„Jede Lehrkraft sollte zum Thema Mehrsprachigkeit fortgebildet werden“
Warum Prof. Hans-Joachim Roth an Schulleitungen und Lehrkräfte appelliert, die Herkunftssprachen von Schüler:innen im Unterricht systematisch zu nutzen.
Dass viele Schülerinnen und Schüler eine andere Muttersprache als Deutsch haben, macht Unterrichten teilweise komplizierter und eröffnet gleichzeitig Chancen. Prof. Dr. Hans-Joachim Roth erläutert, warum es wichtig ist, in der Schule nicht nur die Deutschkenntnisse der Schülerinnen und Schüler zu fördern.
Redaktion: Ihr Team forscht dazu, wie Lehrkräfte und Schulleitungen diejenigen Schülerinnen und Schüler am besten fördern können, die eine andere Muttersprache haben. Was sollten Lehrkräfte und Schulleitungen darüber wissen?
Prof. Dr. Hans-Joachim Roth: Dass man gezielt überlegt, wie man die Mehrsprachigkeit im Unterricht nutzen könnte. Zum Beispiel, indem man bei der Unterrichtsplanung genau überlegt, wann die Familiensprache der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielt und wann Deutsch. Das auszuloten, wie das funktionieren kann, da gibt es noch viel Forschungsbedarf. Man kann ja nicht von den Lehrkräften erwarten, dass sie jede Sprache ihrer Schüler und Schülerinnen sprechen, aber trotzdem kann man die Sprachen in den Unterricht integrieren.
Redaktion: Können Sie ein Beispiel nennen, wie sich das wirksam umsetzen lässt?
Roth: Man kann zum Beispiel bei einer Gruppenarbeit den Schülerinnen und Schülern anbieten, dass sie in der Gruppenphase auch in ihrer Herkunftssprache arbeiten können. Und wenn es dann an das Vorstellen der Ergebnisse geht, wechseln sie ins Deutsche. Dann ist es für die Lehrkräfte ja auch relativ leicht zu erkennen, was sie vorher gemacht haben.
Redaktion: Warum sollten Lehrkräfte nicht komplett auf Deutsch unterrichten?
Roth: Weil es mittlerweile wissenschaftlich erwiesen ist, dass, wenn man die Herkunftssprache in den Unterricht systematisch einbezieht, dann die gesamte Sprachentwicklung und die Leistungsentwicklung positiv beeinflusst wird. Insgesamt kann man sagen, wir sind über den Punkt hinaus, dass Mehrsprachigkeit schadet. Voraussetzung ist, dass es systematisch geschieht und das über einen langen Zeitraum.
Redaktion: Eigentlich wäre es also eine gute Sache, alle Lehrkräfte bei diesem Thema fortzubilden?
Roth: Ja, an einigen Ausbildungsstandorten spielt das ja auch schon eine Rolle in der Lehramtsausbildung, aber es ist lange noch kein Standard. Aber eigentlich müsste es Standard sein, wenn man überlegt, dass mittlerweile über die Hälfte der Kinder im Grundschulalter mit mehr als einer Sprache aufwächst. Fortbildungen zu diesem Thema werden bei uns auch stark nachgefragt. In einer idealen Welt sollte jede Lehrkraft zum Thema Mehrsprachigkeit fortgebildet werden.
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Weitere Infos
Redaktion: Welche Schwerpunkte sind das genau, in denen Schulleitungen und Lehrkräfte diesbezüglich weitergebildet werden sollten?
Roth: Etwa, wie eine mehrsprachige Entwicklung abläuft und was man in welchem Alter oder Stadium erwarten kann. Mit ein paar Mythen und Vorurteilen müsste man auch aufräumen. Es gibt zum Beispiel noch den Mythos, dass jemand besonders intelligent wird, wenn er mehrsprachig aufwächst. Weder das noch das Gegenteil ist der Fall. Und grundsätzlich geht es darum, mit Lehrkräften an ihrer Haltung zu arbeiten, wie es möglich ist, mit Kindern und Jugendlichen Unterricht zu machen in einer Sprache, die die Lehrkraft nicht spricht.
