Immer mehr Schüler:innen bekommen Diagnosen im Autismus-Spektrum

Das sollten Lehrerinnen und Lehrer über die inklusive Beschulung von autistischen Kindern und Jugendlichen wissen

„Ich wünschte, meine Lehrerinnen und Lehrer hätten mehr über Autismus gewusst!“ ist wahrscheinlich der häufigste Satz, der von Erwachsenen im Autismus-Spektrum über ihre Schulzeit geäußert wird. Auch wenn die mediale Aufmerksamkeit genauso wie die Zahl der Diagnosen in den letzten Jahren zugenommen hat, ist vielen Lehrkräften nicht bewusst, wie unterschiedlich die autistische Welterfahrung sein kann. Zwei Forschende erklären die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse.

Autismus kann vollkommen unterschiedlich in Erscheinung treten. Nicht umsonst wird deshalb von einem Autismus-Spektrum gesprochen. Es gibt kein standardisiertes Konzept, dem Lehrerinnen und Lehrer folgen können (vgl. Theunissen & Sagrauske 2019). Dementsprechend ist es besonders wichtig, dass Lehrkräfte über die Besonderheiten des Autismus-Spektrums Bescheid wissen.

Autismus wird diagnostiziert, wenn vier Kriterien als erfüllt eingeschätzt werden (vgl. WHO 2022):

  1. Schwierigkeiten in der Anbahnung und Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und Interaktion (zum Beispiel  im Verständnis nonverbaler und verbaler Kommunikation, im Erkennen von Emotionen und der passenden Reaktion)
  2. Eingeschränkte, sich wiederholende Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (zum Beispiel  durch Über- und Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen, unflexibles Festhalten an bestimmten Routinen und Regeln, anhaltende Beschäftigung mit einem oder mehreren speziellen Interessen)
  3. Erste Auffälligkeiten treten schon in der frühen Kindheit auf, in vollem Umfang möglicherweise auch erst später
  4. Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen (Familie, Schule, Beruf und so weiter). Allerdings ist es möglich, dass es zu Anpassungsleistungen kommt, welche meist mit außergewöhnlichen Anstrengungen einhergehen

Da die Auffälligkeiten meist erst durch den sozialen Vergleich sichtbar werden und für viele autistische Kinder die Anpassungsleistung als ‚normal‘ empfunden wird, kann es sein, dass es erst in späteren Schuljahren oder im Erwachsenenalter zu einer Diagnose kommt. Gerade dann kommt es zur Erfahrung der ‚unsichtbaren Behinderung‘, denn Diskriminierung, Mobbing und Benachteiligung werden trotzdem in hohem Maße erfahren.

Hinweis zur Identity-First-Sprache

Den Forderungen von Selbstvertretungsverbänden folgend, verwenden wir im Beitrag eine Identity-First-Sprache (‚autistische Menschen‘), keine People-First-Sprache (‚Menschen mit Autismus‘), da Autismus nichts ist, dass einfach abgelegt werden kann, sondern die gesamte Identität und alle Lebensbereiche beeinflusst.

Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten

Autismus äußert sich sehr vielfältig: Während für manche autistische Menschen die Interaktion mit ihrem Gegenüber schwierig ist, ist es für andere vor allem die Intensität bestimmter Reize. Als Barrieren im Alltag werden zum Beispiel unangenehme Geräusche und Töne, Lärm, unangenehme Gerüche und Geschmäcker, zu helles oder flackerndes Licht, viele und schnelle Bewegungen, zu viele Reize auf einmal (auch zu viele angenehme Reize), unbekannte Orte oder plötzliche Veränderungen genannt (vgl. Gerhards et al., 2023). Barrieren finden sich dadurch in allen Lebensbereichen.

Schule ist ein anspruchsvolles soziales Setting

Vor allem die Schule als ein verhältnismäßig unflexibles und anspruchsvolles (soziales) Setting stellt für autistische Kinder und Jugendliche eine Herausforderung dar. Umso wichtiger ist eine individuelle Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern – und dass diese selbst nach ihren Bedürfnissen gefragt werden. Dazu gehört auch, dass individuelle Schwierigkeiten ernst genommen werden (zum Beispiel die Lampe, deren Flackern die Lehrerin nicht wahrnimmt, oder quietschende neue Schuhe). Der Einbezug von Stärken und Interessen in den Unterricht ist unterstützend für den Lernprozess und kann die Stärken autistischer Kinder und Jugendlicher hervorbringen, was wiederum das Selbstwertgefühl fördert.

