Zwischen Herkunft und Zukunft: Schulische Identität und gerechte Übergänge gestalten

Wie Zugehörigkeit, soziale Herkunft und schulische Erfahrungen wirken – und was das aktuelle SWK-Gutachten vorschlägt, um Übergänge in Ausbildung fairer zu gestalten

Wie gelingt der Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung – und welche strukturellen Barrieren bestehen dabei insbesondere für benachteiligte Jugendliche? Das Gutachten „Kompetenzen für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung sichern“ der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) analysiert zentrale Herausforderungen des Bildungssystems und zeigt auf, wo struktureller Handlungsbedarf besteht. Es fordert verbindliche Mindeststandards, mehr Diagnostik, gezielte Förderung und eine identitätssensible Schule. Prof. Dr. Claudia Diehl, Mikrosoziologin an der Universität Konstanz und Mitglied der SWK, erklärt, wie soziale Herkunft Bildung prägt – und was sich ändern muss.

Redaktion: Frau Professorin Diehl, das aktuelle SWK-Gutachten hebt hervor, wie wichtig positive schulische Erfahrungen für das Selbstbild und die Entwicklung junger Menschen sind. Welche gesellschaftlichen Risiken sehen Sie, wenn diese Erfahrungen ausbleiben – insbesondere mit Blick auf soziale Herkunft, Teilhabe und Bildungsungleichheit?

Prof. Dr. Claudia Diehl: Als Soziologin weiß ich, wie weitreichend die Folgen von Bildungsungleichheiten sind – für den Zugang zum Arbeitsmarkt, für politische Teilhabe, für Einstellungen zu gesellschaftlicher Diversität. Wer früh den Anschluss verliert, ist später in vielen Lebensbereichen benachteiligt. In der SWK beschäftigen wir uns deshalb mit der Frage, wie Bildung für alle gelingen kann – auch für jene, die unter schwierigeren Startbedingungen aufwachsen. 

Im aktuellen Gutachten haben wir ein eigenes Kapitel der schulbezogenen Identität gewidmet. Denn jenseits von Kompetenzen und Standards zählt auch, ob sich junge Menschen mit ihrer Schule identifizieren können. Eine schwache oder gar negative schulische Identität kann Bildungsambitionen untergraben. In der internationalen Forschung sehen wir, dass daraus sogar oppositionelle Haltungen gegenüber Schule entstehen können – etwa dann, wenn Jugendliche sich dauerhaft ausgeschlossen oder abgewertet fühlen. Das betrifft in Deutschland zwar bislang nur kleinere Gruppen, doch es ist ein Signal, genau hinzusehen. Identitätsbildung ist kein „weiches“ Thema, sondern zentral für die Bildungsentwicklung.

Was das SWK-Gutachten empfiehlt

Das aktuelle SWK-Gutachten zeigt, wie der Übergang in eine Ausbildung gerechter werden kann – und formuliert dafür zentrale bildungspolitische Empfehlungen: 

  • Funktionale Kompetenzen verbindlich definieren: Jugendliche sollen am Ende der Sekundarstufe I über zentrale fachliche Fähigkeiten verfügen – ergänzt durch basale Grundlagen, etwa in Deutsch, Mathematik und Digital Literacy. 
  • In Lehrplänen und Prüfungen verankern: Diese Kompetenzen müssen in Curricula, Lernstandserhebungen und Abschlussprüfungen durchgängig abgebildet werden. 
  • Kompetenzstände regelmäßig erfassen: Schulen sollen mindestens alle zwei Jahre prüfen, ob die Schüler:innen die angestrebten Kompetenzen erreichen. 
  • Fachunterricht verbessern – auch digital: Der Unterricht soll praxisnah, lernwirksam und adaptiv gestaltet werden – digitale Werkzeuge können gezielt unterstützen. 
  • Leistungsschwache gezielt fördern: Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf sollen durch strukturierte, diagnosebasierte Förderformate im Unterricht und darüber hinaus gestärkt werden. 
  • Lehrkräfte professionell vorbereiten: Die Kompetenzorientierung soll fester Bestandteil aller drei Phasen der Lehrkräftebildung werden – mit Fokus auf Heterogenität, moderne Didaktik und Förderung.

Redaktion: Was verstehen Sie als Soziologin unter schulischer Identität?

Diehl: Identität beschreibt unser Selbstbild – wer wir sind, wer wir sein wollen, und wie wir glauben, von anderen gesehen zu werden. In der Sozialpsychologie wird zwischen personalen und sozialen Identitäten unterschieden. Letztere ergeben sich aus der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen – etwa zur eigenen Schulform, zur sozialen Herkunft oder zu einer ethnischen Gemeinschaft.

