Stress durch Digitalisierung: Was Lehrkräfte belastet und wie es besser gehen kann

Medien im Unterricht sollen helfen, oft verursachen sie aber vor allem Frust: Was sich ändern muss, erläutert Dr. Frank Mußmann im Interview

Aussetzer im WLAN, die digitale Tafel geht nicht, IT-Support? Fehlanzeige. Die digitale Wende in den Schulen soll Unterricht eigentlich effizienter und effektiver machen. Oftmals endet sie allerdings in Stress und Frust. Das konnten Dr. Frank Mußmann und sein Team von der Universität Göttingen in einer aktuellen Untersuchung in Berlin beobachten. Im Interview erklärt der Forscher, wo der digitale Stress herkommt und wie er bekämpft werden kann.

Redaktion: Herr Dr. Mußmann, Sie haben mit Ihrem Team im November vergangenen Jahres 2.385 Lehrkräfte an Berliner Schulen zu ihrer Arbeitssituation sowie zum Stand der Umsetzung des digitalen Lehrens und Lernens an ihrer Schule befragt. Wie digital sind die Schulen in Berlin inzwischen?

Dr. Frank Mußmann: Wir sehen, dass der unterstützende Einsatz digitaler Medien im Unterricht deutlich zugenommen hat. Der Digitalisierungsschub aus der Pandemie hat sich verstetigt. Digitale Medien sind in Berliner Schulen mittlerweile die Regel geworden: mehr als 90 Prozent setzen sie wöchentlich ein, mehr als 66 Prozent täglich.

Redaktion: Wie genau werden digitale Medien im Unterricht eingesetzt?

Mußmann: Die Medien werden vor allem dazu genutzt, den Unterricht unterstützend zu begleiten im Sinne der Präsentation von Informationen, etwa durch das Arbeiten mit dem Whiteboard oder den Einsatz digital aufbereiteter Materialien. Wenn es jedoch um ambitionierte, fortschrittlichere digitale Formate wie zum Beispiel Lernmanagementsysteme geht, zeigt sich ein anderes Bild. Diese werden deutlich weniger eingesetzt. Das ist bedauerlich, denn gerade wenn es darum geht, heterogene Lerngruppen angemessen mit unterschiedlichen Lernmaterialien zu versorgen, wären Lernmanagementsysteme eine entscheidende Ressource. Sie sind eigentlich der nächste Schritt, um den Unterricht pädagogisch wie didaktisch qualitativ zu verbessern. Doch das passiert leider viel zu wenig.

Redaktion: Wo liegen die Ursachen dafür?

Mußmann: Wir sehen in unserer Studie, dass die Rahmenbedingungen für den Einsatz digitaler Medien in der Breite nicht so sind, wie man sie sich wünschen würde. Dazu gehört eine Reihe technischer Schwierigkeiten und Probleme an den Schulen, auch etwa noch immer die mangelhafte Verfügbarkeit von WLAN-Systemen. Ein weiteres gutes Beispiel sind die digitalen Endgeräte, die infolge der Pandemie vom Berliner Senat 2021 recht kurzfristig angeschafft wurden. Diese Entscheidung ist unter hohem Zeitdruck top down gefallen – und das hatte Konsequenzen. Zwar haben fast alle Lehrkräfte tatsächlich Geräte bekommen, allerdings nutzen viele von ihnen diese gar nicht: Nur ein Drittel hat sie regelmäßig im Einsatz, ein weiteres Drittel sehr selten, weniger als einmal im Monat, das letzte gar nicht. Als Grund werden etwa mangelnde Kompatibilität mit der Technik an der jeweiligen Schule oder geringer Praxisnutzen angegeben. Das ist keine gute Bilanz.

„Von knapp drei Vierteln der Lehrkräfte wird die Digitalisierung als Zusatzbelastung wahrgenommen.“

Dr. Frank Mußmann

Redaktion: Was bedeuten diese Rahmenbedingungen für die Lehrkräfte in ihrem Unterrichtsalltag?

Mußmann: Von knapp drei Vierteln der Lehrkräfte wird die Digitalisierung als Zusatzbelastung wahrgenommen – was vor dem Hintergrund der genannten defizitären Rahmenbedingungen und begrenzt tauglicher Endgeräte keine Überraschung ist. Dabei wird an Digitalisierung eigentlich die Erwartung gestellt, dass sie die Unterrichtsvorbereitung, -durchführung und nicht zuletzt auch Leistungskontrollen effizienter gestalten könnte. Es gibt Lehrkraftgruppen an Leuchtturmschulen mit optimaler digitaler Ausstattung, für die ist das auch tatsächlich der Fall. Für die große Mehrheit jedoch nicht, sie erleben zu unterschiedlichen Graden digitalen Stress.

