Brauchen wir ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte?

Prof. Olaf Köller im Gespräch darüber, ob ein neues Arbeitszeitmodell gegen Lehrermangel und Überlastung helfen könnte

Eine Expertise von Mark Rackles, ehemaliger Staatssekretär für Bildung im Senat von Berlin, liefert der Debatte um Arbeitszeitmodelle neues Futter. Prof. Olaf Köller erklärt im Interview, warum ein neues Arbeitszeitmodell seiner Meinung nach nicht alle Probleme lösen würde

Redaktion: Was halten Sie von der Kritik am aktuellen Arbeitszeitmodell für Lehrer und Lehrerinnen?

Prof. Dr. Olaf Köller: Die ist ja ehrlich gesagt nicht ganz neu. In Hamburg gibt es ja das Deputatsstundenmodell schon seit einigen Jahren nicht mehr und das dort neu eingeführte Arbeitszeitmodell nimmt ja schon auf verschiedene Dinge Rücksicht: Etwa dass Fächer unterschiedlich belastet sind, dass andere Aufgaben in Schulen zu übernehmen sind jenseits des klassischen Unterrichtens und dass man diese ganzen neuen Tätigkeiten einbezieht – das alles wird uns in Hamburg vorgelebt. Nicht ganz ohne Kritik, aber immerhin wurde das Arbeitszeitmodell im Einklang mit der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft entwickelt. Insofern ist das, glaube ich, ein guter Ansatz, um noch mal grundsätztlich über die Arbeitszeit von Lehrkräften zu diskutieren und auch noch mal zu reflektieren, dass die allgemeine durchschnittliche Wochenarbeitszeit derzeit bei rund 50 Stunden liegt gegenüber 47 im Hamburger Modell. Trotzdem löst die von Rackles vorgelegte Expertise keins der aktuellen Probleme. Im Moment geht es ja nicht vornehmlich darum, dass die Lehrkräfte unter der Arbeitszeit stöhnen, sondern dass wir einfach zu wenige haben.

Deutsches Deputatsmodell für Lehrkräfte

In einer kürzlich veröffentlichten Expertise kritisiert Mark Rackles, ehemaliger Staatssekretär für Bildung im Senat von Berlin das deutsche Deputatsmodell für Lehrkräfte, bei dem lediglich Unterrichtsstunden als Maßstab für die Arbeitszeit von Lehrkräften dienen. Dieses Modell sei tendenziell überlastend, ineffizient, ungerecht und unflexibel. Auf Grundlage aktueller Forschung kritisiert er unter anderem, dass das derzeitige Modell die Arbeitszeit außerhalb des Unterrichtsdeputats nicht ausreichend berücksichtige. Teils dringliche Aufgaben führten pro Lehrkraft durchschnittlich zu gut drei unbezahlten Überstunden die Woche. Die einheitlichen Deputatsstunden würden des Weiteren nicht der Tatsache Rechnung tragen, dass der Arbeitsaufwand je Unterrichtsstunde eher vom Fach und von der Schulstufe abhängt. Studien belegten, dass die tatsächlichen Arbeitszeiten je nach Schulart, -Stufe und Fächerkombination bis zu 25 Prozent voneinander abweichen würden. Die starre Zuweisung von Deputatsstunden verhindere zudem etwa auch eine Anpassung der Zeitbudgets an die Bedarfe der einzelnen Schulen. Zudem sei das derzeitige Arbeitszeitmodell unflexibel gegenüber neuen Aufgaben und Anforderungen. Diese würden im Gegensatz zu erfassten Pflichtstunden zunehmend dem unbestimmten Teil der Arbeitszeit zugeordnet. Er schlägt ein Arbeitszeitmodell vor, das all diesen Herausforderungen Rechnung trägt.

Redaktion: Aber wenn in einem neuen Arbeitszeitmodell etwa Lehrkräfte mit Fächern mit geringerem Vor- und Nachbereitungsaufwand wie zum Beispiel Musik und Sport mehr Stunden übernähmen als Lehrer und Lehrerinnen mit hohem Korrekturaufwand – dann könnte der Lehrermangel doch etwas aufgefangen werden?