Redaktion: Was passiert, wenn soziale Abwertung und schulische Strukturen das Selbstbild von Jugendlichen prägen – und wie wirkt sich das auf ihren Bildungserfolg aus?

Diehl: Kinder entwickeln diese Zugehörigkeiten früh. Und sie nehmen sehr genau wahr, wie ihre Gruppe gesellschaftlich bewertet wird. Wenn etwa ein Kind aus einer Familie kommt, in der Bildung wenig Anerkennung erfährt – oder einer Gruppe angehört, der man pauschal geringere Leistungsfähigkeit zuschreibt – dann beeinflusst das, was es sich selbst zutraut. Studien zeigen, dass solche Stereotype oft antizipiert werden – mit spürbaren Effekten auf Selbstwert, Leistungsbereitschaft und Zukunftserwartungen. 

Wenn Jugendliche sich dann zusätzlich durch schulische Strukturen ausgegrenzt fühlen, etwa weil sie in segregierten Klassen unterrichtet werden, kann das zu einer Entfremdung führen – bis hin zur Entwicklung oppositioneller Identitäten. Das heißt: Schule wird nicht mehr als Ort der Anerkennung gesehen, sondern als feindliches System. Diese Prozesse verlaufen meist subtil – aber sie sind real und folgenreich.

Redaktion: Die SWK empfiehlt, gruppenübergreifende Identitäten gezielt zu fördern. Welche Programme oder schulischen Strukturen – etwa im Ganztag – sind aus Ihrer Sicht besonders geeignet, um positive Intergruppenkontakte zu ermöglichen? Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Diehl: Grundlage für gruppenübergreifende Identitäten ist zunächst einmal, dass unterschiedliche Gruppen überhaupt in Kontakt kommen. In stark segregierten Schulen – sei es nach sozialem Status, ethnischer Herkunft oder auch Milieuzugehörigkeit– sind diese Begegnungen oft gar nicht möglich. Das heißt: Schulstrukturpolitik ist ein Schlüsselfaktor, wenn wir langfristig positive Identitätsbildungsprozesse anstoßen wollen. 

Wenn diese Vielfalt gegeben ist, zeigen Programme mit kooperativen Lernformen besonders gute Effekte – etwa Projekttage, in denen Jugendliche mit unterschiedlicher Herkunft gemeinsam an einem Ziel arbeiten. Auch Ganztagsschulen bieten viele Gelegenheiten, soziale Beziehungen über Gruppengrenzen hinweg zu entwickeln – in AGs, über Mentoring-Formate oder in offenen Freizeitstrukturen. Entscheidend ist, dass Schule nicht nur Lernort, sondern auch ein Raum für Begegnung, Anerkennung und gemeinsames Handeln wird. 

„Dort, wo sich Benachteiligungen konzentrieren, ist die Entwicklung positiver schulischer Identitäten schwierig.“

Prof. Dr. Claudia Diehl

Redaktion: Was folgt daraus aus Ihrer Sicht für das deutsche Schulsystem – insbesondere mit Blick auf Segregation und Schulstruktur?

Diehl: Wir sehen, dass insbesondere in Hauptschulen häufig Kinder zusammenkommen, die in mehrfacher Hinsicht benachteiligt sind – sozial, sprachlich, familiär. Das erschwert nicht nur individuelle Bildungswege, sondern auch die Entwicklung einer positiven schulischen Identität. 

Dass die Zahl der Kinder, die überhaupt noch Hauptschulen besuchen, rückläufig ist, halte ich in dieser Hinsicht für einen sehr positiven Trend. Unabhängig von der Debatte um das gegliederte Schulsystem geht es darum, durchmischte Lerngruppen zu ermöglichen. Das bedeutet: Vielfalt innerhalb von Schulen oder auch Schulformen, nicht Segregation. Dort, wo sich Benachteiligungen konzentrieren, ist die Entwicklung positiver schulischer Identitäten schwierig. 

In unserem Forschungsprojekt „PerFair“ an der Universität Konstanz zur Fairnesswahrnehmung im Schulsystem sehen wir, dass sich Gymnasiasten, Realschülerinnen und Realschüler sowie Schülerinnen und Schüler an Gemeinschaftsschulen hinsichtlich ihrer Zukunftserwartungen gar nicht so stark unterscheiden. Aber bei Hauptschülerinnen und -schülern zeigen sich deutliche Brüche – in der Selbstwahrnehmung, im Zutrauen, in der Vision für das eigene Leben.

