Großer Schub oder kleiner Schubs?

Prof. Birgit Eickelmann gibt Antworten auf die Frage, ob und wie die „Corona-Krise“ zur Initialzündung für digitalere Schulen in Deutschland werden kann.

In der Pandemiezeit sind Unterricht und Lernmethoden an deutschen Schulen digitaler geworden. Doch was bleibt davon übrig? Was braucht es für eine nachhaltige Digitalisierung? Darüber hat das Online-Magazin schulmanagement mit Prof. Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn gesprochen.

Redaktion: Frau Prof. Eickelmann, die Situation der Pandemie und insbesondere die Zeit des Lockdowns haben dazu geführt, dass digitale Medien an den Schulen weitaus stärker genutzt werden als bisher. Das belegen inzwischen auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, wie etwa die Länderindikator-2021-Studie an der Sie ja auch selbst mitgewirkt haben. Kann man daraus pauschal ableiten, dass es durch die Pandemie einen breiten Digitalisierungsschub in unseren Bildungseinrichtungen gegeben hat?

Prof. Dr. Birgit Eickelmann: Das muss man sicher differenziert betrachten. Es war sehr erfreulich zu beobachten, dass sich so viele Schulen teilweise auch neu an das Thema herangetraut haben, vor allem in der Phase des Distanzunterrichts. Da haben viele Lehrerinnen und Lehrer alleine oder gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen, sogar über die Grenzen der eigenen Schule hinaus, neue digitale Kompetenzen und Möglichkeiten erschlossen. Die Frage ist jedoch, ob sich daraus automatisch nachhaltige Veränderungen ergeben. Wenn man wie ich aus der Schulentwicklungsforschung kommt, dann denkt man Innovationen als Prozesse, die tatsächlich auch durch Krisen initiiert werden können. Blickt man jedoch auf die letzten Monate zurück, so zeigt sich: Nicht in allen Schulen haben sich wirklich nachhaltige Veränderungen des Lehrens und Lernens in der digitalen Welt ergeben. Oft wurde, auch auf der bildungspolitischen Ebene, das, was wir im Distanzunterricht an Veränderungen gesehen haben, mit den tatsächlich notwendigen zukunftsweisenden Veränderungen von Schule in einer Kultur der Digitalität verwechselt.

„Ich hätte mir gewünscht, dass man aus der Zeit des großen Erprobungsspielraums systematischer Impulse für die Zukunft zusammengetragen hätte.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Was hätten sie sich denn als Reaktion auf die Krisenerfahrung gewünscht?

Eickelmann: Ich hätte mir gewünscht, dass man aus der Zeit des großen Erprobungsspielraums in der ersten Phase der Pandemie bedingten Re-Organisation von Schule und Unterricht systematischer Impulse für die Zukunft zusammentragen hätte. Auf der abstrakten Ebene ist das ja durch das KMK-Ergänzungspapier zum Lehren und Lernen in der digitalen Welt, das im Dezember 2021 verabschiedet wurde, schon ganz gut gelungen. Aber die breitenwirksame Übersetzung in die schulische Praxis steht weiterhin noch aus. Das hat sicherlich auch mit der teilweise extrem hohen Belastung der Schulen zu tun. Insofern kann die Corona-Krise zwar ein Anstoß für Innovationen sein. Aber sie ist zugleich nicht gerade die beste Phase, um tiefergreifende Transformationen im schulischen Bildungsbereich nachhaltig zu verankern. Dazu braucht es jetzt zusätzliche Anstrengungen, die über die Bereitstellung von Technologien hinausgehen. Ich denke da vor allem auch an Lerninfrastrukturen und digitale Lerninhalte, die alle Schulstufen und Schulformen umfassen müssen. 

Redaktion: In welchen Bereichen sehen sie nichtsdestotrotz Fortschritte während der Corona-Zeit?

