„Jeder investierte Euro in gute frühe Bildung ist ein Gewinn"

Um die Bildungschancen für Kinder zu verbessern, fordert Prof. C. Katharina Spieß mehr Investitionen in Kindertageseinrichtungen und familienzentrierte Angebote.

Mit jedem neuen Ergebnis aus Schulleistungsstudien wie Pisa oder dem nationalen IQB-Bildungstrend offenbaren sich umfangreiche Kompetenzdefizite für bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ein wichtiger Ansatzpunkt um gegenzusteuern ist die Förderung der frühkindlichen Bildung. Ein Ansatz, der sich auch volkswirtschaftlich lohnt, wie Prof. C. Katharina Spieß erklärt.

Redaktion: Frau Professorin Spieß, Sie setzen sich seit Jahren für eine bessere Förderung der frühkindlichen Bildung ein. Warum ist diese so wichtig?

Prof. Dr. C. Katharina Spieß: Ich bin von Haus aus Bildungs- und Familienökonomin und befasse mich mit den Renditen, also den Erträgen von Bildungsinvestitionen über den gesamten Lebensverlauf. Wenn man sich empirisch anschaut, wo jeder investierte Euro die höchste Rendite erzielt, landet man bei einer qualitativ guten frühkindlichen Bildung. Das lässt sich auch aus der Entwicklungspsychologie erklären, denn Kinder lernen in diesem Alter sehr schnell. Ein klassisches Beispiel ist der Spracherwerb. Natürlich können auch Grundschülerinnen und Grundschüler noch Deutsch lernen, auch Erwachsene können dies, aber es ist deutlich aufwendiger. Und wir sparen später, wenn wir früh investieren - auch volkswirtschaftlich -, denn wenn Kinder schon in der ersten Klasse die deutsche Sprache richtig beherrschen, lernen sie später leichter.

„Wir müssen den Mut haben, Kitas, die vermehrt Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien aufnehmen, mit mehr Personal auszustatten.“

Prof. Dr. C. Katharina Spieß

Redaktion: In Ihrem Studium-Generale-Vortrag an der Uni Tübingen stellen Sie die Frage, ob die frühe Bildung Beginn oder Ansatzpunkt für die Lösung der Bildungskatastrophe ist. Was spricht für die Katastrophe?

Spieß: Wenn wir uns anschauen, welche Kinder früh in Kitas sind, dann sehen wir, dass zum Beispiel Kinder aus Familien, in denen mehrheitlich zu Hause kein Deutsch gesprochen wird und die aus armutsgefährdeten Haushalten stammen, unterrepräsentiert sind. Dass sind aber genau die Kinder, die am meisten von den Angeboten profitieren würden, und sie haben keinen oder zumindest einen schlechteren Zugang zu Kitas, das markiert den Beginn der Bildungskatastrophe.

Redaktion: Woran liegt es, dass Kinder aus bildungsbenachteiligten Haushalten seltener in Kindertageseinrichtungen gehen?

Spieß: Eine häufig geäußerte Hypothese ist, dass der Kita-Wunsch in diesen Familien generell schwächer ausgeprägt ist. Doch das ist so nicht richtig. Wenn man sich anschaut, wie groß der Kita-Gap, also die Differenz zwischen dem Wunsch und der tatsächlichen Kita-Nutzung ist, zeigt sich, dass der Kita-Gap bei bildungsbenachteiligten Familien sogar größer ist als bei bildungsstarken Familien. Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien haben einen schlechteren Zugang zu Kitas, obwohl sich viele Eltern diesen für ihr Kind wünschen.

Vortrag von Prof. C. Katharina Spieß an der Universität Tübingen

Am 30. April 2024 hält Prof. C. Katharina Spieß im Rahmen des Studiums Generale einen Vortrag zum Thema „Die frühe Bildung – Beginn der Bildungskatastrophe oder Ansatzpunkt zu deren Lösung?“ Über 13 Wochen hinweg organisiert das LEAD Graduate School & Research Network jeden Dienstag um 18.15 Uhr einen Vortrag, in dem Forschende Erkenntnisse zur Lösung der Bildungskatastrophe teilen. Die Vorträge sind kostenlos. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
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Redaktion: Woran liegt das?

Spieß: Dies hat unterschiedliche Ursachen. Zum einen hängt es damit zusammen, dass den bildungsbenachteiligten Familien Informationen fehlen, zum Beispiel darüber, dass es in Deutschland seit 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem zweiten Lebensjahr gibt. Zudem lassen sich viele Eltern von hohen Kitagebühren abschrecken, weil sie nicht wissen, dass die Kita-Gebühren vielerorts einkommensgestaffelt sind oder je nach Einkommen keine Gebühren anfallen.