Redaktion: Das Gutachten hebt hervor, wie wichtig realistische, positive Zukunftsentwürfe für die Identitätsentwicklung sind. Wie können Lehrkräfte Jugendliche konkret darin unterstützen – auch jenseits des Unterrichts? 

Diehl: Lehrkräfte spielen eine Schlüsselrolle dabei, das große Bildungsziel in kleinere und machbare Etappen zu zerlegen. Dies gilt gerade im Hinblick auf Kinder mit Migrationshintergrund. Viele dieser Kinder – und ihre Eltern - haben sehr hohe Bildungsaspirationen. Das ist grundsätzlich eine enorme Ressource. Aber wir sehen auch, dass sie ihre Ziele oft nicht realistisch einschätzen können. Ihnen fehlen häufig Informationen darüber, was erforderlich ist, um diese Ziele zu erreichen – welche Noten sie brauchen, welche Wege offenstehen, welche Hürden bestehen. 

Lehrkräfte können helfen, diese Lücke zu schließen: nicht, indem sie Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ihre hohen Ambitionen ausreden, sondern durch transparente Leistungsrückmeldungen, durch Beratung, durch das Sichtbarmachen von Bildungswegen. Wichtig ist auch, dass sie erklären, wie das System funktioniert – etwa, was ein bestimmter Schulabschluss ermöglicht. Nur wer das weiß, kann seine Bildungsbiografie aktiv gestalten.

„Lehrkräfte müssen wissen, welchen Einfluss sie auf Identitätsbildungsprozesse haben – ob sie es wollen oder nicht.“

Prof. Dr. Claudia Diehl

Redaktion: Wie lassen sich Kinder aus nicht-akademischen Milieus darin unterstützen, ambitionierte Bildungsziele zu entwickeln – ohne dass sie ihre Herkunft abwerten müssen?

Diehl: Das ist eine sehr interessante Frage. Denn Bildungsaufstieg bedeutet für viele Kinder auch, sich von der Lebensrealität ihrer Eltern zu unterscheiden – was nicht selten mit Schuldgefühlen einhergeht. Gleichzeitig sehen wir, dass viele Kinder aus nicht-akademischen Familien sich gar nicht erst zutrauen, aus den vertrauten Mustern auszubrechen. 

Hier braucht es ein doppeltes Signal: Einerseits die Botschaft, dass Bildungsaufstieg möglich ist. Andererseits die Wertschätzung gegenüber der Herkunft und dem Lebensweg der Eltern. Schule kann das leisten, indem sie Identifikationsangebote schafft, Vorbilder sichtbar macht und nicht nur Leistung, sondern auch Anstrengung und Entwicklung wertschätzt.

Redaktion: In einer Empfehlung fordert die SWK, dass Identitätsentwicklung stärker in die Lehrkräfteausbildung integriert wird. Was bedeutet das konkret – auch im Umgang mit Lehrkräftebias, Leistungserwartungen und Stereotypen?

Diehl: Lehrkräfte müssen wissen, welchen Einfluss sie auf Identitätsbildungsprozesse haben – ob sie es wollen oder nicht. Schon die Art, wie sie Leistung einschätzen, Feedback geben oder Erwartungen formulieren, beeinflusst das Selbstbild ihrer Schüler:innen. 

Es gibt gut belegte Forschung dazu, dass Stereotype – etwa Unterschiede in den Fähigkeitseinschätzungen nach Geschlecht, sozialer Herkunft oder Migrationshintergrund existieren. Diese können auch in Bewertungsprozesse einfließen. Das betrifft nicht alle Lehrkräfte, aber es reicht, wenn es einige tun. Deshalb gehört dieses Wissen in die Ausbildung. 

Wir brauchen Angebote, die Lehramtsstudierende dafür sensibilisieren, wie Erwartungseffekte wirken, wie sie sich selbst hinterfragen können, und wie sie durch gezielte Beziehungsgestaltung das Bildungsklima für alle verbessern können. Das ist kein Zusatzwissen – das ist professionelles Handeln. 

Redaktion: Frau Professorin Diehl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Claudia Diehl ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und leitet das Konstanzer Zentrum für Migrationsforschung. Sie forscht zu Bildungsungleichheit, Integration und Zugehörigkeit. Als Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) bringt sie migrationssoziologische Perspektiven in die Bildungsdebatte ein.