Eickelmann: Da sehe ich vor allem drei Dinge, die auch zu neuen Entwicklungen führen können. Erstens: das Engagement der Lehrerinnen und Lehrer. Diese haben sich überall in Deutschland zu einem beachtlichen Teil in neue Lernformate hineingedacht. Zweitens, was in der Breite noch weniger wahrgenommen wird, dass auch die Lehrkräfteaus- und -fortbildung Impulse mitgenommen hat, neue Wege gegangen ist und diese weiterführen wird. Drittens: dass dem schulischen Bildungsbereich in der Pandemiezeit viel Aufmerksamkeit und Anerkennung zugekommen ist. Vielen, auch denen, die sich bisher nicht damit beschäftigt hatten, ist bewusst geworden, dass wir im Bereich „Digitalisierung“ in Deutschland große Aufholbedarfe haben. Das war zwar schon zuvor bekannt, etwa aus der ICILS-2018-Studie, oder unserer Studie ‚Schule auf Distanz‘, in der wir gleich zu Beginn der Pandemie gezeigt haben, dass damals nur etwa ein Drittel der Schulen in Deutschland auf die Anforderungen und Möglichkeiten der Digitalisierung gut vorbereitet waren. Aber konkret zu erleben, dass Schulen nicht die erforderlichen Rahmenbedingungen für digitales Lernen haben, inklusive der Erkenntnis, dass wir dadurch viele Kinder und Jugendliche von zukunftsweisenden Bildungsprozessen ausschließen, wird hoffentlich der stärkste Antrieb für die Entwicklungen im schulischen Bildungsbereich in den nächsten Jahren sein. 

„Letztlich geht es doch um die Frage, wie wir der jungen Generation zentrale Zukunftskompetenzen vermitteln können.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Gerade in der Anfangszeit der Pandemie, als die Schulen geschlossen waren, sind also im Grunde nur die seit Jahren beklagten Defizite offenbar geworden. Mit Blick auf digitale Technik, Methodik und Strategie, wo sehen sie derzeit die größten Herausforderungen, wo gibt es den meisten Nachholbedarf?

Eickelmann: Viele denken da natürlich als Erstes an die technische Ausstattung der Schulen und an den technischen Support. Das ist auch richtig und wichtig, muss aber künftig stärker als bisher vor allem unter pädagogischen Aspekten und vor dem Hintergrund des Bildungs- und Erziehungsauftrags von Schule beleuchtet werden. Ziel muss es sein, alle Kinder und Jugendlichen auf ein Leben, Lernen und Arbeiten in der digitalen Welt vorzubereiten, um ihnen durch schulische Bildung Perspektiven für Ihre Leben zu eröffnen. Dass der „DigitalPakt“ verstetigt wurde und damit an den Schulen langfristig bessere technische Rahmenbedingungen geschaffen werden können, ist ein wichtiger Schritt. Aber im Grunde geht es um viel mehr: Wie soll das Lernen und Lehren in Zukunft und für die Zukunft aussehen? Wie soll unsere Gesellschaft aussehen und welchen Beitrag kann Bildung hier leisten? Mit dieser Frage muss sich jede Schule grundlegend befassen und ein Zukunftsbild entwickeln, an dem sich dann die Transformation von Schule und Unterricht anschließen kann. Nicht die Technologie, sondern das Lernen der Kinder und Jugendlichen sollte im Fokus stehen. Denn letztlich geht es dabei doch um die Frage, wie wir der jungen Generation zentrale Zukunftskompetenzen vermitteln können.

„Schulen müssten Lust auf Neues haben“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher ist der Meinung, dass es viel mehr administrativen Druck bräuchte, um die bestehenden Digitalisierungsdefizite erfolgreich zu beseitigen. Sehen Sie das ähnlich? 

Eickelmann: Der Hinweis ist berechtigt. Wir benötigen Schulen, die agiler mit Innovationen umgehen und dazu auch die Kapazitäten entwickeln. Das allein reicht aber nicht. Auch die Bildungsadministration muss agiler auf Veränderungen reagieren. Das ist ein strukturelles Problem für deren Bearbeitung wir mehr Mut zur Veränderung brauchen. Leider haben wir derzeit in Deutschland ein sehr starres System, das bisher gut damit leben konnte, dass Innovationsprozesse in Zeiträumen von bis zu 10 Jahren angelegt waren. So funktioniert die Welt aber nicht mehr. Das Wort „Druck“ würde ich in dem Zusammenhang allerdings nicht verwenden, es ist ja sehr negativ konnotiert. Aus meiner Sicht sollte es eher eine gute Balance geben, zwischen Verpflichtung von Schulen, die Zukunft mitzugestalten, und Erprobungsspielräumen für Neues. Denn was wir aus der Innovationstheorie wissen: Wer etwas verändern möchte, muss zuallererst Begeisterung für die Sache schaffen.  Schulen müssten Lust auf Neues haben und die Gewissheit, dass sie für neue Wege auch den nötigen administrativen Rückhalt bekommen. Es geht um Monitoring im positiven Sinne und Vertrauen, auch im Sinne von Verantwortungsübertragung.

