Wie Lehrkräfte im Berufsalltag gesund bleiben können

Schulstress kann viele Ursachen haben. Martina Schmidt erklärt unterschiedliche Strategien, diese zu bekämpfen.

Viele Lehrer:innen fühlen sich überlastet. Ex-Lehrerausbilderin Martina Schmidt erklärt im Interview, woran das liegt und was man dagegen tun kann.

Redaktion: Welche Ursachen hat es eigentlich, dass sich viele Lehrerinnen und Lehrer so stark belastet fühlen?

Martina Schmidt: Zur Zeit haben wir extremen Lehrkräftemangel, das allein ist schon ein Belastungsfaktor. Aber ganz wichtig ist es auch, die räumliche Situation in den Schulen anzuschauen. Denn über 80 Prozent der Lehrkräfte fühlen sich dadurch stark belastet, dass sie im Laufe des Schultages keine Gelegenheit haben, um erholsame Pausen machen zu können, das hat eine Studie der Uni Göttingen gezeigt. Man sagt alle 50 Minuten braucht der Körper eine Pause, und das bedeutet eben auch, wirklich eine Rückzugsmöglichkeit zu haben, um abschalten zu können.

Dazu kommt der Faktor Arbeitszeit: Ganz viele Lehrkräfte sagen, dass insbesondere während der Pandemie das Phänomen der entgrenzten Arbeitszeit dazugekommen ist; also dass sie auch wenn sie zu Hause sind, immer noch ansprechbar sein müssen. Es ist schwer, sich da abzugrenzen. Hinzu kommt, dass die Schüler und Schülerinnen als immer herausfordernder erlebt werden.

Redaktion: Aber auch der Unterricht selbst hat ja Faktoren, die ihn anstrengend machen. Die Lautstärke zum Beispiel. Was noch?

Schmidt: Lehrkräfte müssen pro Unterrichtsstunde ungefähr 200 Entscheidungen treffen. Wenn man das mal auf einen Schultag hochrechnet, dann sind das tausend und mehr Entscheidungen. Diese komplexe Anforderung gepaart mit hoher Lärmbelastung wird modernen Ansprüchen an Arbeitsplatzgesundheit in keiner Weise gerecht, um so mehr, als wie oben gesagt, die Möglichkeiten, sich zurückzuziehen fehlen. Dazu kommt der Faktor Crowding, sagen Psychologen.

„Ein Schulteam muss sich überhaupt erstmal die Frage beantworten: Welchen Wert haben Pausen für unser Kollegium?“

Martina Schmidt

Redaktion: Was genau meinen Psychologen mit Crowding?

Schmidt: Crowding bedeutet nicht nur Reizüberflutung und umgeben sein von anderen Menschen, es bedeutet auch, dass ich ständig in Interaktion bin - ich muss als Lehrkraft ständig reagieren, organisieren, irgendetwas entscheiden. Diese Interaktion heißt aber auch Überflutung und Überstimulation durch alle möglichen sensorischen Reize. Ich höre, sehe, rieche die ganze Zeit etwas, was im schulischen Kontext nicht unbedingt immer angenehm ist, und ich kann mich dem nicht entziehen. Das alles führt dazu, dass ich im Laufe eines Schulmorgens wirklich so viel physische und psychische Energie verbrauche, dass ich am Ende völlig platt bin.

Redaktion: Was kann ich als Lehrkraft tun, damit das nicht so ist?

Schmidt: Ich muss mir erstmal klar machen, dass ich diese Pausen brauche. Im nächsten Schritt kann ich Techniken erlernen, mit denen man innerhalb weniger Minuten Erholung bekommt.
Voraussetzung dafür ist, dass Schulen sich zu pausenfreundlichen Einrichtungen entwickeln, also wirklich eine neue Pausenkultur etablieren. Und da finde ich es ganz wichtig, dass ein Schulteam sich überhaupt erstmal die Frage beantwortet: Welchen Wert haben Pausen für unser Kollegium? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich nur mit Einzelnen arbeite, dass die sagen „Ich weiß jetzt es täte mir gut, wenn ich mich mal hinsetzen würde. Aber wenn ich dann schiefe Blicke bekomme von den anderen, die weiter rumwuseln, dann mache ich das nicht.“

Redaktion: Wie sieht denn eine pausenfreundliche Schule aus?

Schmidt: Toll ist es, wenn man freistehende Räume mit Rückzugsmöglichkeiten einrichten kann. Aber es hat natürlich nicht jede Schule die Möglichkeit zu sagen, hier machen wir jetzt einen Entspannungsraum. Da müssen manchmal auch Behelfslösungen her. Es gibt zum Beispiel Schulen, die haben im Lehrerzimmer ein Tischchen platziert, und da ist durch vorherige Absprache völlig klar: Wenn sich jemand an diesen Tisch setzt, dann möchte der jetzt gerade einmal nicht über den Schulalltag sprechen. 

Psychische Belastung bei Lehrkräften: Die Studienlage

Wissenschaftliche Untersuchungen zur Gesundheit von Lehrkräften belegen, dass der Beruf mit großen Herausforderungen verbunden ist, die im ungünstigsten Fall krank machen können. 2020 stellte eine Studie bei rund 28 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer eine starke Erschöpfung fest, die auf einen Burnout hinweisen könnte. Frühere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Laut einer Studie von 2021 ist die psychische Erschöpfung in allen sozialen Interaktionsberufen höher als bei anderen Beschäftigten. Lehrer:innen folgen dabei im Ranking der belastetesten Berufsgruppen direkt auf Pfleger:innen und Erzieher:innen. Damit ist das Risiko psychisch erschöpft zu sein bei Lehrern und Lehrerinnen zwei bis drei Mal so hoch wie in verschiedenen handwerklichen Berufen. In einer Befragung von 400 Schulleitungen wurde sogar bei mehr als der Hälfte von ihnen depressive Störungen beziehungsweise Burnout-Symptome festgestellt. Neben äußeren Stressoren liegen die wichtigsten Faktoren für die Entwicklung eines Burn-Outs laut Expert:innen in der Persönlichkeit. Wer hohe eigene Ansprüche hat und immer von allen gemocht werden möchte, ist demnach besonders gefährdet.

