„Fünfmal in der Woche, 15 Minuten sind besser als einmal pro Woche eine Schulstunde“

Für die Sicherung von Basiskompetenzen im Fach Deutsch braucht es effektive Sprachförderungsmaßnahmen. Worauf es dabei ankommt, schildert der Direktor des Mercator-Instituts, Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, im Interview.

Schülerinnen und Schüler, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, können dem Unterricht auch in anderen Fächern nur schwer folgen. Umso gravierender sind die Befunde des aktuellen IQB-Bildungstrends. Fast 19 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler verfehlen die Mindeststandards im Bereich Lesen. Besonders ausgeprägt sind die Defizite mit rund 30 Prozent im Bereich Orthografie. Die Dringlichkeit von Sprachfördermaßnahmen wurde auch auf der IQB-Fachtagung in Berlin betont. Welche Erkenntnisse bei der Umsetzung helfen, erläutert Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts, im Interview.

Redaktion: Warum sind Basiskompetenzen im Fach Deutsch so bedeutsam für den Schulerfolg der Schülerinnen und Schüler insgesamt?

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek: Unter Basiskompetenzen verstehe ich zunächst, dass Schülerinnen und Schüler zuhören können und eigene Ideen mündlich ausdrücken, sowie Texte flüssig lesen und schreiben können. Diese Kompetenzen sind für die Schule deswegen so wichtig, weil ohne diese Fähigkeiten die Teilnahme am Unterricht in praktisch allen Fächern gefährdet ist.

Redaktion: Im IQB-Bildungstrend werden für Deutsch die Kompetenzbereiche Lesen, Zuhören und Orthografie in den Blick genommen – inwieweit lassen sich dadurch die Basiskompetenzen überhaupt erfassen?

Becker-Mrotzek: Diese drei Kompetenzbereiche decken nicht alles ab. Aber es sind diejenigen, die sich am einfachsten operationalisieren lassen. Das Schreiben im Sinne der Textproduktion ist wesentlich aufwändiger zu erheben und auszuwerten als zum Beispiel die Orthografie, bei der wir klare Regeln haben. Die Beurteilung von Schülertexten schwankt dagegen, stark, wie wir seit vielen Jahren wissen und es wäre ein erheblicher Aufwand für die Auswertung erforderlich. Insofern erfassen die Bildungsstandards nicht alle relevanten Bereiche, aber wichtige.

„Wichtig ist, dass die Fördermaßnahmen kurze, trainingsförmige Einheiten umfassen.“

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek

Redaktion: Welche empirisch belegbaren Fördermaßnahmen gibt es, um die Lese- und Schreibkompetenz von Schülerinnen und Schülern zu verbessern?

Becker-Mrotzek: Die Förderung, die wir für diejenigen Kinder und Jugendlichen benötigen, die an den Mindeststandards scheitern, muss systematisch sein, das wissen wir sehr gut. Das heißt, die Maßnahmen müssen zunächst einmal über einen längeren Zeitraum angelegt sein. Ebenfalls wichtig ist, dass die Fördermaßnahmen kurze, trainingsförmige Einheiten umfassen – besser fünfmal in der Woche 15 Minuten als einmal pro Woche eine ganze Schulstunde. Das ist wie beim Ausdauertraining. Auch dort ist das Ergebnis besser, wenn man regelmäßig trainiert, als sich einmal zu übernehmen. Daneben spielt die Strukturierung der Fördermaßnahme eine zentrale Rolle: Die Schülerinnen und Schüler müssen wissen, was sie tun sollen, und sie brauchen eine schnelle Rückmeldung, ob das, was sie gemacht haben, passt oder nicht passt.

„Es gibt mittlerweile gute Leseförderprogramme, die sowohl die Leseflüssigkeit verbessern, als auch Lesestrategien vermitteln.“

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek

Redaktion: In der Umsetzung von Fördermaßnahmen sind vor allem Lehrkräfte in der Verantwortung. Gibt es evidenzbasierte Materialien bezüglich Diagnostik und Fördermaterial aus der Bildungsforschung auf die Lehrkräfte zurückgreifen können?

Becker-Mrotzek: Es gibt für einzelne Bereiche mittlerweile gute Diagnostika, was zeigt, dass wir nach Pisa 2000 in diesem Bereich doch eine Menge gemacht haben. Es gibt gute Leseförderprogramme, die sowohl die Leseflüssigkeit verbessern, als auch Lesestrategien vermitteln. Dazu zählen die Lautlese-Tandems für die Leseflüssigkeit, aber auch Fördermaßnahmen wie das Programm Textdetektive, um Lesestrategien auszubilden.

Lautlese-Tandems und Textdetektive

Im Gegensatz zum Reihum-Lesen, verhelfen Lautlese-Tandems Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrem Entwicklungsstand zu mehr Leseflüssigkeit. Die Tandems setzen sich aus einem lesestärkeren und einem leseschwächeren Kind zusammen, die einen Text gemeinsam lesen und dabei die Rollen des Lesetrainers beziehungsweise des Lesesportlers einnehmen. Das Konzept der Lautlese-Tandems ist gut erforscht und hat sich in der Praxis bewährt.

