auch eine wertvolle Grundlage für die Schulentwicklung. Sie können genutzt werden, um gezielt Förderanträge zu stellen und Maßnahmen zu begründen, etwa in Bereichen wie Mobbingprävention, Umgang mit aggressivem Verhalten oder dem Ausbau von Bewegungs- und Freizeitangeboten. Ein wichtiger Bestandteil des Prozesses sind außerdem die Schulworkshops, in denen wir gemeinsam mit Lehrkräften, Kindern und weiteren Akteuren aus Verwaltung und Quartier die Ergebnisse besprechen und erste Ideen für Verbesserungen entwickeln. So wird aus der Befragung keine bloße Datenerhebung, sondern ein lebendiger Impuls, der Schulen dabei unterstützt, sich gezielt weiterzuentwickeln.
Redaktion: Können Sie das etwas näher erläutern? Wie wird die UWE-Befragung in der Praxis konkret begleitet
Schwandt: Mit der UWE-Befragung setzen wir einen Fragebogen ein, der von Forscher:innen in enger Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen, Lehrer:innen, Eltern, Gemeindeorganisationen und Politiker:innen entwickelt wurde. Da die Befragung in den Schulen stattfindet, bereiten wir die Lehrkräfte für die eigenständige Durchführung vor. Der Fragebogen wird online über Tablets ausgefüllt, und die Teilnahme erfolgt anonym. Eltern müssen der Teilnahme selbstverständlich zustimmen. Nach der Befragung erhält jede Schule einen eigenen Bericht mit ihren individuellen Ergebnissen. Darauf aufbauend bieten wir Schulworkshops an, in denen wir die Daten gemeinsam mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren besprechen – dazu gehören Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern, aber auch die Kinder und Jugendlichen selbst. In diesen Workshops geht es nicht nur darum, Zahlen zu präsentieren, sondern gemeinsam zu verstehen, welche Themen für die Schule besonders wichtig sind und welche Maßnahmen sich daraus ableiten lassen. Dabei moderieren wir die Gespräche und geben gezielt Hinweise auf auffällige Ergebnisse oder mögliche Handlungsfelder. Uns ist besonders wichtig, dass Kinder und Jugendliche erleben, dass ihre Rückmeldungen ernst genommen werden und etwas bewirken. Natürlich brauchen große Veränderungen oft Zeit – gerade wenn etwa bauliche Maßnahmen oder strukturelle Anpassungen notwendig sind. Aber kleinere Projekte oder Aktionen lassen sich häufig zeitnah umsetzen, sodass auch kurzfristig Verbesserungen für die Kinder spürbar werden.
Redaktion: Können Sie Beispiele nennen, wo die UWE-Befragung ganz konkret Verbesserungen angestoßen hat?
Schwandt: In einer Grundschule etwa wurde das Thema Mobbing von den Klassensprecherinnen und Klassensprechern selbst aufgegriffen, nachdem die UWE-Ergebnisse deutlich gemacht hatten, wie präsent das Problem ist. Die Kinder haben daraufhin eine ganze Mottowoche zum Thema organisiert, inklusive Trainingseinheiten und gemeinsamen Vereinbarungen zum besseren Umgang miteinander. An einer anderen Schule stellte sich heraus, dass viele Kinder nur selten lesen, obwohl es eine Stadtteilbibliothek gibt. Als deutlich wurde, dass der Zugang zu dieser Bibliothek für viele Familien nicht einfach ist, wurde kurzerhand ein Tauschregal in der Schule eingerichtet, das mit aussortierten Büchern der Bibliothek bestückt wurde, unkompliziert und für alle zugänglich. Auch auf Stadtteilebene hat UWE einiges ausgelöst. In einem Stadtteil zeigten die Daten, dass Kinder kaum Freizeitangebote in ihrer Umgebung kennen. Daraufhin wurden gezielt Informationskampagnen gestartet und bestehende Angebote besser beworben. Ein besonders weitreichendes Beispiel kommt aus der Stadt Geldern: Hier wurde nach der UWE-Befragung entschieden, Schulsozialarbeit an allen Schulen flächendeckend einzuführen – eine Maßnahme, die vorher nicht überall umgesetzt war.