Redaktion: Wie sieht dieser digitale Stress für Lehrkräfte genau aus? Was wird als belastend empfunden?

Mußmann: Die Dauerpräsenz der Medien ist für Lehrkräfte eine besondere Herausforderung, weil sie sowieso schon in einem Beruf arbeiten, in dem es permanent zu Störungen kommt. 78 Prozent verspüren hierdurch in ihrer Arbeit eine hohe Belastung. Wie digitale Kommunikation und Medien an der jeweiligen Schule organisiert werden, spielt hierbei eine große Rolle. Ebenso verantwortlich für digitalen Stress sind eine mangelhafte Reaktionsgeschwindigkeit des IT-Supports beziehungsweise der Unterstützungssysteme. Nehmen wir beispielsweise ein mobiles Endgerät, das sich nicht mit einer digitalen Tafel verbindet, wegen einer App, die nicht zugelassen ist. Wenn es dann Monate dauert, bis auf Antrag so eine App freigeschaltet wird, führt das dazu, dass auch hochmotivierte Lehrkräfte, die mit der neuen digitalen Tafel oder dem neuen Endgerät mutig gestartet sind, im Alltag frustriert sind und es dann ganz sein lassen. Ein weiterer Belastungsfaktor, den solche und ähnliche Situationen mit sich bringen, ist der Aspekt der Rollenunklarheit. Lehrkräfte stehen immer wieder vor der Frage: Was hat Priorität? Sie müssen sich entscheiden zwischen dem Erreichen von Lernzielen und dem Lösen digitaler oder technischer Probleme. Auch dieser Rollenkonflikt verursacht Stress.

Redaktion: Inwiefern?

Mußmann: Der Rollenkonflikt manifestiert sich dann etwa im Vorführeffekt, den die Lehrkräfte vermeiden wollen. Die typische Situation: Die Lehrkraft hat in der Schülerschaft eine Reihe Digital Natives vor sich, sie selbst ist Digital Immigrant. Sie kann möglicherweise sogar perfekt mit den eingesetzten Medien umgehen, wird jetzt jedoch im Schulalltag mit technischen Störungen konfrontiert, die ihr vor der digital versierten Klasse unangenehm sind. Um diese Momente zu umschiffen, so berichten Lehrkräfte, bereiten sie sich doppelt und dreifach vor: Sie haben eine digitale Lösung, sie haben eine zweite digitale Lösung, die offline abgespeichert ist, und in der Hinterhand noch eine komplett analoge Alternative, falls die Technik total versagt. Dieser Prozess, der durch das oftmals wackelige Fundament mangelnder digitaler Ausstattung, Organisation und Unterstützung begründet ist, ist hochbelastend und frisst unnötige Ressourcen der Lehrkräfte. Diese Situation unterscheidet sich dabei in Berlin übrigens nicht wesentlich von anderen Bundesländern, das können wir aus Vergleichsdaten unserer bundesweiten Digitalisierungsstudie von 2021 ableiten.

„Wir sehen eindeutige Zusammenhänge zwischen hohem digitalen Stress und einem höheren Burnout-Risiko bei Lehrkräften.“

Dr. Frank Mußmann

Redaktion: Welche Konsequenzen hat der digitale Stress für die Lehrkräfte?

Mußmann: Insgesamt können wir klar erkennen, dass jene Lehrkräfte, die höheren digitalen Stress haben, auch höheren Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind. Wir können etwa mit dem Copenhagen-Burnout-Indikator das Burnout-Risiko messen. Dabei sehen wir eindeutige Zusammenhänge zwischen hohem digitalen Stress und einem höheren Burnout-Risiko. Besonders folgenschwer kann der digitale Stress zudem für Lehrkräfte sein, die sowieso schon unter hohem Zeitdruck stehen. Denen fehlt die Ressource des Selbstlernens, also die Zeit, sich ausreichend mit digitalen Medien zu beschäftigen. Das führt wiederum zu mehr digitalem Stress: ein Teufelskreis. Die entscheidenden Konsequenzen sind aber vor allem die nicht ausgeschöpften Potentiale, die in digitalen Medien liegen. Interaktive Lernprozesse, individuellere Materialien und Unterrichtspfade, Effizienzeffekte – die meisten Lehrkräfte sind in ihren derzeitigen Arbeitssituationen oft nicht in der Lage, von diesen zu profitieren. Das ist vor dem Hintergrund herausfordernder heterogener Klassen ein gewaltiges Problem der Bildungsqualität.

Redaktion: Wo müssen sich Ihrer Einschätzung nach Dinge ändern, damit der digitale Stress für Lehrkräfte abnimmt?

