Zentralabitur gegen Fachkräftemangel
In ihrem Meinungsbeitrag plädieren Prof. Dr. Katja Koch und Mathias Brodkorb für ein bundesweit einheitlich geregeltes Abitur.
Das Abitur in seiner jetzigen Form hat laut Prof. Dr. Katja Koch und Mathias Brodkorb als Qualitätssiegel ausgedient. In ihrem Meinungsbeitrag fordern sie stattdessen eine einheitliche Abschlussprüfung für ganz Deutschland. Damit ließen sich auch andere Probleme, wie der Fachkräftemangel, die hohen Studienabbruchsquoten und die kaum vergleichbaren Leistungsniveaus der einzelnen Bundesländer lösen.
Dass in Deutschland Fachkräfte fehlen, wissen wir nicht erst seit der Coronakrise. Ob Pflegekräfte, Erzieherinnen oder Handwerker – Ebbe, soweit das Auge reicht. Aber wo sollen sie auch herkommen, die jungen Ausgebildeten, wenn die Boomer-Jahrgänge langsam in die Rente eintreten und nicht genug junge Leute nachgewachsen sind und von diesen außerdem rund 50 Prozent mit dem Abitur in der Tasche an die Hochschulen strömen? Um dort übrigens in einer erheblichen Anzahl ihr Studium wieder abzubrechen. Die Studienabbruchquoten liegen für die Bachelorsstudiengänge des Absolventenjahrgangs 2020 (Studienbeginn 2016/2017) bei etwa 30 Prozent. In den MINT-Fächern sind es rund 50 Prozent (Universitäten) beziehungsweise 40 Prozent (Hochschulen für angewandte Wissenschaften). Wir haben es also gleich mit mehreren Problemen zu tun oder zumindest mit einem Problem, das eine gewisse Vielschichtigkeit zeigt.
Zu viele leistungsschwache Abiturienten
Auf der einen Seite haben wir per se zu wenige Anwärter auf Berufe, die kein Studium voraussetzen, respektive zu viele junge Menschen, die einen Hochschulabschluss anstreben. Doch viele Schulabgänger genügen den Anforderungen der Hochschulen nicht, obwohl sie über das entsprechende Eingangszertifikat – das Abitur – verfügen. Mit anderen Worten: Es gibt zu viele leistungsschwache Abiturienten. Zumindest letzteres beklagen auch die Hochschulen selbst. Aber verweisen nicht die Statistiken der Kultusministerkonferenz alljährlich auf einen Anstieg der Abiturnoten, gemessen an Durchschnitten und dem Anteil an Einser-Abituren? Doch, genau: Die Noten werden immer besser und der Anteil der Einser-Abiture steigt. Doch wie aussagekräftig ist dieser Befund? Wenn man die Statistik genauer betrachtet, stellt man nämlich bei der Leistungsbeurteilung enorme Unterschiede zwischen den Bundesländern fest. Nicht einmal dann, wenn zwei Schüler aus unterschiedlichen Bundesländern dieselben Fächer belegt haben, identische Leistungen erbringen und die gleichen Noten erhalten, steht am Ende zwangsläufig die gleiche Abiturdurchschnittsnote im Zeugnis. Zugespitzt formuliert: Es gibt bundesweit zu viele leistungsschwache Abiturienten und zudem bedeutet Leistung in jedem Bundesland etwas anderes. Da darf man doch wohl getrost von mehreren Problemen sprechen. Da ist etwas faul in der Bildungsrepublik Deutschland und das weiß inzwischen auch jeder, weil es quasi jeden auf irgendeine Weise betrifft: Ob man nun die Tochter mit dem Einser-Abi trösten muss, weil es mit dem Medizinstudienplatz trotzdem nichts geworden ist, ob man seinen Betrieb schließen muss, weil man keinen qualifizierten Fachkräftenachwuchs findet, ob man als Hochschuldozent am mangelnden Leistungsniveau verzweifelt, als Eltern das Zustandekommen von Abiturnoten nicht versteht oder ob man einfach mal einen Elektriker braucht, der sich auf die Schnelle kaum noch finden lässt. Oder noch schlimmer: Wenn man vorhat, mit Kindern in ein anderes Bundesland umzuziehen. Das kann man nicht alles in einen Topf werfen? Auf den ersten Blick vielleicht nicht, aber sobald man genauer hinsieht, zeigen sich die Zusammenhänge.
Das Problem der hohen Abiturientenquote
Nehmen wir zunächst einmal die Abiturientenquote: Eindrücklich belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass in Mathematik und in den Naturwissenschaften nur etwa 25 Prozent der Abiturienten die Regelstandards erreichen. Gerade in naturwissenschaftlichen und technischen Studiengängen ist dieses Problem bekannt. Hochschulen reagieren mit Nachhilfekursen, um das Ausgangsniveau für ein Studium zu sichern. Aber warum ist das so? Die Antwort ist einfach: Niveauverlust in der gymnasialen Ausbildung und der Abiturprüfung! Das ist der Preis, wenn etwa die Hälfte aller jungen Menschen ein Abitur bestehen soll, das noch vor drei Jahrzehnten nur ein Viertel eines Jahrganges absolvierte. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand: eine Absenkung der Abiturientenquote auf etwa die Hälfte des heutigen Standes. Ein drastischer Rückgang von Hochschulabsolventen wäre deshalb kaum zu befürchten, denn als Folge dürften sich auch die Abbrecherquoten an Hochschulen deutlich verringern. Dafür gäbe es eine erkleckliche Anzahl erfolgreich absolvierter Berufsausbildungen und damit die heiß ersehnten Fachkräfte.