Das Programm Textdetektive nimmt die texterschließende Lesekompetenz in den Blick. Ab der 5. Klasse können Schülerinnen und Schüler mit den Materialien des Programms als Detektive an einen Text herangehen und ihn mit verschiedenen Lesestrategien unter die Lupe nehmen. Auf diese Weise können wirksame theoretische Konzepte, darunter das selbstregulierte Lernen und die explizite Instruktion von Lesestrategien, durch konkretes Material in den Unterricht implementiert werden. Die Wirksamkeit zur Verbesserung des Leseverständnisses wurde in mehreren Evaluationsstudien bestätigt.

„Bestimmte Fördermaßnahmen können mit der gesamten Klasse durchgeführt werden, weil sie letztlich allen Kindern zugutekommen.“

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek

Redaktion: Nun fehlen deutschlandweit bereits Lehrkräfte: Wie kann der Anspruch der gezielten und individuellen Förderung leistungsschwächerer Schüler in dieser Situation gelingen?

Becker-Mrotzek: Die Maßnahmen, von denen ich gerade gesprochen habe, sind nicht unbedingt individuelle Maßnahmen. Bestimmte Maßnahmen können in der Grundschule mit der gesamten Klasse durchgeführt werden, weil sie letztlich allen Kindern zugutekommen. Zum Beispiel profitieren von Lese-Tandems sowohl die lesestarken wie auch die leseschwachen Kinder. Bei anderen Maßnahmen kann es zielführend sein, die Förderung mit zwei Klassen zum selben Zeitpunkt durchzuführen und die Schülerinnen und Schüler dabei zu mischen. Es geht für die einzelne Schule darum, das organisatorische Modell zu finden und umzusetzen, das zu den jeweiligen Anforderungen passt.

Redaktion: Wie können Quer- und Seiteneinsteiger zur Sicherung der Basiskompetenzen beitragen?

Becker-Mrotzek: Zunächst braucht es ein Grundverständnis dafür, wie Lesen und Schreiben funktionieren, damit man einschätzen kann, wo Probleme liegen können. Das ist kein Hexenwerk. Besonders, da viele Fördermaßnahmen materialgestützt sind, die Schülerinnen und Schüler also Aufgabenhefte haben, die nachvollzogen werden können, und Lehrkräfte Skripte an die Hand bekommen, worauf sie in den einzelnen Stunden achten sollten. In solche Maßnahmen kann man sich relativ schnell einfinden. Aber diese machen nur einen kleinen Teil des Unterrichts aus, einen wichtigen zwar, aber Lehrkräfte müssen auch in der Lage sein, im Unterricht anschließend darauf einzugehen. Und das lässt sich natürlich nicht kurzfristig vermitteln. Hier zeigt sich dann, wie nachhaltig die Basiskompetenzen im Unterricht verankert werden.

„Im Grunde ist die Sicherung von Basiskompetenzen eine Aufgabe der Schul- und Unterrichtsentwicklung.“

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek

Redaktion: Welchen Beitrag können Schulleitungen zur Sicherung von Basiskompetenzen leisten?

Becker-Mrotzek: Schulleitungen spielen eine ganz wichtige Rolle. Im Grunde ist die Sicherung von Basiskompetenzen eine Aufgabe der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Viele Fördermaßnahmen wie das „Förderband“ können per definitionem nicht von einer Lehrkraft allein durchgeführt werden, sondern bedürfen des gesamten Kollegiums. Die Lehrkräfte müssen sich darauf verständigen, wie oft die Maßnahme durchgeführt wird, über welchen Zeitraum, welches Material und welche Diagnostika dabei zum Einsatz kommen. Zur Aufgabe von Schulleitungen gehört es, solche Prozesse zu moderieren und Teams, die Fördermaßnahmen anbieten wollen, entsprechend zu unterstützen. Zudem tagen sie die Verantwortung, auch externe Unterstützung, zum Beispiel durch das Landesinstitut, ins Haus zu holen. 

Redaktion: Langfristige Lernstandserhebungen sind die eine Seite. Wie können Lehrkräfte direkt im Klassenzimmer nachvollziehen, ob die von ihnen eingesetzte Fördermaßnahme für die Schülerinnen und Schüler Wirkung zeigt?

Becker-Mrotzek: In unseren Materialien arbeiten wir zum Beispiel mit regelmäßigem Feedback. Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen, gehört zur Schreibflüssigkeit, dass Schülerinnen und Schüler Texte flüssig abschreiben können. Die Kinder können dann Woche für Woche überprüfen, wie viele Wörter sie in einer bestimmten Zeit abschreiben können. Die Erfolgskurve geht hier in der Regel nach oben. Das können Lehrkräfte wiederum für die gesamte Klasse auswerten und sehen, wie die Leistungsentwicklung in den unterschiedlichen Bereichen nach oben geht. Und jede Schülerin und jeder Schüler sieht auch direkt selbst, dass sie oder er sich verbessert. Das ist für die Motivation ganz wichtig.

Redaktion: Herr Professor Becker-Mrotzek, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek ist Direktor des Mercator-Instituts, Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Universität zu Köln und Mitglied der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz.