Anschluss für zugewanderte Kinder: Sind Vorbereitungs­klassen genug?

Schüler:innen mit wenig Deutschkenntnissen einzugliedern stellt deutsche Schulen vor erhebliche Herausforderungen. Ein Überblick darüber, wie es gelingen kann

Mehr als 150.000 Kinder aus der Ukraine besuchen inzwischen deutsche Schulen. Mit ihnen rücken bestimmte Fragen erneut ins Zentrum der Bildungsforschung: Wie bindet man diese Kinder mit teils ungewisser Bleibeperspektive und sehr unterschiedlichen Deutschkenntnissen erfolgreich ins Schulsystem ein? Was können in diesem Zusammenhang Vorbereitungsklassen leisten und was muss ergänzend hinzukommen, damit Integration gelingt? Das Online-Magazin schulmanagement hat dazu mit zwei Expertinnen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen gesprochen.

Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Daran lässt auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) in ihrer Stellungnahme zum Thema (Link unter diesem Artikel) keinen Zweifel. Nur mit dem „Erwerb der Bildungs- bzw. Unterrichtssprache Deutsch” sei eine „sinnvolle Teilnahme am Fachunterricht möglich”. Doch für die Vermittlung der notwendigen Sprachkenntnisse gibt es verschiedene Modelle: parallele und integrative. Und an diesen scheiden sich die Bildungsgeister.

Welche Modelle der Beschulung gibt es?

Bei den parallelen Modellen werden die neu zugewanderten Schüler:innen laut Konzept der SWK in eigens eingerichteten Vorbereitungsklassen (oftmals auch Willkommensklassen genannt) in allen Fächern unterrichtet. Den größten Anteil hat dabei der Deutschunterricht „mit einem Umfang zwischen zehn Wochenstunden in der Grundschule und 20 Wochenstunden in der Sekundarstufe”. Das Ziel: den Schüler:innen einen „möglichst schnellen” Übergang in eine Regelklasse zu ermöglichen. Konkret bedeutet dies, dass die Kinder „in der derzeitigen Umsetzung” zwischen sechs und 18 Monate in der Vorbereitungsklasse verweilen, schreibt die SWK.
 
Bei den integrativen Modellen werden die neu zugewanderten Schüler:innen direkt in bestehende Regelklassen aufgenommen, nehmen am Regelunterricht teil und erhalten dort je nach eingeschätztem Bedarf Unterricht in der Unterrichtssprache Deutsch. Wie viel Fachunterricht und wie viel Deutschförderung es dabei konkret für die einzelnen Schüler:innen gibt, entscheidet die Schule je nach individueller Ausgangslage.
 
Darüber hinaus gibt es auch Mischformen dieser beiden Modelle wie die teilintegrative Beschulung, bei denen Kinder oder Jugendliche eine Vorbereitungsklasse besuchen, aber für manche Stunden (zum Beispiel Sport, Musik, Kunst) in die Regelklasse wechseln.

Welche Kritik gibt es an den parallelen Modellen?

Juliane Karakayali ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB). Und sie sieht die parallele Beschulung in Vorbereitungsklassen aus der Perspektive der Organisations- und Migrationsforschung kritisch: „Die separierte Beschulung hat sowohl in der Geschichte wie auch in der Gegenwart sehr viele Nachteile mit sich gebracht.” Das liege vor allem daran, dass sie meist „nicht konzeptionell begründet” sei, sondern sich aus Ressourcenmangel und Ausgrenzungstendenzen ergebe. Und das habe Konsequenzen, erläutert Karakayali: „Die parallele Beschulung hat das Problem, dass sich mit ihr sehr schnell Standards entwickeln, die weit unter dem liegen, was Schule eigentlich bieten müsste – und was sie Schüler:innen in den Regelklassen auch bietet.” Sicherlich gebe es auch Schulen, in denen die Vorbereitungsklassen gut liefen, räumt Karakayali ein – wenn denn genügend Ressourcen, Kompetenzen, Lehrkräfte und auch eine engagierte Schulleitung hinter dem Modell stünden. „Es gibt aber auch sehr viele Schulen, die in dieser Überforderung alleine gelassen werden und – verständlicherweise – versuchen, sich durchzuwurschteln”, sagt die Professorin.

