„Eine Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich Veränderungen im Schulsystem”
Prof. Dr. Ludger Wößmann spricht über die Ergebnisse des Bildungsbarometers 2023 – und die Chancen für einen notwendigen Wandel im Bildungssystem
Das Schulsystem wird von der deutschen Bevölkerung kritischer wahrgenommen als in vorherigen Jahren. Das ist eines der Ergebnisse des neuen ifo-Bildungsbarometers, für den eine repräsentative Stichprobe von 5500 Erwachsenen zum deutschen Bildungssystem befragt wurde. Über die Ergebnisse spricht Ludger Wößmann, Leiter des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik, im Interview.
Redaktion: Herr Prof. Wößmann, im neuen Bildungsbarometer heißt es, “dass sich die Zufriedenheit der Deutschen mit dem Schulsystem auf einem Tiefstand befindet”. Woran genau machen Sie das fest?
Prof. Dr. Ludger Wößmann: Mit dem ifo-Bildungsbarometer haben wir eine repräsentative Stichprobe der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland im Alter von 18 bis 69 Jahren, die uns einen Überblick gibt über das, was die Menschen in diesem Land zu verschiedenen Bildungsthemen denken. Eine einfache Frage, die wir den Teilnehmenden stellen, lautet: Welche Schulnote geben Sie den Schulen in Ihrem Bundesland? 27 Prozent der deutschen Bevölkerung gaben in diesem Jahr den Schulen die Note 1 oder 2. In den vergangenen Jahren, in denen wir diese Frage auch gestellt haben, pendelte sich dieser Wert um etwa 37 Prozent ein. Verglichen dazu wurde hier in diesem Jahr ein absoluter Tiefstand erreicht. Der Wert ist in einer Deutlichkeit abgerutscht, wie es selten in Meinungsumfragen der Fall ist. Dies zeigt deutlich, dass die Beurteilung der Schulen in der Bevölkerung schlechter ausfällt.
Redaktion: Inwiefern ist dieses schlechtere Bild der Schulen eine Folge der Corona-Pandemie?
Wößmann: Auch danach haben wir konkret gefragt: Was denken Sie, wie hat sich die Qualität der Schulbildung durch die Corona-Pandemie verändert? Es ist offensichtlich, dass die vergangenen Jahre viele Herausforderungen mit sich gebracht haben. Zwar hat die Pandemie auch für einen gewissen Digitalisierungsschub gesorgt; es gäbe also auch die Möglichkeit, positive Entwicklungen zu sehen. Aber in der Tat ist eine deutliche Mehrheit von 79 Prozent der Meinung, die Corona-Pandemie sei für eine schlechtere Schulbildung verantwortlich. Gleichzeitig sehen wir auch, dass sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler nicht erst seit der Pandemie, sondern seit über zehn Jahren wieder verschlechtern. Und es ergibt sich aus der Befragung, dass die Menschen noch viele andere Aspekte sehen, die das Schulsystem belasten, die wenig mit Corona zu tun haben.
„Die meisten Deutschen, 77 Prozent, sehen im Lehrkräftemangel das größte Problem im deutschen Schulsystem.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Redaktion: Welche sind das? Womit ist die Bevölkerung besonders unzufrieden im Schulsystem?
Wößmann: Die meisten Deutschen, 77 Prozent, sehen im Lehrkräftemangel das größte Problem im deutschen Schulsystem. Gefolgt von fehlendem Geld für die Schulen und der Trägheit des Systems, in dem Veränderungen oftmals viel zu lange dauern. All diese Aspekte sind nicht direkt mit der Corona-Pandemie verwoben, sondern von grundsätzlicher Natur.
Redaktion: Welcher Aspekt des Bildungsbarometers ist für Sie besonders herausragend, vielleicht auch überraschend?