Darüber hinaus zeigen sogenannte Korrespondenzanalysen, dass es eine bewusste oder unbewusste Diskriminierung bei den Kita-Zugängen gibt. Einige werden solche Untersuchungen aus dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt kennen. Wenn Lisa Müller eine Bewerbung schreibt, stehen ihre Chancen auf eine Wohnung deutlich besser, als wenn sie von einem türkischstämmigen Mitbürger verfasst wird, obwohl alle Angaben bis auf den Namen dieselben sind. Diese Diskriminierung ist auch bei Bewerbungen um Kita-Plätze sichtbar. Das sind deutliche Hinweise darauf, dass die Bildungsungerechtigkeit bereits vor der ersten Klasse beginnt.

„Es geht darum, die Partnerschaft zwischen Kita, Schule, Kind, Eltern sehr viel stärker in den Vordergrund zu rücken.“

Prof. Dr. C. Katharina Spieß

Redaktion: Welche Veränderungen sind Ihrer Meinung nach erforderlich, um die Herausforderungen im Bereich der frühkindlichen Bildung anzugehen und Lösungen zu fördern?

Spieß: Es gibt bereits Bundesprogramme wie den „Kita-Einstieg“, die als Brücke fungieren, um den Zugang zu Kindertageseinrichtungen vorzubereiten und zu unterstützen. Das Problem an solchen Modellprojekten ist jedoch, dass sie irgendwann auslaufen. Dabei brauchen wir nachhaltige Strukturen, die insbesondere bildungsferne Familien frühzeitig begleiten.

Daneben besteht die Herausforderung, einen Umgang mit der - vermutlich meist unbewussten aber vermutlich teilweise auch aktiven - Diskriminierung zu finden. Oft haben Erzieherinnen und Erzieher nicht nur das Kind im Blick, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Eltern. Wenn sich die Kommunikation mit diesen als schwierig erweist, weil Eltern zum Beispiel aufgrund ihrer Sprachkenntnisse nicht gleich verstehen, dass das Kind für einen Ausflug Gummistiefel braucht, sind Kitas – die ohnehin vielfach Personalmangel haben - überlastet. Daher müssen wir den Mut haben, Kitas, die vermehrt Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien aufnehmen, mit mehr Personal auszustatten. Denn gerade bei diesen Kindern kann in der Kita für den gesamten Lebensweg enorm viel erreicht werden.

Redaktion: Wie lässt sich die Zusammenarbeit von Kitas und Eltern fördern?

Spieß: Es gibt zahlreiche Studien, die betonen, dass es gerade in der frühen Kindheit wichtig ist, Kinder im Kontext ihrer Familie zu sehen. Daher gibt es auch vielfach Vorschläge und auch Anstrengungen, Kitas beispielsweise zu Familienzentren auszubauen. Denn es bringt wenig, wenn Kinder vormittags Input erhalten und zu Hause dann wenig oder nichts passiert. Dabei reichen schon niederschwellige Angebote. Zum Beispiel gibt es Kitas, die Vorlesekisten anbieten, das sind Boxen voller Bücher, die Eltern mit nach Hause nehmen können, um mit ihren Kindern dort weiterzumachen, wo die Kita tagsüber aufgehört hat. Es geht nicht darum, Eltern mit dem Zeigefinder zu belehren, sondern die Partnerschaft zwischen Kita, Schule, Kind, Eltern sehr viel stärker in den Vordergrund zu rücken.

Redaktion: Was weiß man über die Wirksamkeit von Familienzentren?

Spieß: In der Forschung ist es relativ unstrittig, dass es gerade bei bildungsbenachteiligten Familien viel effektiver ist, die Eltern und Familien einzubinden, anstatt sich in der Kita nur auf das Kind zu konzentrieren. Denn so klischeehaft es sich anhört: die Medienzeiten, wie zum Beispiel der Fernsehkonsum, sind bei bildungsbenachteiligten Kindern höher als bei Kindern aus bildungsstarken Familien.

Redaktion: Was hält Deutschland davon ab, familienkonzentrierte Konzepte bundesweit umzusetzen?

Spieß: Das frage ich mich seit beinahe 30 Jahren. Die Antwort hängt vermutlich auch mit  politökonomischen Gründen zusammen. Zum einen haben Kitas eine schwächere Lobby als Schulen und Lehrkräfte. Dazu kommt, dass eine enorme Trägervielfalt eine gute Organisation erschwert. Das zweite Problem des frühkindlichen Bildungsbereichs ist, dass sich die Bildungsrenditen nicht unbedingt im politischen Wahlzyklus rechnen. Es gibt eine norwegische Studie, die sich anschaut, wie sich die Investitionen der 1970er-Jahre in den Kita-Ausbau rentiert haben. Das Ergebnis: 30 Jahre später lassen sich enorme Erfolge messen. Welche Politikerin oder welcher Politiker in Deutschland gewinnt Wahlen damit, dass gegenwärtige Investitionen in 30 Jahren eine hohe Rendite abwerfen werden?