„Die separierte Beschulung hat sowohl in der Geschichte wie auch in der Gegenwart sehr viele Nachteile mit sich gebracht.“

Prof. Dr. Juliane Karakayali

Karakayali verweist auf die Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), die Vorbereitungsklassen in Berlin untersucht hat (Neumann, M. et al. 2020): „Über 60 Prozent aller Kinder, die solche Vorbereitungsklassen besuchen, sind nach Einschätzung der Schulleitung nach einem Jahr gar nicht in der Lage sind, in die Regelklassen überzuwechseln.” Offensichtlich lernten sie also nicht ausreichend das, was sie brauchen würden, um in der Regelklasse mitzukommen. Eine große Mehrheit gebe zudem an, dass sie die Vorbereitungsklassen nicht für geeignet hielten, Schüler:innen darauf vorzubereiten, in die Regelklasse überzugehen. „Das sind Ergebnisse, die wir ernst nehmen müssen.”

Welche Rechtfertigung gibt es für die parallelen Modelle?

Warum also überhaupt Vorbereitungsklassen? Hanna Sauerborn, Professorin für deutsche Sprache und Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg und ehemalige Grundschullehrerin, kann dem parallelen Beschulungsmodell durchaus Vorteile abgewinnen. Kinder oder Jugendliche, die ohne oder nur mit sehr geringen Sprachkenntnissen in der Unterrichtssprache Deutsch in das deutsche Schulsystem kämen, müssten im Vergleich zu den anderen Lernenden in der Schule deutlich mehr meistern. „Vorbereitungsklassen bauen für diese Kinder und Jugendlichen im Idealfall eine Brücke und helfen, den Übergang und das Ankommen in Deutschland zu erleichtern.”

Zwar hätten die Kinder im integrativen Modell, bei dem sie in eine Regelklasse gehen und zusätzliche Sprachförderung erhalten, den Vorteil, dass sie von Anfang an in ihre Regelklasse integriert werden könnten, sagt Sauerborn. „Ein Nachteil ist jedoch, dass die Kinder oft große Hemmungen haben, vor der Regelklasse zu sprechen und das entsprechend den Spracherwerb hemmt.” Natürlich sei es in der Realität leider so, dass die Frage nach der Wahl des Beschulungsform oft schulorganisatorischer Natur geschuldet sei und „weniger an dem Ziel der optimalen Integration und Inklusion der Lernenden ausgerichtet ist”, ergänzt die Didaktikerin.

Ist das integrative Modell besser als das parallele Modell?

„Was die Qualität der verschiedenen Modelle angeht, gibt es keine evaluative Untersuchung zu den Modellen und es darf bezweifelt werden, dass eine solche Vergleichsstudie empirisch zu fassen ist”, stellt Hanna Sauerborn fest. Zu viele Bedingungen spielten eine Rolle – die Form der Beschulung sei neben non-formalen Bildungsangeboten, Ressourcen der Lernenden, bisherige Schulbiographien und vielem mehr nur ein Aspekt. „Nicht nur zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es erhebliche Unterschiede, sondern auch zwischen Schulen und selbst innerhalb einer Schule können Angebote sehr unterschiedlich sein”, sagt die Didaktik-Expertin. 

Verschiedene Untersuchungen zu unterschiedlichen Aspekten innerhalb der Vorbereitungsklassen ließen dennoch gewisse Schlussfolgerungen zu: So seien hier etwa die Sprechangst und soziale Ausgrenzung geringer als in Regelklassen. Letztlich hänge die Qualität des Unterrichts jedoch vor allem von der Lehrkraft ab, erläutert Sauerborn.

„Nicht nur zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es erhebliche Unterschiede, sondern auch zwischen Schulen und selbst innerhalb einer Schule können Angebote sehr unterschiedlich sein.“

Prof. Dr. Hanna Sauerborn

Das integrative Modell, nach dem die Lernenden sofort in der Regelklasse mitlernen und zusätzliche Sprachangebote erhalten, sei „in der Theorie sicherlich das beste Modell”, so Sauerborn, denn es erfülle unter optimalen Bedingungen den Anspruch wirklicher Inklusion – „die enge Verzahnung von Regelunterricht und zusätzlicher Sprachförderung, die Kinder wirklich teilhaben lässt.” In der Praxis zeige sich jedoch oft, dass Lehrkräfte, die in der Sprachförderung arbeiten, bei hohen Krankenständen auf Seiten der Lehrkräfte für Vertretungen eingesetzt werden. „Haben sehr viele Kinder einen Anspruch auf zusätzliche Sprachförderung, stellt diese Form der Beschulung Schulen vor organisatorische Herausforderungen”.

Zudem befänden sich die Kinder, die sofort in eine Regelklasse aufgenommen werden in einer problematischen Situation: Aufgrund der Sprachbarriere würden sie naturgemäß zunächst wenig verstehen, was zu Langeweile und Frust führen könne. „Laut einer Studie scheint dies vor allem für die Kinder zu gelten, die eigentlich erfolgreiche Schulkarrieren im Herkunftsland hatten: Für sie ist die Diskrepanz zwischen dem, was sie könnten und dem, was sie aufgrund der sprachlichen Hürden nicht können, sehr groß”, erläutert die Expertin.