Wößmann: Wir machen das Bildungsbarometer ja in diesem Jahr zum zehnten Mal, und viele Dinge sind durchaus nicht mehr überraschend, weil wir über die Jahre eine gewisse Konsistenz in den Antworten beobachten können. Der deutliche Rückgang der Noten für das Schulsystem, über den wir gesprochen haben, ist für mich in diesem Ausmaß durchaus überraschend. Interessant waren auch die Meinungen zu den Maßnahmen, die gegen Lehrkräftemangel unternommen werden sollen. Hier begrüßt die Bevölkerung mit deutlichen Mehrheiten viele Optionen wie die Fortbildung von Lehrkräften in Fächern, in denen es großen Mangel gibt, oder den Quereinstieg aus anderen Berufen. Allerdings wird die Möglichkeit, die Klassen zu vergrößern, von über 80 Prozent, also einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, abgelehnt. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht interessant, weil wir wissen, dass die Klassengröße kaum einen Einfluss darauf hat, wie viel die Kinder und Jugendlichen tatsächlich lernen. Es ist aber etwas, was in der Meinung der Bevölkerung gar nicht geht.
Redaktion: Das Bildungsbarometer deckt auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Digitalisierung auf, speziell bezüglich Chatbots und KI. Woher, glauben Sie, rührt diese Skepsis?
Wößmann:Tatsächlich sprechen sich 54 Prozent der Bevölkerung dagegen aus, dass in der Schule der Umgang mit KI und Chatbots gelehrt wird. Zu gewissen Teilen ist das sicherlich eine Momentaufnahme. Die Umfrage wurde im Mai und Juni dieses Jahres durchgeführt, wo das Thema medial sehr präsent war und der Umgang mit dieser Technik in der Bildungscommunity heiß diskutiert wurde. Bei der Erläuterung zu der Frage im Bildungsbarometer wurde darauf hingewiesen, dass Schülerinnen und Schüler Chatbots dafür nutzen könnten, Texte zu verfassen, anstatt sie selbst zu schreiben. Das kann natürlich ein Stück weit so aufgenommen worden sein, als würden die Schüler dann gar nichts mehr selbst machen – was ja auch durchaus eine gewisse Gefahr darstellt. Dass diese Technik aber auch ein produktives Hilfsmittel sein kann, scheint weiten Teilen der Bevölkerung noch nicht so bewusst zu sein. Ich persönlich bin der Auffassung, dass – wie in allen anderen Bereichen – kein Weg daran vorbeiführt, dass die Kinder und Jugendlichen sich mit diesen neuen Möglichkeiten auseinandersetzen müssen. So wie man auch in Bereichen wie Social Media eine gewisse Medienkompetenz aufbauen muss. Das ist meiner Meinung nach ein ganz wichtiger Bildungsauftrag an die Schulen.
„Wir sehen viele Reformen, für die es deutliche Mehrheiten gibt.“
Prof. Dr. Ludger Wößmann
Redaktion: Eine gewisse Spannung zwischen Bildungsforschung und mehrheitlicher Bevölkerungsmeinung zeigt sich auch beim Thema Schulnoten. Hier ist die Forschung ja zumindest nicht eindeutig. Vorreiter in der Bildung, wie die skandinavischen Länder, haben Noten zum Teil abgeschafft. Warum glauben Sie, befürwortet die deutsche Bevölkerung das Notensystem dagegen noch so stark?
Wößmann: Wir können über Jahre an verschiedenen Stellen beobachten, dass die Bevölkerung eine sehr klare Leistungsorientierung einfordert. Die Menschen wollen, dass die Schulen ihr Basisgeschäft machen und die Grundkompetenzen Rechnen, Schreiben und Lesen vermitteln. Sie haben recht, dass in der Forschung nicht eindeutig zu erkennen ist, ob dafür klassische Noten wichtig sind. Andererseits haben progressive Pädagogen, die dafür sprechen, Noten abzuschaffen, noch nicht ausreichend gezeigt, dass man das flächendeckend umsetzen und dabei sicherstellen kann, dass genug gelernt wird. Und genau das ist der Bevölkerung aber sehr wichtig – und ehrlich gesagt, mir auch.
Redaktion: Wo sehen Sie mit Blick auf Ihre Ergebnisse in der öffentlichen Meinung Mehrheiten und somit Chancen, das System Schule produktiv zu verändern?
