Wie die Weichen für Basiskompetenzen früh gestellt werden können

Wie kann man Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen frühzeitig und erfolgreich vermitteln? Darüber sprachen Experten:innen beim Podium 1 der Bildungsforschungskonferenz in Heilbronn. Eine Zusammenfassung.

Was geben wir Kindern heute mit, damit sie im Morgen bestehen können? Und was muss sich in unserem Bildungssystem bewegen, damit dies besser gelingt? Das waren einige der zentralen Fragen der aim-Bildungskonferenz (Biko), in Heilbronn. Die rund 500 Besuchenden hatten die Gelegenheit, aus insgesamt 30 Workshops eine individuelle Auswahl zu treffen. Daneben diskutierten Expertinnen, Experten und Fachkräfte aus Wissenschaft und Praxis bei insgesamt fünf Podien – das Online-Magazin schulmanagement bietet hier in den kommenden Tagen Zusammenfassungen der wichtigsten Thesen dieser Diskussionsrunden. 

Beim ersten Podium ging es um Sprach-, Lese- und Mathekompetenzen – und wie diese besser vermittelt werden können. Schließlich hat der IQB-Bildungstrend im vergangenen Herbst Deutschland aufgeschreckt: Je nach Kompetenzbereich in Mathe oder Deutsch verfehlten 18 bis 30 Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler die Mindeststandards. Wie kann man diese Kompetenzen also besser fördern?

Sprachförderung: es geht nicht im sprachleeren Raum

Bereits bei der Keynote zum Auftakt der Biko von OECD-Direktor Prof. Dr. Andreas Schleicher wurde klar: Für die grundlegenden Zukunftskompetenzen werden die Weichen früh gestellt. Das betonte auch Prof. Dr. Rosemarie Tracy, Mitbegründerin des Mannheimer Zentrums für Mehrsprachigkeitsforschung, auf dem ersten Podium. Sie machte deutlich, dass Sprachentwicklung uns in die Wiege gelegt und „eigentlich kaum zu bremsen“ sei – wenn man denn für die passenden Rahmenbedingungen sorge. Kinder könnten wunderbar auch früh schon eine zweite Sprache lernen, „aber nicht im sprachleeren Raum“. Einige Voraussetzungen seien unabdingbar: der Blickkontakt, um den Mund und den Blicken des Sprechenden zu folgen. Eine ruhige Atmosphäre, in der man gut zuhören und einem Gedankengang über mehrere Sätze folgen könne. Leider seien diese recht einfach erscheinenden Erfordernisse oftmals nicht gegeben.

Für die Praxis der Sprachförderung sei zu empfehlen, schon früh ganz natürlich und auch schon unter Verwendung komplexer Sätze mit den Kindern zu reden. „Es macht überhaupt nichts, wenn sie am Anfang nichts verstehen. Kinder wissen, dass wir in der Regel darüber kommunizieren, was gerade im Moment passiert, und machen sich dann schon einen Reim darauf.”

Es gebe bei den Kindern für das Entdecken der Sprache im Grunde eine ureigene Freude und Neugier. „Es ist schrecklich, dass wir diesen Spaß am Lernen teilweise ausgrenzen, indem etwa Sprachverbote an Schulen ausgesprochen werden.“ Dass Kinder ihre Herkunftssprache mancherorts nicht sprechen dürften, sei „völliger Unsinn“. Wertschätzung und Anerkennung für Kinder, die sich sprachlich ausprobieren, sei wichtig. Tracy: „Man muss die Initiative der Kinder bestärken und nicht nur korrigieren: ‚Das heißt aber so oder so!‘“

Vorlesen fördert die Persönlichkeit

Um die Kompetenz des Lesens frühzeitig zu stärken, so machte Prof. Dr. Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen, deutlich, müsse man das Lesen im Alltag der Kinder verankern. Dabei gehe es darum, nicht nur auf Kita und Schule zu schauen, sondern „auf den gesamten Lebensraum“, in dem Kinder aufwachsen. Kindern sollte schon frühzeitig immer wieder geschriebener Sprache begegnen – „sei es auf einem Etikett, einem Klingelschild, einer Speisekarte“. Kinder hätten einen Riesenspaß daran, etwa den ersten Buchstaben des eigenen Namens zu entdecken.

Zusätzlich müsse man den Zugang zu Lesemedien ermöglichen, „etwa indem man mit den Kindern Bilderbücher anschaut", gemeinsam über deren Inhalte spreche und Texte vorlese, riet Professorin Ehmig. „Damit eröffne ich für die Kinder eine Welt und das Bewusstsein, dass es nicht nur um das Entschlüsseln von Text geht, sondern um die Geschichten dahinter. Das ist der erste Schritt zum eigenen Lesen.“

Eine frühe Leseförderung wirke sich auch auf die Autonomie- und Persönlichkeitsentwicklung positiv aus. „Wir wissen, dass Kinder, denen vorgelesen wurde, später sehr viel stärker Empathie zeigen, einen stärkeren Gerechtigkeitssinn entwickeln, dass sie eher für andere mitdenken“, berichtete Professorin Ehmig. Die Kinder hätten über das Lesen und das Nachvollziehen von Geschichten ein Repertoire erworben, wie es Menschen gerade geht, was ihnen passieren kann und wie sie situativ damit umgehen können. „Das sind Impulse, die für sie selbst und ihren eigenen Umgang mit Leben, mit anderen Menschen und ihr Hineinwachsen ins Leben eine immense Rolle spielen.“

