„Sommerschulen in den Ferien können Lernverluste nicht nur abschwächen, sondern sogar zu Lerngewinnen führen.“

Wie groß sind die Lernverluste nach sechs Wochen Ferien und was hilft, sie auszugleichen? Prof. Dr. Manuela Paechter von der Universität Graz gibt Antworten.

In diesen Wochen gehen in den meisten Bundesländern die Sommerferien zu Ende oder sind bereits vorbei. Das bedeutet auch: viele Schüler:innen haben in dieser Erholungsphase Lernverluste erlitten. Prof. Dr. Manuela Paechter von der Universität Graz ist eine der wenigen Forscher:innen in Europa, die diese negativen Begleiterscheinungen der Ferien systematisch erforscht hat. Im Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement spricht sie über das, was Kinder in der schulfreien Zeit vergessen, welche Faktoren hierbei eine Rolle spielen und wie Lernverluste vermieden werden können.

Redaktion: Frau Professorin Paechter, Sie haben eine der wenigen Studien in Europa über Lernverlust in den Sommerferien durchgeführt. Was konnten Sie dabei feststellen?

Prof. Dr. Manuela Paechter: In der Studie, die ich mit Kolleg:innen an der Universität Graz durchgeführt habe, ging es um die Frage, ob sich Kinder in Österreich in den neunwöchigen Sommerferien in unterschiedlichen Fähigkeitsbereichen verschlechtern. Konkret ging es um die Fähigkeiten im Lesen, in der Rechtschreibung, im rechnerischen Denken und um einen Teilbereich der Intelligenz, das logische Denken. Die Kinder, die teilnahmen, waren zwischen zehn und 12 Jahre alt und in der fünften oder sechsten Schulstufe in einem Gymnasium oder einer Hauptschule.

Im Vordergrund standen also nicht spezifische schulische Kenntnisse, die man in einem bestimmten Schuljahr in einem bestimmten Fach erwirbt. Sondern es ging darum, wie sich wichtige Fähigkeiten, die man in der Schule und im Alltag benötigt, in den Sommerferien entwickeln und ob sie sich womöglich zurückentwickeln. Solche Grundfähigkeiten benötigt man in den verschiedensten Situationen, zum Beispiel um am Fahrkartenautomaten die Anleitung für das Lösen eines Fahrscheins zu verstehen, um ein Formular auszufüllen, oder um im Supermarkt abzuschätzen, wie viel Geld die Waren im Einkaufskorb kosten.

„Sowohl in der Rechtschreibung, dem rechnerischen Denken und dem logischen Denken zeigten die Kinder in der ersten Schulwoche schlechtere Ergebnisse als neun Wochen zuvor in der letzten Schulwoche.“

Prof. Dr. Manuela Paechter

Für die Studie bearbeiteten die Kinder in der letzten Schulwoche vor den Ferien, in der ersten Schulwoche im neuen Schuljahr und neun Wochen nach Schuljahresbeginn kognitive Testverfahren. Sowohl in der Rechtschreibung, dem rechnerischen Denken und dem logischen Denken zeigten die Kinder in der ersten Schulwoche schlechtere Ergebnisse als neun Wochen zuvor in der letzten Schulwoche. Allerdings waren das eher leichte Verluste. Konnte ein Kind beispielsweise vor den Sommerferien noch 15 mathematische Aufgaben lösen, so schaffte es nun unmittelbar nach den Sommerferien „nur“ 13. Man kann für die Fähigkeiten in der Rechtschreibung und dem rechnerischen Denken von einem kleinen Effekt der Verschlechterung sprechen, für das logische Denken von einem mittleren Effekt.

Redaktion: Und wie sah es dann neun Wochen nach Schulbeginn aus?

Paechter: Hier zeigte sich ein erfreuliches Ergebnis. Neun Wochen nach Schulbeginn übertrafen die Kinder die Fähigkeitsniveaus, die sie vor den Sommerferien hatten, beziehungsweise im logischen Denken erreichten sie wieder das Niveau aus der Zeit vor den Ferien. 

Für das Lesen gab es sogar für die Sommerferien selbst ein erfreuliches Ergebnis. Die Kinder schnitten unmittelbar nach den Ferien signifikant besser ab als vor ihnen. Sie hatten also auch in den Ferien ihre Fähigkeiten verbessern können. Allerdings muss man hinzufügen, dass die Studie vor der Corona-Pandemie in eher ländlichen bzw. kleinstädtischen Regionen in Österreich durchgeführt wurde. Sozialraumstudien zeigen, dass das Freizeitverhalten von Kindern in solchen Regionen eher homogen ist und sich weniger Differenzierungen zwischen Kindern mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund ergeben.

Redaktion: Spielt die Länge der Ferien bei Ihren Erkenntnissen eine Rolle? Ist etwa für sechs Wochen Sommerferien in Deutschland eine ähnliche Entwicklung anzunehmen?

Paechter: In Deutschland und insgesamt in Europa gibt es leider nur ganz wenige Studien, die Effekte der Sommerferien untersuchen. Aber die wenigen Studien weisen darauf hin, dass die Länge der Sommerferien eine von mehreren Einflussquellen ist.

Die Studien aus Deutschland ergeben ein gemischtes Bild; es sind allerdings nur zwei Studien. Die Lehr-Lernforscher Coelen und Siewert (Coelen et al. 2008) fanden in der fünften bis siebten Klasse, bei Kindern im Alter zwischen elf und 13 bei 60 Prozent der Kinder einen Verlust an Fähigkeiten im Fach Mathematik, allerdings keine Verluste beim Lesen. Im Rahmen einer umfassenden Studie untersuchten Stanat, Becker, Baumert, Lüdtke und Eckhardt (Stanat et al. 2012) den Bereich Lesen bei Kindern, die in die vierte Klasse kamen. Sie fanden keine Verluste über die Sommerferien. 

In einer schon etwas älteren Studie in Schweden – auch ein Land mit langen Sommerferien – fand Lindahl (Lindahl 2001) in der sechsten Schulstufe Verluste in den mathematischen Fähigkeiten. Die Länge der Sommerferien spielt also eine gewisse eine Rolle; aber die Verluste ergeben sich nicht aus der zeitlichen Länge, sondern daraus, dass die Kinder bestimmte Fähigkeiten in den Ferien seltener praktizieren. Kinder und natürlich auch Erwachsene verbessern ihre kognitiven Fähigkeiten, wenn sie diese nutzen, zum Beispiel etwas lesen, einen Text verfassen, etwas berechnen. Sie verkümmern dagegen, wenn sie nicht trainiert werden.

„In den letzten zwei Jahren der Corona-Pandemie haben wir wesentlich längere Zeiten als die sechs oder neun Wochen Sommerferien erlebt, in denen manche Kinder wenig Möglichkeiten hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zu nutzen.“

Prof. Dr. Manuela Paechter

An dieser Stelle ist es mir ein besonderes Anliegen darauf hinzuweisen, dass wir in den letzten zwei Jahren der Corona-Pandemie wesentlich längere Zeiten als die sechs oder neun Wochen Sommerferien erlebt haben, in denen manche Kinder wenig Möglichkeiten hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zu nutzen. Wie Studien, beispielsweise von Wössmann und Kolleg:innen, zeigen, hatte sich bereits im ersten Jahr der Corona-Pandemie die Zeit, die Kinder mit schulischen Aufgaben verbrachten, stark reduziert. Viele Kinder sind in den letzten Schuljahren mit einem Defizit in die Sommerferien gestartet, das sie über die Ferien in das nächste Schuljahr mitgenommen haben und auch in diesem Jahr wieder mitnehmen werden. Daher kommt den Sommerferien derzeit eine besondere Bedeutung zu.

Redaktion: Lernstand und Lernverluste sind während der Ferien  nicht in allen Fächern / Kompetenzbereichen gleich. Welche Unterschiede haben Sie festgestellt  und wie lassen sie sich erklären?

Paechter: In unserer Studie in Österreich zeigten sich Kompetenzverluste für die Bereiche Rechtschreibung, mathematisches Denken und logisches Denken. Beim Lesen gab es das erfreuliche Ergebnis, dass die Kinder, vor allem aber die Mädchen, ihre Kompetenzen über die Ferien steigern konnten. 

Wie lässt sich dies erklären? In den Ferien entfällt zwar die kognitive Anregung durch die Schule, aber Kinder haben auch weiterhin unterschiedliche Möglichkeiten sich geistig zu beschäftigen und zu lernen. Der Schlüssel, um sich in einem Bereich zu steigern, ist das Ausüben und das Praktizieren der kognitiven Fähigkeiten. Dabei geht es keineswegs darum, dass die Kinder Schulstoff lernen und schulische Aufgaben bearbeiten! Gerade das Lesen kann man in den vielfältigsten Situationen üben, sei es, dass man ein Buch, einen Comic, eine Gebrauchsanleitung, einen Reiseführer oder ähnliches liest. Auch die anderen Fähigkeiten kann man im Alltag nutzen, aber im Vergleich zum Lesen haben die Kinder in unserer Studie dies seltener getan. Lesen kann man in vielen naheliegenden Situation auch außerhalb der Schule üben. Schülerinnen und Schüler, sofern sie über die Sommerferien kognitiv gefördert werden, lesen eher Texte als dass sie Texte schreiben. 