„Kinder verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule. Man kann ihre Gefühle und Bedürfnisse dort nicht ausblenden.“
Isabel Schwandt
Redaktion: Gibt es Erkenntnisse auf Grundlage der mit UWE erhobenen Daten?
Schwandt: Langzeitergebnisse aus Deutschland gibt es bislang nur eingeschränkt, da UWE hierzulande noch relativ neu ist. Vereinzelt haben wir aber bereits interessante Befunde. Besonders auffällig ist, wie stark sich die Ergebnisse zwischen einzelnen Schulen unterscheiden – selbst innerhalb derselben Kommune. Dabei geht es nicht nur um offensichtliche Unterschiede wie das Einzugsgebiet, sondern auch darum, wie Schule konkret gestaltet wird. Schulqualität macht hier einen großen Unterschied. Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Armut im Sozialraum bedeutet nicht automatisch, dass es den Kindern dort schlechter geht. Wir sehen, dass Schulen durch positive Erfahrungen und gute Beziehungsarbeit sehr viel auffangen können. Das heißt: Die Herkunft allein muss nicht über den Bildungserfolg entscheiden, Schulen können sehr viel gestalten. Das ist nicht nur eine große Verantwortung, sondern auch eine ermutigende Botschaft. Denn es zeigt, wie stark Schulen das Wohlbefinden und die Entwicklung ihrer Schüler:innen tatsächlich beeinflussen können.
Redaktion: Zum Abschluss: Warum sollten Schulen das Thema Wohlbefinden Ihrer Meinung nach stärker in den Mittelpunkt rücken?
Schwandt: Kinder verbringen einen großen Teil ihres Alltags in der Schule – und das wird mit dem Ausbau von Ganztagsangeboten künftig noch zunehmen. Man kann ihre Gefühle und Bedürfnisse dort nicht ausblenden. Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern ein sozialer Raum, in dem Beziehungen entstehen, Konflikte ausgetragen werden, Bindung und Vertrauen wachsen können. Wenn wir also über Bildung sprechen, müssen wir auch über die Qualität dieser gemeinsamen Zeit sprechen. Es reicht nicht, nur mehr Unterricht anzubieten, wir müssen ihn auch so gestalten, dass Kinder sich wohlfühlen und in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Ein gutes Schulklima, stabile Beziehungen zu Erwachsenen, ein wertschätzender Umgang, all das hat direkten Einfluss darauf, ob Kinder lernen können und wollen. Mein Kollege Till Stefes an der Ruhr-Universität Bochum hat mit UWE-Daten nachgewiesen: Wenn ein einziges Kind in einer Klasse angibt, gemobbt zu werden, sinkt das Wohlbefinden der gesamten Lerngruppe, auch bei denjenigen, die selbst nicht betroffen sind. Das zeigt sehr deutlich, wie sensibel und wirkungsmächtig das soziale Miteinander in der Schule ist. Und wie wichtig es ist, dass wir das Wohlbefinden aller Kinder konsequent mitdenken, wenn wir über gute Schule sprechen.
Redaktion: Frau Schwandt, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zur Person
Isabel Schwandt ist Sozialwissenschaftlerin und Projektleiterin von "Frag’ UWE" beim Verein Familiengerechte Kommune e.V. Sie ist maßgeblich an der bundesweiten Koordination und Begleitung der UWE-Befragungen beteiligt. Isabel Schwandt setzt sich mit UWE dafür ein, dass das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in den Fokus rückt und systematisch berücksichtigt wird. Dabei arbeitet sie eng mit Kommunen und Schulen zusammen. Darüber hinaus begleitet sie Kommunen beim Aufbau eines kleinräumigen Monitorings, das ihnen ermöglicht, evidenzbasiert zu entscheiden und bedarfsgerecht zu steuern.