Wößmann: Wir sehen viele Reformen, für die es deutliche Mehrheiten gibt. Da ist definitiv eine große Veränderungsbereitschaft in der Bevölkerung. Es sind etwa im Bereich der Digitalisierung deutliche Zwei-Drittel-Mehrheiten vorhanden, die möchten, dass alle Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen Computer oder Laptops zur Verfügung gestellt bekommen, um damit arbeiten zu können. Es wird mit großer Mehrheit gewünscht, dass sich alle Lehrkräfte jährlich in Digitalkompetenzen fortbilden müssen. Es gibt darüber hinaus eine extreme Offenheit dafür, eine Vergleichbarkeit für die Bildungsergebnisse der Bundesländer zu schaffen. Also etwa Vergleichstests in Mathe und Deutsch, die deutschlandweit einheitlich durchgeführt werden und teilweise dann Klassenarbeiten ersetzen. Zudem werden bereits seit Jahren einheitliche Abschlussprüfungen für alle Schularten von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung befürwortet. Hier sind wir bisher politisch in der Umsetzung nicht vorangekommen. Die Bundesländer sind bei diesem Thema wirklich in der Pflicht, und ich sehe keinen Grund, warum man nicht ins Handeln kommt. Es würde auch für die Qualitätssicherung ein gewisses Momentum ins deutsche Schulsystem bringen. Wir hätten Transparenz, würden schneller erkennen, wo etwas schief läuft. Die Bundesländer könnten mit dem Feedback arbeiten, tiefer in ihre Strukturen schauen, um zu erkennen, wo angesetzt werden muss. Natürlich führt das auch zu politischem Druck in den Bundesländern, in denen es nicht so gut läuft. Aber den gilt es auszuhalten.
Irgendwann muss man dem Druck der Realität Rechnung tragen und anerkennen, dass Menschen diese einheitlichen Ergebnisse haben wollen.
Redaktion: Wie sieht es mit der finanziellen Seite aus? Ist die Bevölkerung bereit, die Ausgaben für Schulen zu erhöhen?
Wößmann:Ja, hier gibt es eine ganz klare Tendenz. Selbst wenn wir in der Befragung explizit darauf hinweisen, dass für höhere Bildungsausgaben gegebenenfalls die Steuern erhöht werden müssten, gibt es seit jeher eine sehr große Zustimmung, wenn es um mehr Investitionen in Bildung geht. In unserer aktuellen Befragung möchten drei Viertel der Bevölkerung, dass die Bildungsausgaben erhöht werden. So hohe Zustimmungswerte bekommt sonst kein anderes Ausgabenfeld in Deutschland.
Redaktion: Das Ergebnis des Bildungsbarometers ist auch für Schulverwaltungen, Schulleitungen und Lehrkräfte ernüchternd. Was würden Sie auf Basis Ihrer Erkenntnisse den Menschen sagen, die täglich im System Schule arbeiten? Was können sie tun, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen?
Wößmann: Sicherlich sind viele der Themen, über die wir sprechen, systemische Probleme – aber nicht nur. Man kann so etwas niemals pauschal sagen, aber es ist noch zu oft der Fall, dass man sich vor Ort in Bereichen wie der Digitalisierung hinter Regelungen versteckt, statt Eigeninitiative zu ergreifen. Es gibt Schulen und Lehrkräfte, die preschen voran und andere, die dies nicht tun. Unsere Umfrage sollte ein Ansporn sein, auch in Feldern wie dem Lehrkräftemangel die Dinge nicht zu bürokratisch zu machen und pragmatisch Lösungen zu finden, damit guter Unterricht regulär stattfinden kann. Auch die Meinung der Bevölkerung, wie wichtig es ist, Grundkompetenzen zu vermitteln, sollte ernst genommen werden. Das wird dann von den Menschen vor Ort wertgeschätzt und kann langfristig dazu führen, dass die Beurteilung der Schulen auch wieder besser ausfällt.
Redaktion: Herr Professor Wößmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Ludger Wößmann ist Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik und Professor für Volkswirtschaftslehre am Center for Economic Studies (CES) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem Bildungsökonomik, Wachstumsökonomik, Politikevaluation und Meinungsforschung.