Redaktion: Eine aktuelle Studie im Auftrag der GEW zeigt, dass es an deutschen Schulen eine große „digitale Kluft“ gibt. 12 Prozent der Einrichtungen werden als digitale Vorreiter bezeichnet, aber 33 Prozent der Schulen gelten darin als „digitale Nachzügler“. Wie lässt sich diese Kluft überwinden, welche Unterstützung brauchen schwächere Schulen, um rasch aufzuschließen?

Eickelmann: Der Entwicklungsstand der Schulen in Bezug auf den sogenannten Digitalisierungsprozess ist in Deutschland tatsächlich sehr unterschiedlich. Wenn uns aber das Thema wirklich wichtig ist, muss es uns gelingen, alle Schulen mitzunehmen, unabhängig von der Schulform, unabhängig vom Bundesland und unabhängig von der Mikroebene der Einzelschule. In diesem Prozess spielen Schulleitungen eine wichtige Rolle. Deshalb ist eine digitalisierungsbezogene Qualifizierung dieser Führungskräfte für mich ganz zentral.  Das gleiche gilt für die Schulaufsicht, die ja Schulen in ihrer Qualitätsentwicklung unterstützen soll. Diese muss nicht nur auf dem Stand sein, sondern eigentlich einen Schritt voraus, um als Motor von Innovationen fungieren zu können. Und last but not least: Die Schulträger sind ganz entscheidend!  Sie sind für die sachliche Ausstattung einer Schule verantwortlich und müssen gleichermaßen in die Lage versetzt werden, dort die erforderlichen Aufwendungen kompetent und mit Konzept zu tätigen. Derzeit sind die Schulträger diesbezüglich sehr unterschiedlich aufgestellt und engagiert und sind mancherorts der Flaschenhals der Innovation.

„Ich denke, wir sind an einem Scheideweg angekommen.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Was die Studie auch zeigt: Für viele Lehrkräfte bedeutet der pandemiebedingte Fortschritt bei der Digitalisierung von Schule und Unterricht eine große Belastung. Wie groß ist die Gefahr, dass man zu „normalen Zeiten“ des Präsenzunterricht wieder zu alten Gewohnheiten und Methoden zurückkehrt? 

Eickelmann: Auch bei dieser Frage beobachte ich große Unterschiede. Nicht nur die digitalen Kompetenzen von Lehrkräften sind unterschiedlich ausgeprägt, sondern auch ihre Bereitschaft, sich für einen nachhaltigen Digitalisierungsschub zu engagieren. Das ist aber auch verständlich, weil man sich in der Pandemie oft das „Normale“, das „wie früher“.  herbeisehnte. Aber ich denke, wir sind an einem Scheideweg angekommen. Entweder es gelingt uns nun, den schulischen Bildungsbereich in Deutschland auf eine zukunftsfähige Bahn zu setzen, oder wir doktern weiter an Einzelproblemen herum. Damit das gelingt, müssen wir uns aus meiner Sicht auch stärker als bisher einer Herausforderung stellen, die wir schon lange vor der Pandemie als Riesenproblem ausgemacht haben: der massive Lehrkräftemangel! Was ich mir hier wünsche ist, dass der Lehrer*innenberuf attraktiver wird und auch der Arbeitsplatz Schule ein modernerer ist, der den jungen Menschen, die sich vielleicht für den Lehrer*innenberuf interessieren, Entwicklungsmöglichkeiten bietet und Raum für Miteinander und Kreativität.

