„Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen“

Drei Fragen zum Thema „Zukunft des Lernens“ an Prof. Dr. Andreas Schleicher, Direktor des Direktorats für Bildung der OECD in Paris

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat mit dem Lernkompass 2030 ein wegweisendes Dokument zur Zukunft des Lernens vorgelegt. Der Direktor des Direktorats für Bildung bei der OECD, Prof. Dr. Andreas Schleicher, eröffnet zu diesem Thema die Bildungskonferenz der aim am 25. März – und spricht vorab im Interview darüber, wie die Bildung der Zukunft aussieht und was sie für Lehrkräfte bedeutet.

Redaktion: Herr Professor Schleicher, viele Schülerinnen und Schüler richten ihr Lernen nach wie vor an der Frage aus, inwieweit ein Thema klausurrelevant ist. Mit Selbstwirksamkeit und Student Agency, auf die der OECD Lernkompass 2030 für ein zukunftsgerichtetes Lernen abzielt, hat das wenig zu tun. Wo steht das deutsche Bildungssystem auf dem Weg hin zu mehr Kompetenzschulung?

Prof. Dr. Andreas Schleicher: Wir leben in einer Welt, in der Dinge, die leicht zu lernen und zu testen sind, auch leicht digitalisiert und automatisiert werden können. Schüler in Deutschland sind vergleichsweise gut darin, fertiges Wissen zu reproduzieren. Wie die PISA-Studie zeigt, fällt es ihnen jedoch schwer, daraus etwas eigenständig abzuleiten und kreativ auf neue Zusammenhänge zu übertragen. Genau darauf kommt es aber an. Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen, denn Google weiß ja schon alles, sondern für das, was wir, mit dem was wir wissen, tun können. In der Zukunft geht es darum, die künstliche Intelligenz von Computern mit den kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Werten von Menschen zu verknüpfen. Erfolg in der Bildung ergibt sich heute nicht nur aus den Kenntnissen von Sprache, Mathematik oder Geschichte, sondern bedeutet ebenso Identität, Handlungsfähigkeit und Sinnhaftigkeit. Es geht darum, Neugier und Wissensdurst zu wecken - den Intellekt für Neues zu öffnen, es geht um Mitgefühl, im Sinne von die Herzen zu öffnen und es geht um Mut und Handlungsfähigkeit, die Fähigkeit unsere kognitiven, sozialen und emotionalen Ressourcen zu mobilisieren. Das werden auch unsere besten Waffen gegen die größten Bedrohungen unserer Zeit sein: die Ignoranz, der verschlossene Verstand, aber auch der Hass, das verschlossene Herz, und die Angst als der größte Feind für die eigene Handlungsfähigkeit. 

„Es geht darum, dass wir lernen müssen mit uns selbst zu leben, mit Menschen, die anders sind als wir und mit unserem Planeten.“

Prof. Dr. Andreas Schleicher

Redaktion: Ein zentraler Begriff des Lernkompasses ist das „Well-Being“, im Deutschen übersetzt als Wohlergehen. Wie ist das „Well-Being“ im Lernkompass 2030 verankert und wie hängt es mit dem Lernen und der Gesellschaft in der Zukunft zusammen? 

Schleicher: Es geht darum, dass wir lernen müssen mit uns selbst zu leben, mit Menschen, die anders sind als wir und mit unserem Planeten. Dabei geht es darum, das richtige Gleichgewicht zwischen konkurrierenden Forderungen zu finden, zum Beispiel zwischen Gerechtigkeit und Freiheit, Autonomie und Gemeinschaft, Innovation und Kontinuität, oder Effizienz und demokratischer Prozess. 