Unterschiede zwischen den Verlusten in den Kompetenzbereichen kann man also damit erklären, wie häufig bestimmte Fähigkeiten praktiziert wurden. Die Kinder schalten ihr Gehirn ja in den Ferien nicht ab und wir Erwachsenen tun dies auch nicht im Urlaub; auch in dieser Zeit gibt es viele Aktivitäten, bei denen die Kinder sich geistig weiterentwickeln können.

Redaktion: Es gibt Hinweise darauf, dass die Auswirkung der Ferien auf den Lernstand der SchülerInnen auch von ihrer familiären und sozioökonomischen Situation abhängt. Was heißt das konkret?

Paechter: Wir fanden in unserer Studie für das rechnerische Denken einen Effekt des sozio-ökonomischen Hintergrunds, den wir über den Bildungsgrad der Mutter erfasst haben. Ein höherer Bildungsgrad wirkte sich positiv auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten aus. Hier scheint die Familie als anregende Ressource zu wirken, in der der Erwerb von Kompetenzen im Rechnen gefördert wird. 

Die Studien aus den USA verweisen durchwegs auf sehr starke Effekte der familiären und sozio-ökonomischen Situation, was Kompetenzverluste über die Ferien angeht. Lernen gelingt besser in einem anregenden Lernumfeld. Mit entsprechenden finanziellen Ressourcen, zeitlichen Ressourcen und Wissen um die Bedeutung der Förderung gelingt es besser, Kindern ein solches anregendes Umfeld zu bieten. Beispielsweise kosten gute Sommerschulprogramme in den USA in der Regel sehr viel Geld. Studien in den USA haben auch gezeigt, dass sich in den Ferien gerade in Familien mit niedrigerem sozio-ökonomischem Status die Zeit erhöht, die die Kinder vor dem Fernseher verbringen und dass in der schulfreien Zeit, der Zeitanteil der Kinder für die Kommunikation mit einer erwachsenen Person sinkt.

„In jedem Sommerferienzeitraum vergrößert sich diese Schere der Ungleichheit. Die Forscher gehen davon aus, dass Kinder aus ärmeren und bildungsferneren Familien in jedem Sommerferienzeitraum einen Rückstand von zwei Monaten im Lesen erleben.“

Prof. Dr. Manuela Paechter

Redaktion: Wie sehr vergrößern die ferienbedingten Lernverluste die Chancenungleichheit zwischen Kindern aus ärmeren Verhältnissen im Vergleich zu Kindern aus besser gestellten Familien?

Paechter: Die Forscher Cooper, Borman und Fairchild haben ihre Forschungsergebnisse zu der Entwicklung der Fähigkeiten im Lesen eindrucksvoll in einer Grafik dargestellt. Sie stellen darin die Entwicklung von Kindern vom Vorschulbereich bis zur fünften Klasse dar. Die Kinder aus ärmeren Familienverhältnissen und jene aus bessergestellten Familien unterscheiden sich zunächst kaum voneinander. Alle Kinder verbessern ihre Fähigkeiten im Lesen während des Schuljahrs und dies gilt für alle Schuljahre von Schulbeginn bis zur fünften Klasse. Doch bereits in den ersten Sommerferien geht eine Schere auf. Während die einen Kinder ihre Fähigkeiten auch über die Sommerferien steigern können, erleiden die anderen Verluste in ihren Lesefähigkeiten. Auch wenn im nächsten Schuljahr alle Kinder sich in ihren Fähigkeiten weiter steigern, können die Kinder aus ärmeren Familien die Verluste nicht wettmachen. Und in jedem Sommerferienzeitraum vergrößert sich diese Schere der Ungleichheit. Die Forscher gehen davon aus, dass Kinder aus ärmeren und bildungsferneren Familien in jedem Sommerferienzeitraum einen Rückstand von zwei Monaten im Lesen erleben!

Redaktion: Sind Sommerschulen und andere Lernprogramme während der Ferien eine gute Methode, um Lernverluste abzuschwächen? 

Paechter: Sommerschulen und Lernprogramme in den Ferien können Lernverluste nicht nur abschwächen, sondern sogar zu Lerngewinnen führen. Es geht jedoch nicht darum, den Lernstoff aus dem letzten Schuljahr zu wiederholen oder gar darum, den Stoff aus dem nächsten Jahr vorzuziehen. 
Lesen, Rechtschreibung, rechnerisches und logisches Denken kann man bei zahlreichen spannenden Aktivitäten unterstützen. Lernangebote in den Ferien sollten Anregung bieten, motivieren und Freude machen. Mit Projekten, Ausflügen und vielen anderen Aktivitäten kann man Kinder fördern und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten in ganz unterschiedlichen Bereichen anzuwenden und weiterzuentwickeln.