„Viele Schulleitungen gehen leider den Weg, die „Digitalisierung“ zu delegieren.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Was können SchulleiterInnen und andere Akteure, die für die Schulentwicklung verantwortlich sind, tun, damit die guten Erfahrungen aus der Zeit des digitalen Distanzlernens die Zeit der Pandemie überdauern? 

Eickelmann: Ich würde da gerne unterscheiden zwischen der Ebene der Einzelschule und der Ebene des Systems. Auf der Ebene der Einzelschule sind die Schulleitungen, auch im Sinne von erweiterten Schulleitungen und Schulleitungsteams, zentral. Wir wissen aus unseren Forschungsarbeiten, dass ihre Prioritätensetzung und ihr persönliches Engagement entscheidend sind. Sie müssen Fachpromotor sein, sich also selbst im Bereich des Lehrens und Lernens in der digitalen Welt und den sich ständig erweiterten Möglichkeiten gut auskennen. Sie müssen als Machtpromotor agieren und verantwortlich Entscheidungen treffen. Und sie müssen Prozesspromotor sein und die Prozesse begleiten. Was wir eigentlich seit der Evaluation von ‚Schulen ans Netz‘ aus den 1990er Jahren wissen, ist, dass Schulleitungen sich aktiv in die Prozesse einbringen müssen. Viele Schulleitungen gehen leider den Weg, die „Digitalisierung“ zu delegieren. Aber es geht ja nicht allein um Technologien und Unterstützung von technikaffinen kleinen Gruppen im Kollegium. Es geht um das Lernen und das Bild der eigenen Schule in der Zukunft. 

Und auf der Systemebene: Schulen müssen, mehr als in anderen Prozessen, bei ihren digitalisierungsbezogenen Entwicklungen unterstützt werden. Die Innovation ist zeit- und ressourcenintensiv und aufgrund des technologischen und gesellschaftlichen Wandels nie abgeschlossen. Kurz: Schulen müssen in ihren Schulentwicklungsprozessen unterstützt werden, um die sogenannten Digitalisierungsprozesse mit anderen schulischen Innovationen und ihrem pädagogischen Leitbild zu verknüpfen. Das ist genau das, was die erfolgreichen Schulen schon jetzt praktizieren. Schulleitung ist dabei zentral. 

Redaktion: Ganz allgemein: Was sind die entscheidenden Faktoren für das Gelingen einer umfassenden, strategisch durchdachten Digitalisierung unserer Schulen? Worauf kommt es an?

Eickelmann: Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Wir drehen in Deutschland zu oft an einzelnen Stellschrauben, zum Beispiel IT-Ausstattung oder Lehrkräftefortbildung, und wundern uns, wenn die Entwicklungen nicht nachhaltig sind. Jetzt ist die Zeit das gesamte System in den Blick zu nehmen und eine – auch digitale – zukunftsfähige Transformation von Schule anzugehen. Das erfordert vor allem Mut auf allen Ebenen und gelingt oft dann am besten, wenn wir von den Kindern und Jugendlichen aus denken, wenn wir aus der  Perspektive der jungen Generation auf die Welt, die Gesellschaft und die Zukunft blicken. 

Redaktion: Frau Professorin Eickelmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Birgit Eickelmann, Jg. 1971, hat seit 2012 den Lehrstuhl Schulpädagogik an der Universität Paderborn inne. Nach einer abgeschlossenen Lehrerausbildung war sie zunächst 5 Jahre im Schuldienst tätig. Von 2003 bis 2012 war sie an die TU Dortmund abgeordnet und hat dort zum Einsatz digitaler Medien in Schule und Unterricht promoviert (2009) und zur Entwicklung von Schulen und Schulsystemen unter den Bedingungen der digitalen Transformation habilitiert (2012). An der Universität Paderborn ist sie in der Lehrkräfteausbildung tätig und leitet auch verschiedene Teilprojekte im Rahmen der digitalisierungsbezogenen QLB (Qualitätsoffensive Lehrerbildung). Weiterhin leitet sie derzeit für Deutschland mit ICILS 2023 zum dritten Mal für Deutschland die international vergleichende Schulleistungsstudie ICILS (International Computer and Information Literacy Study) sowie im Rahmen des Horizon-2020-Projektes DigiGen (Digital Generation) den Bereich ICT in/and Education.