Auch die Aufmerksamkeit schwankt individuell stark – so können Situationen, bei denen andere Schülerinnen und Schüler sich mit einem Gegenstand beschäftigen, der für das autistische Kind einen hohen Stellenwert hat, hochgradig ablenkend sein. Andererseits kann es bei autistischen Menschen zum sogenannten Hyper-Fokus kommen, wenn teilweise weit über die Konzentrationsspanne der Mitschülerinnen und Mitschüler hinaus an einer Aufgabe gearbeitet werden kann.

Autismus-Awareness ist wichtiges Ziel

Besonders bedeutsam ist die Sensibilisierung von Lehrkräften, pädagogischem Fachpersonal und Mitschülerinnen und Mitschülern für die autistische Weltwahrnehmung. Eine unterstützende Klassenkultur, die Wert auf gegenseitigen Respekt und Wertschätzung legt, ist eine Grundlage für die Akzeptanz autistischer Schülerinnen und Schüler. Viele erleben sich selbst als ‚anders‘ – und das in fast allen Lebensbereichen. Es sollte individuell mit dem autistischen Kind oder Jugendlichen abgewogen werden, ob ein offener Umgang mit der Diagnose Stigmatisierung verstärkt oder Akzeptanz schafft. Die freie Entfaltung und Identitätsfindung autistischer Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, ist ein wichtiges Ziel einer autismussensiblen pädagogischen Arbeit – allerdings ist diese nur durch ein breites Bewusstsein für die individuellen Stärken und Herausforderungen von autistischen Menschen möglich.

Durch die veränderte Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen verhalten sich autistische Schülerinnen und Schüler oft anders, als es erwartet wird. Sehr oft wird nicht anerkannt, dass Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum (auch wenn sie undiagnostiziert sind) einfach nicht anders können. Äußerungen, wie ‚Hab dich nicht so‘, ‚Stell dich nicht so an‘ oder ‚Da musst du durch‘, gehören dann zum Alltag der autistischen Menschen. Vielfältige anstrengende Reize werden dann durch das Erfahren von Stress und externem Druck potenziert, was zu emotionalen Ausbrüchen oder völliges in-sich-Zurückziehen führen kann.

Wenn sich das Kind nicht anpassen kann, wie kann sich die Schule anpassen?

Sind Schulen und Lehrkräfte flexibel und offen, Veränderungen vorzunehmen, lässt sich vieles für autistische Kinder und Jugendliche vereinfachen. Einige Beispiele wären:

  • Offenheit für Beratung (zum Beispiel durch Autismus-Ambulanzen oder Beratungsstellen) und Weiterbildung seitens der Lehrkräfte
  • Über- und Untersensibilität der Wahrnehmung anerkennen und Unterstützung liefern, indem Reize reduziert oder angepasst werden (auditiv: Gehörschutz oder das Hören eigener Musik erlauben, Alternativen für Musik- und Sportunterricht einplanen; visuell: mit Rücken zum Fenster setzen, Sonnenbrillen erlauben; taktil: Bewegungsführungen anbieten, taktile Reizalternativen ermöglichen; olfaktorisch: Gerüche vermeiden oder auch Gerüche in Form von Geruchsdosen anbieten)
  • Rückzugs- und Entspannungsmöglichkeiten auch während des Unterrichts schaffen, zum Beispiel in Form von externen Räumen; dies bedeutet auch wenige Hausaufgaben, um Regenerationszeit zu Hause zu ermöglichen
  • Arbeitsaufträge nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich mitteilen, oder auch andere Unterstützungsleistungen geben wie das Markieren wichtiger Textstellen bei der Textinterpretation
  • Ironie und Redewendungen minimieren
  • Alternative Leistungsbeurteilungen und Nachteilsausgleiche (schriftlich anstatt mündlich oder andersherum, Vortrag nur vor der Lehrkraft, alternative Lösungswege zulassen und so weiter) an alle Beteiligten kommunizieren und auch umsetzen
  • Unterricht überwiegend in der Sozialform Einzelarbeit, wobei die Wahl für Partner- oder Gruppenarbeiten individuell ermöglicht werden kann – Gruppenarbeiten am besten in einer bewusst zusammengesetzten Gruppe mit verteilten Rollenzuweisungen und klaren Regeln
  • Bewegungspausen einplanen (auch zur Schaffung von Freiräumen für sich wiederholende und gleichbleibend wirkende Handlungen, um eine vermehrte Anspannung abzubauen)
  • Soziales Lernen und soziale Kompetenzen sollten Lerninhalt für alle Schülerinnen und Schüler der Klasse sein
  • Schulbegleitung kann sehr hilfreich sein, wenn die Kooperation zwischen ihr und der Lehrkraft gelingt, sie über pädagogische und autismusspezifische Grundkenntnisse verfügt und die Beschulung nicht nur von der Schulbegleitung abhängt
  • Zusammenarbeit mit Eltern, die oft Expertinnen und Experten für ihr Kind sind