„Leider wird die natürliche Neugier Kindern schnell abtrainiert. Es kommt der Leistungsgedanke dazu, es kommt ‚richtig‘ und ‚falsch‘ hinzu und damit die Angst, eine falsche Antwort zu geben.“

Tanja Holstein-Wirth, Stiftung Rechnen

Das Lesen und Vorlesen benötige dabei dringend einen Imagewandel, befand Professorin Ehmig. Beim Lesen würden die meisten Menschen an Literatur, Kaminfeuer und Bücherregale denken. Für Menschen, bei denen solche Dinge nicht Teil der Ausstattung des eigenen Zuhauses sind, wirkten solche Assoziationen eher abschreckend. „Für viele Eltern, die nicht vorlesen, bedeutet das Vorlesen etwas, was sie überfordert.“ Sie denken, sie müssten etwas können, etwas Besonderes leisten. Man müsse solchen Eltern diesen unnötigen Druck nehmen und sie ermutigen. Ehmig: „Vorlesen geht immer und überall. Ich kann auch Bilder auf dem Smartphone anschauen und dazu eine Geschichte erzählen.“

Mathe praktischer, fächerübergreifend und mit mehr Freude gestalten

Ein noch größeres „Image-Problem“ habe Mathematik, wie Tanja Holstein-Wirth von der Stiftung Rechnen auf dem Biko-Podium bestätigte. „Jemand, der viel liest, gilt bei uns als kultiviert und gebildet. Jemand, der sich gern mit Zahlen befasst, als Nerd.“ Ähnlich wie bei der Sprache und beim Lesen gebe es auch bei Mathematik eine natürliche Neugier der Kinder. „Kinder befassen sich mit Zahlen, fangen früh an zu zählen, auf den Kalender zu schauen und lernen die Uhrzeit.“ Leider werde diese Offenheit schnell abtrainiert. „Es kommt der Leistungsgedanke dazu, es kommt ‚richtig‘ und ‚falsch‘ hinzu und damit die Angst, eine falsche Antwort zu geben.“ Und manchmal auch die Angst der Erziehenden. Manche Eltern hätten aufgrund eigener schlechter Schulerfahrungen im Fach Mathematik Berührungsängste mit den Hausaufgaben der Kinder. „Das spüren die Kinder wiederum.“

Holstein-Wirth beschrieb positive Ideen, um diese alten Klischees zu durchbrechen und „auf spielerische Weise“ neue Zugänge zu Mathematik zu finden und deren praktische Relevanz im Alltag zu entdecken. So sei etwa zu Beginn der Pandemie  sehr schnell klar gewesen, dass es wichtig ist, exponentielles Wachstum zu verstehen und Statistiken schnell erfassen zu können. Im Programm Matheforscher der Stiftung Rechnen wiederum würden  Unterrichtseinheiten mit für den Klimawandel relevanten Rechnungen entwickelt, oder in höheren Klassen Handyversicherungen mit einem Versicherungsmathematiker durchgerechnet – und so Wahrscheinlichkeitsrechnungen an einem praktischen Beispiel „fast nebenbei“ vermittelt.

„Das Bildungssystem müsste von der Kita aus gedacht werden und dann fragen: Was braucht das Kind in welcher Lebensphase für Unterstützung, so dass es ein lebenslanges Lernen im Umgang mit dem Unbekannten entwickeln kann.“

Michael Fritz, Haus der kleinen Forscher

Man ginge mit dem Unterricht auch gerne bewusst aus dem Klassenraum heraus – mache Mathematik im Schwimmbad oder im Zoo, beschrieb Holstein-Wirth weiter. Die Verknüpfung mit anderen Fächern, das Überwinden des Konkurrenzdenkens zwischen Fächern sei in diesem Zusammenhang immens wichtig, darin war sich die Runde einig. „Wenn man das macht, sieht man, wie das Interesse steigt. Schülerinnen und Schüler beginnen mehr Fragen zu stellen.“ Oftmals gerade jene, die sich im regulären Unterricht nicht trauten, etwas zu sagen.

Grundlegende Skills werden schon in der Kita angelegt

Michael Fritz, Vorstand der Stiftung Haus der kleinen Forscher, betonte auf dem Podium, nochmals, was auch schon Prof. Dr. Andreas Schleicher zum Auftakt der Biko dargelegt hatte: Die zentrale Fähigkeit für ein Leben in der Zukunft, dessen Bedingungen wir heute in großen Teilen noch nicht vorhersagen können, sei der Umgang mit Veränderung. Dazu brauche es Sozialkompetenz, Kommunikationsskills und die Fähigkeit, sich die Welt zu erschließen – alles Kompetenzen, deren Grundlagen schon in der Kita gelegt würden. Das ganze Bildungssystem müsse daher andersherum aufgebaut werden: „Es müsste von der Kita aus gedacht werden und dann fragen: Was braucht das Kind in welcher Lebensphase für Unterstützung, so dass es ein lebenslanges Lernen im Umgang mit dem Unbekannten entwickeln kann.” Das Kind müsse nicht beweisen, dass es schulfähig ist. Die Schule müsse beweisen, dass sie kindfähig ist, so Fritz. Es war ein Thema, das noch mehrfach in späteren Diskussionsrunden der Biko aufgegriffen werden sollte.

Zu Podium 2: Wie Schule in der digitalen Welt ankommen kann 
Medienkompetenz und die Fähigkeit, digitale Geräte als Werkzeuge zu nutzen – wie das in der Schule gehen kann, darüber diskutierte das Podium 2 auf der Bildungskonferenz in Heilbronn. Eine Zusammenfassung.