Mußmann: Die KMK hat 2012 eine Digitalstrategie beschlossen und dabei die Maßgabe ausgegeben, dass bis 2020/21 für jede Schülerin und jeden Schüler eine digitale Lernumgebung geschaffen werden sollte. Die hatten wir zu Beginn der Pandemie nicht und die haben wir in der Breite heute noch immer nicht, wie wir am Beispiel Berlin sehen. Es wurde enorm viel Zeit verschwendet, statt ambitioniert die Potentiale digitalen Lehrens und Lernens zu heben und differenziert auszugestalten. Hier muss die politische Ebene schlicht und einfach ihre Hausaufgaben machen: die digitale Infrastruktur muss funktionieren, gleichzeitig muss Schulen der Raum gegeben werden, individuelle Lösungen zu entwickeln. Es sollten nicht topdown unpassende Lösungen verordnet werden.

Auf mehreren Ebenen ist zudem das Thema IT-Support anzugehen, was eine hohe Wirkung auf die Belastung der Lehrkräfte hat. Es geht darum, dass Störungen und Probleme schnell beseitigt werden, dass IT-Fachkräfte verfügbar sind und im Zweifelsfall auf einen „Notruf” aus einem Klassenzimmer in kurzer Zeit reagieren können. Auch das Thema Verfügbarkeit von Weiterbildungen ist hierbei wichtig. Wobei Lehrkräfte nicht den formalen Weiterbildungen den höchsten Wirkungsgrad zuschreiben, sondern dem kollegialen Austausch: wenn also etwa eine Lehrkraft gute Erfahrungen mit einem Programm gemacht hat und dann die anderen Mitglieder des Kollegiums schult oder sich mit ihnen darüber austauscht. Der dringende Rat an die Schulebene ist, solche kollegialen Lernprozesse zwischen den Lehrkräften zu fördern und zu organisieren.
 

„Digitalstrategien und Medienbildungskonzepte in den Schulen müssen unter breiter Beteiligung der Lehrkräfte und bestenfalls auch Schülerschaft und Eltern entwickelt werden.“

Dr. Frank Mußmann

Redaktion: Was sehen Sie noch für Schulleitungen und Lehrkräfte als entscheidend an, um den Stress abzubauen und eine erfolgreiche Digitalisierung umzusetzen?

Mußmann: Die Schulleitungen haben die wichtige Aufgabe, die Digitalisierung positiv zu besetzen, zu fördern und zu entwickeln. Der entscheidende Punkt in meinen Augen ist hierbei, dass man beim Thema Digitalisierung die richtige Reihenfolge einhält. Digitalstrategien und Medienbildungskonzepte in den Schulen müssen unter breiter Beteiligung der Lehrkräfte und bestenfalls auch Schülerschaft und Eltern entwickelt werden. Es muss dazu ein Diskurs und Austausch stattfinden und eine kollegiale, individuelle Schulentwicklung angestoßen werden, die regionale Gegebenheiten, Kompetenzen der Lehrkräfte und Leitbilder der Schule berücksichtigt. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Kompetenzentwicklung und Motivation der Lehrkräfte. Beides steigt schon im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Thema. Am Ende erreichen die Schulen auf diesem Weg eine tragfähige Medienbildungsstrategie, die auch tatsächlich zu der jeweiligen Schule und dem jeweiligen Kollegium passt. Und diese gilt es im Zweifel auch gegenüber Schulträgern, Schulbehörden und Ministerien durchzusetzen.

Redaktion: Eine hohe Hürde für viele Schulen…

Mußmann: … die es sich zu nehmen lohnt! Wir wissen aus Studien, dass eines der wesentlichen Probleme des deutschen Bildungssystems, nämlich die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft, durch gut gemachte digitale Lösungen und digitale Partizipation aller Schülerinnen und Schüler deutlich verringert werden kann. Durch eine erfolgreiche Digitalisierung können zudem digitale und fachliche Kompetenzen signifikant und gleichmäßiger wachsen. Diese Chance besteht, wenn man ein ausgewogenes Verhältnis zwischen analogem und digitalem Unterricht hat und digitale Medien unterstützend eingesetzt werden, insbesondere in der differenzierten Förderung Ich denke, das sind gute Gründe, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und um Lösungen zu ringen.

Redaktion: Herr Doktor Mußmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Frank Mußmann ist Sozialwissenschaftler und Leiter der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen. Er hat in den letzten Jahren mehrere Studien zu Arbeitszeit und Arbeitsbelastung bei Lehrkräften durchgeführt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören darüber hinaus die Qualität der Arbeitsbedingungen in Deutschland sowie Kommunikation und Collaboration in virtuellen, verteilt arbeitenden Teams (Remote Work).