Köller: Wenn man das denn durchsetzen kann, dass etwa Musik- und Sportlehrer wirklich so viel unterrichten müssen. Wenn das gelänge, könnte man sicherlich einen Teil des Mangels auffangen. Aber ich denke nicht komplett, dafür sind ja doch die Prognosen zu ungünstig: Wenn man Klaus Klemms Analysen glaubt, fehlen ja möglicherweise bis 2035 fast 200.000 Lehrkräfte. Da müsste man dann auch nochmal genau in die Analyse gehen, bei welchen Fächern man wirklich systematisch einsparen kann. Im Moment haben wir auch das Problem was auch zurecht kritisiert wird, dass nicht hinreichend nach Schulformen differenziert wird. Und dann haben wir ja auch noch ein sehr starkes Problem in der Grundschule, wo ohnehin das Klassenlehrer-Prinzip gilt – also um es nochmal auf den Punkt zu bringen. Ein neues Arbeitszeitmodell könnte ein wenig zur Linderung beitragen. Aber es wird keines dieser Probleme wirklich lösen.

Redaktion: Die Studie der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, deren Vorsitzender Sie sind, hat ja als Ziel auch ausgerufen, die Teilzeitquoten zu senken. In Hamburg ist die Teilzeitquote mit 58 Prozent aber wesentlich höher als in vielen anderen Bundesländern. 

Köller: Das ist eben kein Automatismus. Wenn man das Arbeitszeitmodell anpassen würde, heißt das nicht, dass dann automatisch die Teilzeitquote sinken wird. Die Teilzeitquote hat ja auch etwas mit Lebensplanung zu tun und nur zum Teil etwas mit Belastungserleben im Berufsalltag. Dass man das automatisch lösen könnte, dafür haben wir jedenfalls bislang keine Evidenz. Und es ist natürlich auch zu einfach zu sagen, dass Hamburg eine so hohe Teilzeitquote wegen des Arbeitszeitmodells hat. Wie gesagt, Teilzeit hat viele Gründe. 

Redaktion: Von einem neuen Arbeitszeitmodell verspricht sich die Expertise von Mark Rackles auch eine höhere Attraktivität des Lehrerberufs. Was denken Sie darüber?

Köller: Wir haben überhaupt keine Evidenz dafür, dass die Attraktivität des Lehramtsstudiums in den letzten Jahren abgenommen hätte. Nach wie vor beginnen etwa zehn Prozent eines Abiturjahrgangs ein Lehramtsstudium – nur die Studierendenzahlen insgesamt sind zurückgegangen. Zudem wissen wir nicht verlässlich, ob die Studienabbruchquoten im Lehramtsbereich steigen oder ob nach dem Studium nur weniger ins Referendariat gehen und warum. Deswegen sind auch solche Aussagen, man müsse nur das Arbeitszeitmodell ändern, um eine vermeintliche Unzufriedenheit abzubauen, schwierig, weil man ja gar nicht weiß, ob es zutrifft, dass die Unzufriedenheit in letzter Zeit zugenommen hat.

Hinsichtlich der Attraktivität des Berufes wissen wir, dass man Lehrerinnen und Lehrern etwas Gutes tut, wenn man sie von unterrichtsirrelevanten Tätigkeiten entlastet. Geld scheint weniger wichtig zu sein. Ob ein höheres Gehalt zum Beispiel mehr Lehrer und Lehrerinnen an Brennpunktschulen bringen würde, auch dazu haben wir wenig empirische Evidenz. Was wir wissen ist, dass in den ländlichen Regionen ja teilweise schon diese Zuschläge bezahlt werden, wenn sich Lehrkräfte entscheiden, aufs Land zu gehen, aber sie kommen trotzdem nicht, sondern sie bleiben in den Städten.

Redaktion: Herr Professor Köller, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Olaf Köller ist Psychologe und seit 2009 geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel. Zuvor war er Gründungsdirektor des IQB und Professor für Empirische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Bildungsmonitoring, Diagnose schulischer Kompetenzen, individuelle Entwicklungsprozesse unter den institutionellen Rahmenbedingungen von Schule und die Evaluation von Schul- und Unterrichtsentwicklungsprogrammen.