Wir werden geboren mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu unserer Familie und anderen Menschen mit gemeinsamen Erfahrungen oder kulturellen Normen. Hinzu kommt, dass uns Algorithmen zunehmend in Gruppen von Gleichgesinnten sortieren, und damit virtuelle Blasen schaffen, die unsere eigenen Ansichten verstärken, uns aber von divergierenden Perspektiven isolieren. Dagegen bedarf es bewusster und kontinuierlicher Anstrengungen, um die Art von verbindendem sozialem Kapital zu schaffen, durch das wir Erfahrungen und Ideen teilen und ein gemeinsames Verständnis aufbauen können. Dies wiederum ist Voraussetzung, um unseren Vertrauensradius zu erweitern. Bei der Arbeit, zu Hause und in der Gemeinschaft werden Menschen ein tiefgehendes Verständnis dafür benötigen, wie andere denken, ob als Wissenschaftler oder Künstler, und wie andere in verschiedenen Kulturen und Traditionen leben. Gesellschaften, denen dies gelingt, waren schon immer kreativer, da sie auf die besten Talente von überallher zurückgreifen und auf vielfältigen Perspektiven aufbauen können, und damit Innovation fördern. 

„Die meisten erfolgreichen Menschen hatten in ihrer Schulzeit eine Lehrkraft, die ihr Leben entscheidend beeinflusst hat, weil sie sich wirklich für ihr Wohlergehen und ihre Zukunft interessierte und emotionale Unterstützung bot.“

Prof. Dr. Andreas Schleicher

Redaktion: Wie können Lehrkräfte den zukünftigen Anforderungen an Bildung gerecht werden und Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg begleiten? Welche Unterstützung braucht es in diesem Fall für Lehrkräfte?

Schleicher: Die Erwartungen an Lehrkräfte steigen ständig. Wir erwarten von ihnen Expertenwissen darüber, was sie unterrichten, wen sie unterrichten, und wie Schülerinnen und Schüler lernen. Wir erwarten von ihnen, leidenschaftlich und mitfühlend zu sein, Schülerinnen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Hintergründen und Sprachen als Coach und Mentor individuell zu begleiten und Toleranz und sozialen Zusammenhalt zu fördern. Und nicht zuletzt werden Schülerinnen und Schüler nur dann zum lebenslangen Lernen motiviert, wenn sie ihre Lehrkräfte als aktive, lebenslang lernende Personen wahrnehmen, die dazu bereit sind, ihren eigenen Horizont zu erweitern und das etablierte Wissen ihrer Zeit infrage zu stellen.

Wir erwarten aber noch mehr als in den Stellenbeschreibungen steht. Die meisten erfolgreichen Menschen hatten in ihrer Schulzeit wenigstens eine Lehrkraft, die ihr Leben entscheidend beeinflusst hat, weil sie ihnen ein Vorbild war, sich wirklich für ihr Wohlergehen und ihre Zukunft interessierte und emotionale Unterstützung bot, wenn sie gebraucht wurde. Eine Arbeitsorganisation und Unterstützungskultur zu schaffen, in denen diese Eigenschaften gedeihen, trägt wesentlich dazu bei, dass alle Schülerinnen und Schüler erfolgreich sind und der Lehrerberuf attraktiv ist.

Fragt man Lehrer, die mit ihrem Beruf zufrieden sind, was ihnen bei ihrer Arbeit am wichtigsten ist und womit sie viel Zeit verbringen, dann gehört zu den häufigsten Antworten die Qualität der Beziehungsarbeit, das Arbeiten im Team einschließlich Unterrichtshospitationen, Mentoring und gemeinsamer professioneller Weiterentwicklung sowie Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung.

Vorschriftslastige Unterrichtsmodelle bringen selten kreative Lehrkräfte hervor. Personen, die nur ausgebildet werden, um vorgebratene Hamburger aufzuwärmen, werden keine Spitzenköche. Im Gegensatz dazu findet produktiver Unterricht statt, wenn Lehrkräfte Eigenverantwortung für ihre Schulklassen haben und wenn sich die Schülerinnen und Schüler für ihr Lernen verantwortlich fühlen. Die Lösung besteht also darin, Vertrauen, Transparenz, professionelle Autonomie und die kooperative Kultur des Berufs gleichzeitig zu stärken. Wenn Lehrkräfte Eigenverantwortung übernehmen, kann man kaum mehr von ihnen verlangen, als sie selbst von sich verlangen.

Redaktion: Herr Professor Schleicher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.