Redaktion: Können Sie dazu ein konkretes Beispiel geben?

Paechter: In einem Kinder- und Jugendzentrum in München erstellten Kinder in den Ferien an mehreren Tagen einen Trickfilm, einen Stop-Motion-Film. Hier werden all die vorher genannten Fähigkeiten im Lesen, Schreiben, logischem und rechnerischem Denken und weitere benötigt: Man muss ein Drehbuch entwickeln, dieses niederschreiben, einen Zeit- und Ablaufplan für die Filmaufnahmen machen, sich unter Umständen mit neuer Technik wie einer Kamera und Schnittsoftware vertraut machen, mit anderen Kindern in der Gruppe kommunizieren, gemeinsam Aufgaben planen und verteilen. Es wird quasi nebenbei gelernt und am Ende steht ein motivierendes Ergebnis, auf das jedes Kind stolz sein kann. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie Sommerferienangebote spannend und reich an Lernerfahrungen sein können.

Aber nicht nur organisierte Sommerprogramme bieten Anregung. Auch der Alltag hält anregende Lernumgebungen und Lerngelegenheiten bereit: Am Bahnhof herauszufinden, auf welchem Gleis der Zug abfahrt, fördert die Lesefähigkeit; gemeinsam ein Essen zu planen, für eine bestimmte Anzahl von Personen Zutaten einzukaufen und gemeinsam das Essen zuzubereiten, ist eine Lerngelegenheit für zahlreiche kognitive Fähigkeiten; bei einem Spaziergang im Wald Pflanzenarten zu bestimmen, fördert die geistige Entwicklung. Es gibt viele Möglichkeiten, wie Kinder diese Fähigkeiten in den Ferien weiter entwickeln können.

Natürlich kann es sich in manchen, seltenen Fällen lohnen, dass Kinder gezielt bestimmte Kenntnisse nachholen. Beispiel wären, wenn ein Kind aufgrund von Gründen wie einem Schulwechsel oder aufgrund von Versäumnissen in der Corona-Pandemie bestimmte Lerninhalte versäumt hat. Dann macht es Sinn, das Versäumte gezielt nachzuholen.

„Natürlich müssen und sollen sich Kinder in den Ferien auch erholen und abschalten. Aber das Erholen und Abschalten gehen ja nicht damit einher, dass man dann zwangsläufig auch das Gehirn abschaltet.“

Prof. Dr. Manuela Paechter

Redaktion: Sind diese Lernverluste Ihrer Einschätzung nach als dramatisch einzuschätzen? Ihrer Forschung zufolge sind sie innerhalb von neun Wochen wieder aufgeholt. Ist also ein gewisses Erholen beziehungsweise Abschalten in den Ferien nicht auch sinnvoll?

Paechter: Das stimmt, in unserer Untersuchung konnten die Kinder Lernverluste innerhalb weniger Wochen wieder aufholen. Und zudem gab es im Bereich des Lesens gar keine Verluste, sondern sogar einen Lernzuwachs. Allerdings wurde unsere Studie in einem eher ländlichen, sozial homogenen Umfeld und dazu noch vor der Corona-Pandemie durchgeführt. Betrachtet man die Studien aus den USA oder auch die Befragungen zum Lernen der Kinder während der Zeit von Schulschließungen in der ersten Phase der Corona-Pandemie, würde ich vermuten, dass die Effekte derzeit bedeutsamer sind.

Natürlich müssen und sollen sich Kinder in den Ferien auch erholen, abschalten können, loslassen können. Aber das Erholen und Abschalten gehen ja nicht damit einher, dass man dann zwangsläufig auch das Gehirn abschaltet. Im Gegenteil, bei vielen spannenden und faszinierenden Aktivitäten in den Ferien arbeitet unser Gehirn ja sozusagen auf Hochtouren. Das haben meine Beispiele vorher hoffentlich gezeigt. Lernen und Erholen widersprechen sich ja nicht.

Redaktion: Frau Professorin Paechter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Manuela Paechter ist Professorin für Pädagogische Psychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Dort bildet sie Studierende im Bachelor und Master Psychologie und Studierende im Lehramt Psychologie/Philosophie aus. Ihre Forschungsschwerpunkten liegen unter anderem in persönlichen Eigenschaften und Einstellungen von Lehrer:innen mit Emotionen, Motivation und Leistungen in Lernprozessen sowie Medienwirkungen, etwa die Auswirkungen der Mediennutzung von Kleinkindern auf ihre Entwicklung.