Drei besonders große Herausforderungen für autistische Schülerinnen und Schüler, deren Lehrkräfte und alle anderen Beteiligten sind:

  1. Übergänge von der Kita in die Grundschule beziehungsweise weiter in die Sekundarstufe und in den Beruf
  2. Psychische Auswirkungen auf die autistischen Kinder und Jugendlichen, was sich in häufigen Begleiterscheinungen wie Depressionen, Schlafstörungen oder Migräne zeigt
  3. Schulverweigerungen und Schulausschlüsse; manche Schülerinnen und Schüler erleben diese monatelang (vgl. Grummt, Lindmeier & Semmler 2022).

Auch andere Schülerinnen und Schüler profitieren von einer autismusfreundlichen Schule

Ein klarer Unterricht, der die Kontrolle von Reizüberlastungen im Blick behält, nicht zu viele Schülerinnen und Schüler pro Klasse hat, bei dem gegenseitige Akzeptanz und Respekt im Vordergrund stehen, der nicht nur auf ein Lernen im Gleichschritt setzt, sondern individuelle und differenzierte Lernarrangements schafft mit Phasen der Regeneration und Bewegung, ist nicht nur für autistische Schülerinnen und Schüler zwingend nötig, sondern auch für alle Kinder und Jugendliche ein Gewinn. Doch eine autismussensible Schulkultur findet sich bisher nur selten. Einige Veränderungen können sicherlich nur auf der Leitungsebene umgesetzt werden, aber ungeachtet dessen haben Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Entscheidungsbereich bereits viel Spielraum, einen bewältigbaren und förderlicheren Schulalltag für autistische Schülerinnen und Schüler zu gestalten.

  • Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2022): ICD-11: International Classification of Diseases, 11th Revision. The global standard for diagnostic health information.
  • Gerhards, Lukas/ Moser, Vera/ Fuhrmann, Stephanie/ Schwager, Sabine/ Benecke, Mark/ Kleres, Jochen/ Knigge, Michael (2023): Partizipative Forschung im Projekt schAUT – Grundlagen und Gelingensbedingungen für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit im Kontext eines Verbundforschungsprojekts. In Lindmeier, Christian/ Sallat, Stephan/ Oelze, Kulig, Wolfram/ Grummt, Marek (Hrsg.), Partizipation – Wissen – Kommunikation. Tagungsband der Sektion Sonderpädagogik 2022. Klinkhardt.
  • Grummt, Marek/ Lindmeier, Christian/ Semmler, Romy (2022): Die Beschulungssituation autistischer Schüler:innen. Ergebnisse einer Elternumfrage. Gemeinsam leben, 2.
  • Theunissen, Georg, & Sagrauske, Mieke (2019). Pädagogik bei Autismus. Eine Einführung. Kohlhammer.
  • Zeidan, Jinan et al (2022): "Global prevalence of autism: A systematic review update." Autism research 15.5, S. 778-790.