„Mehrsprachigkeit ist keine Krankheit, die man bekämpfen muss.“
Prof. Dr. Hans-Joachim Roth
Es hält sich auch der Mythos, dass Mehrsprachigkeit ein behindernder Faktor für die Entwicklung von Kindern ist. Früher wurde es als Krankheit betrachtet, und es gibt immer wieder Kontexte, in denen Kinder mit bestimmten Dingen Schwierigkeiten haben, dass dann gesagt wird ‚Ach ja, der oder die wächst ja auch zweisprachig auf. Dann ist das ja kein Wunder.‘ Dabei ist es meist richtiger, nach einer anderen Ursache suchen, weil die Mehrsprachigkeit oft gar nichts damit zu tun hat. Wenn Mehrsprachigkeit allein zu Förderentscheidungen führt, dann hilft man den Kindern damit meist nicht.
Redaktion: Können Sie Unterrichtsmaterialien zu dem Thema empfehlen?
Roth: Für viele Lehrkräfte dürfte der Methodenpool auf unserer Website sehr interessant sein. Das Angebot entwickeln wir auch immer weiter. Da gibt es auch Infos zum Thema Schreibförderung und ähnlichen Fragestellungen, aber auch speziell zum Thema Mehrsprachigkeit. Wir haben mittlerweile so viele Angebote auf der Seite, dass wir ein Sortiersystem entwickelt haben, um Nutzern die Orientierung zu erleichtern.
Redaktion: Ihr Team forscht ja auch zur Wirksamkeit von Sprachbildungskonzepten. Welche haben sich als besonders wirksam erwiesen?
Roth: Wir haben gerade eine große Review-Studie zum sprachsensiblen Fachunterricht durchgeführt. Da wurde zum Beispiel herausgestellt, dass die Methode „Scaffolding“ wirksam ist. Ich denke, dass den meisten Fachlehrerinnen und Fachlehrern heute klar ist, dass es nicht nur Sache des Deutschunterrichts ist, dass mehrsprachige Kinder in der Schule gut zurechtkommen. Die Art und Weise, wie man sprachlich agiert, ist auch für den Fachunterricht wichtig, da hat sich schon eine Menge getan. Nur die Methoden, wie man so etwas im Detail umsetzt, kennen noch nicht alle.
Redaktion: Was würden Sie Schulleitungen raten, die das Thema Mehrsprachigkeit an ihrer Schule verstärkt angehen wollen?
Roth: Es ist gut für Schulleitungen, wenn im Kollegium erstmal Konsens darüber herrscht, dass das Thema wichtig ist. Dann braucht es genügend Zeit, in der sich die Lehrkräfte über die Umsetzung Gedanken machen können und dabei idealerweise erkennen, welchen Nutzen sie selbst davon haben. Danach kann man ein Team bilden, das zum Beispiel Websites wie unsere zu dem Thema abgrast. Ich würde nicht einzelne Lehrkräfte, die supermotiviert sind, das alleine machen lassen. Man braucht ein Team, das dafür auch Zeit bekommt und dann allen seine Ergebnisse vorstellt, so dass sich alle mitgenommen fühlen. Das Team sollte auch Zeit bekommen, sich in seiner Region zu orientieren, um herauszufinden, ob sich an einer Uni in der Nähe beispielweise jemand gut mit Mehrsprachigkeit auskennt. Und bei den Studierenden, die sich für Praktika bewerben, könnte man gezielt schauen, welche sprachlichen Ressourcen die Bewerber und Bewerberinnen mitbringen, und wer deshalb gut zur Schule passt.
Redaktion: Herr Professor Roth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Hans-Joachim Roth ist seit 2005 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Bildungsforschung. Zwischenzeitlich war er wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln, aktuell ist er Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und leitet das Metavorhaben zur „Sprachlichen Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“.