Redaktion: Gibt es Schulen, die richtige Entspannungsräume für Lehrkräfte eingerichtet haben? Wie sehen die aus?

Schmidt: Also schön ist es immer, wenn es ein Raum ist, der ganz anders aussieht als der Rest der Schule. Wenn es zum Beispiel die Möglichkeit gibt, sich bequem hinzusetzen, auf bequemen Stühlen, Sesseln, vielleicht auch so etwas wie Liegen. Schöne Farben sind wichtig, eventuell auch Düfte im Raum. Die Möglichkeit, Musik zu hören oder durch das Angebot von Noise-Cancelling-Kopfhörern einfach mal nur Ruhe zu haben. Aber es gibt auch Schulen, die richten einen Cafe-Bereich ein, wo man sich treffen kann. Da gibt es schon wirklich gute Beispiele, ich war neulich in Freiburg im Montessori-Zentrum, die hatten einen wunderschönen Cafe-ähnlichen Raum, wo sich alle treffen können.

Redaktion: Man muss natürlich auch die Zeit haben, solche Entspannungsräume überhaupt zu nutzen.

Schmidt: Ja, viele Lehrkräfte haben ja die Pausen so vollgepackt, dass am Ende gar keine Zeit mehr übrig bleibt für die eigene Erholung. Entweder steht ein Raumwechsel an oder ich habe Pausenaufsicht. Also auch da muss man sich im Kollegium fragen, wie können wir die Pausen entweder verlängern oder kompakter gestalten? Wie können wir uns gegenseitig entlasten, so dass dann auch wirklich Pausenzeiten für mich und meine KollegInnen möglich sind? 

Redaktion: Kann man auch zusammen mit Schülerinnen und Schülern entspannen?

Schmidt: Ja, es ist meiner Meinung nach sowieso eine der wichtigsten Aufgaben von Bildung heutzutage, den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten an die Hand zu geben, wie sie sich selbst regulieren können. Ich bin da Fan von Embodiment-Techniken, wo ich ganz bewusst mein Körper-Feedback nutze, um mich relativ schnell in eine andere Haltung zu bringen, und zwar sowohl äußerlich als auch innerlich. Das kann eine kleine Ohrenmassage sein, bei der alle in der Klasse ihre Ohren massieren. Oder eine Atemübung, bei der man mit einem Finger der rechten Hand beim Einatmen der Reihe nach die Finger der linken Hand hochfährt und beim Ausatmen runter. Da ist das Körperfeedback relativ schnell da, was in meinem Gehirn andere Botenstoffe ausschüttet und dazu führt, dass ich eher in einen Erholungsmodus komme. 

„Man muss erstmal dafür sorgen, dass man selbst im stabilen Stand ist, und dann kann auch gut für andere da sein.“

Martina Schmidt

Redaktion: Es ist wahrscheinlich mit pubertierenden Klassen nicht mehr so einfach, solche Entspannungsübungen zu machen, oder?

Schmidt: In meinen Workshops gibt es immer wieder Kolleginnen und Kollegen, die sagen, dass sie das mit ihren Lerngruppen im Gymnasium nicht machen können. Und dann sitzen da wieder andere, die auch im Gymnasium unterrichten und sagen, dass es bei ihnen kein Problem ist. Das ist sehr stark personenabhängig, das hat uns auch die Hattie-Studie gezeigt. Es hängt immer ganz viel davon ab, ob ich selbst als Lehrkraft überzeugend dahinter stehe. 

Redaktion: Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, als Sie in der Lehrkräfteausbildung zu diesem Thema unterrichtet haben? 

Schmidt: Da werde ich einen Workshop nie vergessen, den ich mal für Lehramtsanwärter:innen gegeben habe und der auf große Resonanz gestoßen ist. „Kleine Pause, große Wirkung“, hieß der, in dem wir Entspannungstechniken gemeinsam  erlernt und praktiziert haben. Und dann sagten mir die Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter hinterher: „Ach, es ging um mich, als Lehrkraft! Ich hab gedacht, ich lerne, wie ich die Schulpause, also eine Pause für die Schüler:innen effizienter gestalten kann!“ Aber das ist es eben, was auch viele Lehrkräfte erst noch lernen müssen: Man muss erstmal dafür sorgen, dass man selbst im stabilen Stand ist, und dann kann man auch gut für andere da sein.

Redaktion: Frau Schmidt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Martina Schmidt hat 25 Jahre als Grundschullehrerin gearbeitet, war Fachleiterin im Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Hamm und in der Lehrkräftefortbildung der Bezirksregierung Arnsberg tätig. Inzwischen arbeitet sie selbständig und unterstützt als Expertin für Burnoutprävention, Resilienztrainerin und Coach Lehrkräfte dabei, im Schulalltag gelassen und gesund zu bleiben. Zu ihrem Angebot gehören Workshops für Schulen, persönliche Coachings und auch ein Podcast zum Thema Gesundheit im Lehrberuf.