Was sind die entscheidenden Parameter für erfolgreiche Integration der Schüler:innen?

Die SWK schreibt, der Erfolg hänge bei beiden Modellen „ganz wesentlich von der Qualität und Quantität des Sprachunterrichts” ab. Schätzungen einer Forschungsgruppe aus den USA würden darauf hinweisen, dass Schüler:innen, die nach einem Jahr Vorbereitungsklasse ohne weitere Unterstützung in eine Regelklasse wechselten, bis zu zehn Jahre benötigten, um den Sprachstand nicht zugewanderter zu erreichen. Dagegen erreichten Schüler:innen mit kontinuierlicher Unterstützung in der Unterrichtssprache über die Vorbereitungsklasse hinaus dieses Ziel in durchschnittlich vier bis sieben Jahren. Interessant: Schüler:innen in bilingualen Programmen – wenn also der Unterricht zur Hälfte in der Unterrichtssprache und zur anderen Hälfte in der Herkunftssprache stattfindet – erreichen den angestrebten Sprachstand in etwa vier Jahren.

Konsequenterweise sprechen sich daher auch beide Expertinnen im Gespräch mit dem Online-Magazin schulmanagement für ergänzenden Unterricht in der Herkunftssprache aus: „Den Unterricht in der Herkunftssprache umfassend und konzeptionell an deutschen Schulen zu integrieren ist eine gute Idee“, sagt Juliane Karakayali. Hanna Sauerborn sieht das ganz ähnlich: „Es ist erstaunlich, dass Mehrsprachigkeit generell als ein großes Ziel gilt und manche Eltern ihre Kinder bereits im Kindergartenalter Angebote in Französisch, Englisch oder Chinesisch unterbreiten. Aber Kinder, die per se eine Mehrsprachigkeit mitbringen, sollen dann nur noch Deutsch sprechen. Die Kinder in ihrer Individualität wahrzunehmen und zu fördern, beinhaltet immer auch eine wertschätzende Berücksichtigung der Herkunftssprache.”

„Die Kinder sollen sich in der Schule wohlfühlen und in der Klasse soziale Beziehungen aufbauen. Denn die Interaktion mit anderen aus der Klasse beflügelt auch den Spracherwerb.“

Prof. Dr. Hanna Sauerborn

Ganz entscheidend für eine erfolgreiche Integration ist für Professorin Sauerborn zudem, dass der Übergang zwischen Vorbereitungs- und Regelklassen professionell gestaltet wird. Sie verweist dabei unter anderem auf eine Studie (von Dewitz, Nora et al. 2020), die gezeigt hat, wie bedeutsam die Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften der Regelklasse und denjenigen der Vorbereitungsklasse ist. „Vor dem Wechsel in die Regelklasse sollten die Kinder bereits einen Teil der Unterrichtszeit im Regelunterricht sein. Zudem sollte man die Kinder der Vorbereitungsklasse bei außerunterrichtlichen Aktivitäten mit der Regelklasse zusammenführen, das geht bei Ausflügen oder bei Spielen in der Pause”, so Sauerborn. Beim Klassenwechsel sei zudem der Austausch von Informationen zwischen den Lehrkräften entscheidend. „Was kann das Kind gut? Wo hat es Schwierigkeiten? Welche Brücken können im Regelunterricht gebaut werden?” Nachdem das Kind in die Regelklasse gewechselt sei, müsse die Sprachförderung weitergeführt werden und eng an den Unterricht in der Regelklasse gebunden sein. Professorin Sauerborn: „Wird im Sachunterricht zum Beispiel das Thema Schmetterlinge behandelt, kann man in der Sprachförderung bestimmte sprachliche Aspekte an diesem Thema üben. Die enge Verzahnung von sprachlichen und fachlichen Lernzielen ist ohnehin sehr sinnvoll.”

Am Ende hänge die erfolgreiche Integration in den Schulunterricht neben den fachlichen und sprachlichen Aspekten vor allem von der Einbindung in die soziale Gruppe ab. Sauerborn: „Die Kinder sollen sich in der Schule wohlfühlen und in der Klasse soziale Beziehungen aufbauen. Denn die Interaktion mit anderen aus der Klasse beflügelt auch den Spracherwerb.”

Zur Person

Prof. Dr. Juliane Karakayali ist Soziologin an der Evangelischen Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Migration, Rassismus und Geschlechterforschung.

Zur Person

Prof. Dr. Hanna Sauerborn ist Professorin für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie war zudem Grundschullehrerin am Adolf-Reichwein Bildungshaus in Freiburg.