Das Problem ungleichwertiger Prüfungsnoten
Aber auch mit weniger Abiturienten wäre noch nicht gesichert, dass alle Absolventen über ein vergleichbares Leistungsniveau verfügen. Grund dafür ist der Bildungsföderalismus. Abitur ist Ländersache, deshalb unterscheiden sich Unterrichtsinhalte, Stundentafeln, Belegungspflichten, Prüfungsanforderungen und Abschlussquoten. Wie bitte soll da ein vergleichbares Niveau herauskommen? Und bei all dem sind noch nicht einmal die Zertifikate miteingerechnet, die an Waldorfschulen, Abendgymnasien oder Auslandsschulen vergeben werden. Hier zeigen sich die Gestaltungsvarianten in potenzierter Weise. Trotzdem heißen auch diese Zertifikate „Abitur“ und berechtigen, an einer Hochschule zu studieren. So entsteht ein bunter Blumenstrauß föderaler Vielfalt – aber in keinem Falle Vergleichbarkeit.
„Das Zertifikat „Allgemeine Hochschulreife" verbürgt weder die Studierfähigkeit ihrer Besitzer, noch geht es bei der Vergabe der Hochschulreife gerecht zu.“
Prof. Dr. Katja Koch und Mathias Brodkorb
Wie aber kann die Bildungspolitik das seit Jahrzehnten zulassen? Immerhin garantiert das Grundgesetz die Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz und „gleichwertige Lebensverhältnisse“. Davon kann beim Abitur keine Rede sein. Sind die Abiturnoten der Länder aber nicht gleichwertig, riskiert der Staat einen Verfassungsbruch gegenüber seinen Bürgern. Eigentlich ist es sogar noch schlimmer: Die Kultusministerkonferenz (KMK) attestiert den länderspezifischen Strukturen und Rahmenbedingungen ausdrücklich eine Gleichwertigkeit, obwohl die Abitur(prüfungs)noten auf Basis hochgradig heterogener Strukturvoraussetzungen und länderspezifischer Gestaltungsvarianten zustande kommen. Das ist ein staatspolitischer Skandal und hat auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach auf den Plan gerufen. Indes: Geändert hat sich dadurch im Grunde nichts. Zwar wurden inzwischen die sogenannten Aufgabenpools geschaffen. Daraus können die Länder für die Prüfungen in den Kernfächern zentrale Aufgaben entnehmen, doch wie viele und ob überhaupt Aufgaben entnommen werden, obliegt ihnen selbst. Hinzu kommt, dass die Noten der schriftlichen Prüfungen – und nur um jene geht es in diesen Pools – nur einen kleinen Teil der endgültigen Abiturnote ausmachen. Selbstredend ist dieser in den Ländern unterschiedlich groß. Kurzum: Weder verbürgt das Zertifikat „Allgemeine Hochschulreife" die Studierfähigkeit ihrer Besitzer, noch geht es bei der Vergabe der Hochschulreife gerecht zu. Um das zu ändern, müssten zwei Probleme beseitigt werden: das geringe Leistungsniveau und die nicht vorhandene Gleichwertigkeit. Und genau daran scheitert der Bildungsföderalismus. Mit dem oben beschriebenen Ergebnis.
Warum Deutschland ein Zentralabitur braucht
Was wäre zu tun? Im Kern ist die Sache relativ einfach. Gerechtigkeit kann nur ein Abitur mit bundesweit einheitlichen Abschlussprüfungen schaffen. Und einheitliche Abschlussprüfungen funktionieren nur, wenn die Unterrichtsinhalte und Stundentafeln zwischen den Ländern angeglichen werden. Das geht nicht, weil die Länder nicht „gleich“ sind? Natürlich sind sie das nicht, aber Mathematik, Biologie oder Philosophie funktionieren in Bayern genauso wie in Bremen oder Thüringen. Zudem ist es kein Problem, in einem Zentralabitur auch Freiräume für die Pflege regionaler Kulturbestände zuzulassen. Die Sicherung kultureller Vielfalt ist auch ohne Bildungsföderalismus möglich, und zugleich ohne Chaos, ohne Ungerechtigkeit und mit Niveau. Apropos Niveau: Damit das Zertifikat wieder echte Studierfähigkeit attestieren kann, muss die Leistungsanforderung für dessen Erwerb deutlich angehoben werden. Mag sein, dass es dann nicht mehr für jeden der inzwischen insgesamt rund 21.000 Studiengänge eine Vielzahl von Immatrikulationen gäbe. Aber das wäre nicht schlimm, denn es gibt jede Menge guter Ausbildungsplätze. Summa summarum: Mit einem Zentralabitur kämen wir der Lösung gleich mehrerer Probleme einen bedeutenden Schritt näher.