Redaktion: Wie steht es um die gesellschaftliche Akzeptanz von frühkindlicher Bildung?

Spieß: Tatsächlich gibt es noch immer viele Vorbehalte. Nach wie vor gibt ein nicht kleiner Anteil von Menschen in Umfragen an, dass ein Kind darunter leidet, wenn Mütter erwerbstätig sind und damit nicht 24 Stunden ihre Kinder betreuen. In den letzten Jahren gab es in diesem Bereich zwar viel Bewegung, aber noch gibt es einen relativ großen Anteil, der an dem Musterbild festhält, dass sich die Eltern in den frühen Jahren um die Kinder kümmern sollten. Selbst in der rechtlichen Verfassung unseres Bildungssystems spiegelt sich dieser Umstand wider. Schulen haben einen eigenständigen Bildungsauftrag, den die Kitas nicht haben. So wurde politisch festgesetzt, dass dieser eigenständige Bildungsauftrag erst ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren existiert.

„Frühkindliche Bildung bedeutet nicht, dass die Kinder in der Kita schreiben lernen, sondern wie sie mit einem Stift auf Papier zeichnen können und dass es einen Unterschied zwischen einer Zahl, einem Buchstaben und einem Bild gibt.“

Prof. Dr. C. Katharina Spieß

Redaktion: Andere Vorbehalte sehen Kitas durch den schulinhärenten Leistungsgedanken gefährdet. Wie begegnen Sie diesen Bedenken?

Spieß: Oft wird angenommen, dass frühkindliche Bildung bedeutet, dass Kinder in der Kita schreiben oder addieren lernen und Kitas praktisch eine vorgezogene Grundschule werden sollen. In Deutschland müssen wir daher noch breiter vermitteln, dass dem nicht so ist, sondern dass es beispielsweise numerische Vorläuferfähigkeiten oder Vorläuferfähigkeiten im Schriftverständnis sind, die wir in Kitas fördern können.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das mir eine Grundschullehrerin erzählt hat. Am ersten Tag der ersten Klasse hatte sie einen Block und einen Stift auf jeden Schultisch gelegt. Dann kamen die Kinder in das Klassenzimmer und fingen an, an dem Stift zu lecken, weil sie ihn für einen Lolli hielten. Kindern, die in einer Kita den Umgang mit Stiften gelernt haben, passiert das nicht. Die neuronale Verknüpfung von Synapsen ist in diesem frühen Stadium sehr wichtig. In der Kita können Kinder lernen, dass sie mit einem Stift auf Papier zeichnen können, dass es einen Unterschied zwischen einer Zahl, einem Buchstaben und einem Bild gibt. Für mich ist es immer wieder faszinierend zu sehen, wie wenig es kostet, damit ein Kind ein numerisches Verständnis entwickelt, was ihm später in der Schule weiterhilft.

Redaktion: Wie sieht es in anderen Ländern aus? Spiegeln sich deren Investitionen in die frühe Bildung in internationalen Vergleichsstudien wider?

Spieß: Die skandinavischen Länder sind berühmt dafür, viel in frühe Bildung zu investieren. Das liegt auch daran, dass in diesen Ländern der Gleichstellungsgedanke relevanter ist als bei uns und beiden Elternteilen sehr viel früher die Möglichkeit eröffnet wird, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Viele skandinavische Länder liegen auch in vergleichenden Bildungsstudien auf den vorderen Plätzen. Vor allem schneiden sie auch besser ab, wenn man sich die Korrelation zwischen elterlichem Bildungshintergrund und kindlichen Schulleistungen anschaut. Da sind wir Deutschen ja Weltschlechtmeister. Wir schneiden insgesamt nicht so schlecht ab, weil die bildungsstarken Schülerinnen und Schüler sehr gut sind. Aber die Bildungsschere ist in Deutschland wesentlich größer als in anderen Ländern.

Redaktion: Wenn Sie bei der Bundesregierung einen Wunsch für das deutsche Bildungssystem frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

Spieß: Mehr Investitionen in und mehr Aufmerksamkeit für die frühe Bildung. Und zwar nicht nur für die Kitas, sondern auch für Angebote, die Familien begleiten und unterstützen. Denn wenn es den Kindern besser geht, geht es auch den Eltern besser, und umgekehrt.

Redaktion: Frau Professorin Spieß, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. C. Katharina Spieß ist Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und hat die Universitätsprofessur für „Bevölkerungsökonomie“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz inne.