Sind Quer- und Seiteneinsteiger:innen in den Lehrberuf nicht qualifiziert genug?

Professor Dr. Andreas Hartinger erläutert die Notwendigkeit, alternative Wege ins Lehramt besser zu gestalten und worauf es dabei ankommt

Der Weg ins Lehramt führt schon lange nicht mehr nur übers Lehramtsstudium. In Zeiten des Lehrkräftemangels tun sich immer neue Wege auf, Lehrkraft zu werden. Doch bleibt dabei die Qualifikation auf der Strecke? Darüber spricht Prof. Dr. Andreas Hartinger von der Universität Augsburg im Interview.

Redaktion: Herr Hartinger, in einer Stellungnahme der Gesellschaft für empirische Bildungsforschung (GEBF) werden alternative Wege ins Lehramt thematisiert und durch sie ein “Unterlaufen etablierter Qualifikationsstandards” befürchtet. Welche empirischen Erkenntnisse gibt es zur Qualifikation von Lehrkräften, die auf alternativen Wegen in den Beruf gekommen sind?

Prof. Dr. Andreas Hartinger: Die Qualifikation dieser Lehrkräfte ist schwierig zu erfassen, weil es sich hierbei um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Es gibt Quer- und Seiteneinsteigende  mit hochgradig unterschiedlichen Fachkenntnissen, Ausbildungswegen und beruflichen Hintergründen. Eine Studie vom Kollegen Dirk Richter, der ebenfalls an der Stellungnahme der GEBF beteiligt war, hat dargelegt, dass Quereinsteigende gar nicht so schlecht dastehen wie ihr Ruf, aber vor allem im pädagogisch-psychologischen Bereich ihre Schwächen haben. Allerdings wurden in dieser Studie Quereinsteigende untersucht, die Mathematik oder ein mathematiknahes Fach  studiert hatten und dann Mathematiklehrerin oder Mathematiklehrer   wurden, also somit natürlich auf der fachlichen Seite keine Probleme hatten. Das ist natürlich ganz anders bei jemandem, der zum Beispiel Erziehungswissenschaft studiert und dann Lehrkraft wird und sich die fachlichen Kenntnisse noch erarbeiten muss. Was man allerdings empirisch nachweisen kann: Die professionellen Kompetenzen von Lehrkräften werden erworben und ergeben sich nicht aus angeborenem Talent.

Redaktion: Welche Kompetenzen sind das?

Hartinger: Hierbei geht es zum einen um das Fachwissen, also dass man sich inhaltlich im Fach auskennt, welches man unterrichtet. Dann wäre da das pädagogische Wissen, also das Wissen darum, wie man Unterricht gestaltet, wie etwa die Merkmale guter Diagnostik aussehen. Und dann, das meiner Meinung nach Wichtigste, das Zusammenfassende: das fachdidaktische Wissen, im Fachjargon pedagogical content knowledge. Als Beispiel: Wenn also ein Kind gerade das Schreiben lernt,kann ich aus der Verschriftung ableiten, wo das Kind steht, was es eventuell für Probleme mit bestimmten orthographischen Regeln hat und wie ich es am besten fördern kann. Das sind alles Kompetenzen, die man, wie empirisch belegt ist, durch eine gute Lehrkräfte-Bildung erwirbt. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer ein solche Studium nicht durchläuft, dem fehlen diese Kompetenzen, zumindest teilweise.

Redaktion: In der Stellungnahme wird betont, dass die alternativen Qualifikationswege ins Lehramt sich verfestigen. Könnten Sie Beispiele dafür geben, wie sich diese Wege etabliert haben und welche Auswirkungen sie auf das Bildungssystem haben?

Hartinger: Wir sehen in unserem Bildungssystem bereits seit einigen Jahren einen erheblichen Wandel. Die Notprogramme zur Lehrkräftegewinnung werden immer mehr zu Standardprogrammen. Gleichzeitig herrscht Konsens darüber, dass das zentrale Problem des Lehrkräftemangels gelöst werden muss. Natürlich kann man nicht ganzen Kohorten von Schülerinnen und Schülern  den Unterricht verweigern, indem man alternative Wege ins Lehramt einschränkt. In Berlin basierten im Jahr 2021 die Neueinstellungen bereits zu 60 Prozent auf Quer- und Seiteneinsteigenden. Und wir sehen bisher überhaupt kein Ende, nirgendwo werden diese Notprogramme wieder geschlossen. Es ist nicht so wie bei den Coronamaßnahmen, die nacheinander wieder abgebaut wurden. Im Gegenteil, das Problem des Lehrkräftemangels ist über Jahre nicht gelöst, und gleichzeitig gibt es keine Hinweise darauf, dass die Zahlen der Studierenden in den regulären Lehramtsstudiengängen entscheidend nach oben gehen würden. Das bedeutet, wir werden mit den neuen alternativen Wegen ins Lehramt langfristig leben müssen und müssen diese entsprechend positiv gestalten. 

„Unterricht so planen, dass unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Entwicklungsprozesse fach- und sachgerecht berücksichtigt werden, ist doch eine Maßgabe die man nicht unterschreiten sollte.“

Prof. Dr. Andreas Hartinger

Redaktion: Was schlagen Sie hierzu vor?

Hartinger: Die GEBF hat hierzu das Konzept eines viersemestrigen Masterstudiengangs entwickelt. Je nachdem, woher die angehenden Lehrkräfte kommen, werden sie dabei adaptiv ausgebildet und haben die Möglichkeit, individuell ihre Wissenslücken zu schließen. Parallel dazu sollen sie im ersten Jahr bereits in der Schule unterstützend arbeiten. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein Mentoring-System, für das empirisch belegt ist, dass es den Quer- und Seiteneinsteigenden signifikant hilft. Im zweiten Jahr kommen dann bis zu zehn eigenverantwortliche Unterrichtsstunden hinzu. Hieran schließen sich  ein kürzerer Vorbereitungsdienst und danach Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung an. 

Redaktion: Eine der zentralen Forderungen in der Stellungnahme der GEFB ist, dass alle Lehrpersonen die gleichen wissenschaftlichen Qualifikationen benötigen. Könnten Sie erläutern, welche Qualifikationen beziehungsweise Mindestanforderungen Sie hier als notwendig erachten und warum sie so wichtig sind?

Hartinger: Wenn die großen Studien in der Bildungsforschung wie die von John Hattie irgendetwas gezeigt haben, dann doch, dass die Qualität der Lehrpersonen zentral ist für wirksamen Unterricht. Und damit sind auch die professionellen Kompetenzen und Überzeugungen, die Lehrpersonen in ihrem Studium aufbauen, zentral. Was die Qualifikationen angeht, denke ich, dass die Qualitätsstandards der KMK (Der Link zu diesen findet sich unter diesem Interview, Anm. d. Red.) eine sehr solide Grundlage sind. Dass beispielsweise Lehrkräfte in der Lage sind, Unterricht so zu planen, dass unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Entwicklungsprozesse fach- und sachgerecht berücksichtigt werden, ist doch eine Maßgabe die man nicht unterschreiten sollte.

Redaktion: Was kann die Bildungsforschung tun, um der Entwicklung Rechnung zu tragen und die alternativen Wege ins Lehramt wissenschaftlich zu begleiten?

Hartinger: Bei allen Studien zur Lehrkräfteexpertise und -kompetenz haben wir einen relativ weiten Weg zu gehen. Im ersten Schritt muss es darum gehen, das Wissen und die Kompetenzen von Lehrpersonen zu erheben. Da brauchen wir viele Daten, um die Qualifikationen, unterschiedliche Lernvoraussetzungen und vorberufliche Erfahrungen zu erfassen und in Beziehung zu setzen. Dann muss man sich natürlich auch die einzelnen Maßnahmen anschauen und evaluieren, wie diese gewirkt haben. Wenn wir das haben, ist eine gute Grundlage vorhanden, um die alternativen Wege mit dem regulären Weg über das Lehramtsstudium zu vergleichen. In einem zweiten Schritt müssen wir uns dann anschauen, wie sich der Unterricht mit Quer- und Seiteneinsteigenden entwickelt, in einem dritten, wie sich das auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler auswirkt. Und damit meine ich nicht nur das kognitive Lernen. Es geht auch um Fragen wie: Wie entwickeln sich die Interessen, die Selbsteinschätzung, das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler?

Redaktion: Welche Botschaft würden Sie Schulleitungen und Schulverwaltungen mitgeben, die im Spannungsfeld zwischen Lehrkräftemangel und Qualifikation von Seiten- und Quereinsteigenden stehen?

Hartinger: Es ist sehr wichtig, ein gutes Mentoring-Programm vor Ort aufzubauen. Quer- und Seiteneinsteigende und auch junge Lehrkräfte, egal woher sie kommen, brauchen eine feste Ansprechperson, die sich um sie kümmert und an die man sich mit Fragen wenden kann, sonst kommt man schnell in Überforderungssituationen. Es ist zudem sehr wichtig, dass man längerfristig denkt und neue Lehrkräfte im ersten Jahr nicht mit zu viel Eigenverantwortung überlastet. Wir haben erlebt, dass Menschen schon während des Studiums 18 Stunden unterrichten – und dann das Studium abbrechen. Sie sind überfordert und denken: „Das schaffe ich nie, so viel zu unterrichten.” Dabei ist es klar, dass man das im dritten oder fünften Semester nicht schafft. Ebenso klar ist es, dass ich das aber nach dem zweiten Staatsexamen doch deutlich besser bewältigen kann. So brechen uns Lehrkräfte weg, die ansonsten vielleicht 35 Jahre unterrichtet hätten. Es ist darüber hinaus wichtig, auch vor Ort Wert auf die Qualifikation zu legen, dass Lehrkräfte etwa wissen, was guten Unterricht ausmacht. Das muss die Basis sein, auf der auch Quer- und Seiteneinsteigende arbeiten.

Redaktion: Herr Professor Hartinger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Andreas Hartinger ist Inhaber des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Augsburg. Dort leitet er auch als Sprecher das Augsburger Projekt LeHet (Förderung der Lehrerprofessionalität im Umgang mit Heterogenität) im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Professionalisierung von Lehrer:innen sowie in der empirischen Grundschulforschung, u.a. zu Fragen des jahrgangsgemischten Lernens, zu Lernentwicklungsgesprächen sowie zum frühen naturwissenschaftlichen Lernen. Als Mitglied der Gesellschaft der empirischen Bildungsforschung (GEBF) war er an der Formulierung der Stellungnahme „Alternative Qualifikationswege für Lehrkräfte ohne traditionelles Lehramtsstudium in Zeiten des Lehrkräftemangels“ beteiligt.