Wie können Schulen und Bildungsforschung besser zusammenarbeiten?
In ihrem Gastbeitrag skizzieren Dr. Désirée Theis und Dr. Raphaela Schlicht-Schmälzle, wie Wissenschaft-Praxis-Partnerschaften aufgebaut werden können
Partnerschaften zwischen Bildungsforschung und Bildungspraxis sind elementar, um evidenzbasierten Fortschritt im Bildungssystem zu ermöglichen. Dennoch stecken sie in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Was es braucht, um dies zu ändern, schildern Dr. Désirée Theis und Dr. Raphaela Schlicht-Schmälzle im Gastbeitrag.
Die Idealvorstellung ist so einfach wie effektiv: Schulen und Bildungsforschung arbeiten eng zusammen, um die Bildungschancen aller Kinder und Jugendlichen kontinuierlich zu verbessern. Schulen erhalten von der Bildungsforschung relevante wissenschaftliche Ergebnisse, die den Unterricht und die Schulentwicklung verbessern, und Lehrkräfte und Schulleitungen erhalten Unterstützung von Forschenden bei der Umsetzung innovativer Veränderungen. Im Gegenzug hat die Wissenschaft stets ihr Ohr an der Schulpraxis. Sie entwickelt relevante Fragestellungen, die die praktische Arbeit erleichtern und verbessern, und sie entwickelt realistisch umsetzbare und effektive Interventionen. Idealerweise profitieren dabei beide Seiten voneinander.
In der Realität bleibt diese Vision jedoch ein Wunschbild. Vielmehr klafft eine Lücke zwischen beiden Welten. Eine Möglichkeit, um diese Lücke zu schließen, liegt in engen kooperativen Partnerschaften zwischen Vertretern der Schulpraxis und der Bildungsforschung. Hier setzen Wissenschaft-Praxis-Partnerschaften (WPP) mit dem Anspruch an, die Zusammenarbeit und die Einheit von Schule und Forschung langfristig zu stärken. In den USA haben sich solche Partnerschaften an der Schnittstelle zwischen Bildungsforschung und Bildungspraxis bereits etabliert, um stabile Brücken zwischen Schule und Bildungsforschung zu schlagen. In Deutschland ist das Konzept der WPP aber noch weitgehend unbekannt.
Was sind WPP und was zeichnet sie aus?
WPP können vielfältige Formen annehmen. Sie können Forschende und Vertreterinnen und Vertreter der Schulpraxis einzelner oder mehrerer Schulen umfassen, aber auch Vertreterinnen und Vertreter der Schulverwaltung (Schulämter). Eine erfolgreiche Partnerschaft weist in der Regel fünf zentrale Merkmale auf (siehe z.B. Coburn und Penuel, 2016):
1. Die Herausforderungen der Schulpraxis stehen im Fokus der Arbeit
Die Kooperationen zwischen Schulen und Hochschulen adressieren gemeinsam Probleme, die sich aus der täglichen Arbeit an Schulen ergeben. Ausgangspunkt der Zusammenarbeit sind somit konkrete lokale Herausforderungen der Praxis. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Wissen entwickelt wird, welches pädagogisch tätigen Personen in ihrem Alltag hilft und genutzt wird. Die Themen, die von WPP behandelt werden, sind vielfältig und setzen auf vielen Ebenen an. Zentral ist, dass immer auf die Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen an den Schulen oder die Förderung der Chancengleichheit von Lernenden abgezielt wird.
2. Forschung ist eine zentrale gemeinsame Aktivität der Partnerschaft
Das Ziel von WPP ist es, Forschungsergebnisse zu generieren, um evidenzorientierte Antworten und Lösungen zu drängenden Fragen der Schulpraxis zu liefern. Das bedeutet, dass gemeinsam Forschungsfragen entwickelt werden und eine Forschungsagenda passend zu den von der Partnerschaft definierten Zielen aufgebaut wird. Dabei werden auch Daten erfasst und analysiert. Diese Daten können auf vielfältige Weisen erhoben werden, etwa über Fragebögen, Interviews, Gruppendiskussionen oder Videos. Sie dienen der Beantwortung praxisorientierter Fragestellungen.
3. Möglichst alle relevanten Professionen und Akteure arbeiten zusammen
An der Zusammenarbeit in WPP sind immer Personen unterschiedlicher Professional Communities mit jeweils eigenen Handlungs- und Denklogiken beteiligt. Idealerweise sollen innerhalb dieser Communities möglichst alle relevanten Personen eingebunden werden. Das können auf der Seite der Schule nicht nur Lehrkräfte und Schulleitungen sein, sondern auch Personen aus der Bildungsverwaltung, Betreuerinnen und Betreuer von Ganztagsangeboten, Schulsozialarbeitende und im Bereich der Schulpsychologie Tätige, oder gar, wenn es für das Thema relevant ist, unterrichtsfernes Personal wie Sekretariatsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter oder Hausmeisterinnen und Hausmeister. Auch auf der Seite der Wissenschaft sollten idealerweise jene Disziplinen beteiligt sein, die für die wissenschaftlichen Fragen der Partnerschaft relevant sind. Um die Zusammenarbeit in einem solchen Gefüge zu ermöglichen, werden in WPP von Beginn an Strategien entwickelt und angewendet, die die gemeinsame Arbeit unterstützen. Vertragliche Regelungen bezüglich der Kooperation unterstreichen die Verbindlichkeit der Partnerschaften.
4. Das Forschungsprogramm wird von Schulpraxis und Bildungsforschung gemeinsam bearbeitet
Durch WPP verändern sich Machtverhältnisse und Hierarchien in Forschungsprogrammen. Das Ziel ist eine Zusammenarbeit aller Beteiligten auf Augenhöhe bei der Gestaltung des Forschungsprogramms. Die Schulpraxis arbeitet demnach aktiv in allen Phasen des Forschungskreislaufs mit. Damit soll sichergestellt werden, dass sich bereits die Fragestellungen, aber auch die Methoden und letztlich die Befunde an den Bedarfen und Gegebenheiten der Schulpraxis orientieren. Für diese Anforderungen sind grundlegende Forschungskompetenzen oder zumindest die Bereitschaft, Forschungsprozesse nachzuvollziehen, auf der Seite der Schulpraxis notwendig. Gleichzeitig braucht es die Bereitschaft der Forschenden, sich auf die Fragen und Probleme der Praxis einzulassen und Forschungsfragen zu entwickeln, die sowohl wissenschaftlich tragfähig sind als auch Relevanz für die pädagogische Praxis haben.
5. Das Ziel sind langfristige Kooperationen
In WPP arbeiten Bildungsforschende und pädagogisch tätige Personen weit über die Dauer eines einzelnen Projekts hinaus zusammen. Die dauerhafte und projektübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht ein gegenseitiges Kennenlernen und schafft Raum zum Aufbau von Vertrauen. Ein prominentes Beispiel aus den USA einer entsprechenden Partnerschaft, deren Dauer auf mehrere Jahrzehnte angelegt ist, ist das University of Chicago Consortium of School Research . Auch in Deutschland entstehen in den letzten Jahren vermehrt sogenannte Versuchs- oder Universitätsschulen, die sich den Ansatz von WPP zu eigen machen. Der Aufbau langfristiger Kooperationen erfordert ein Bekenntnis zu der Partnerschaft und eine strategische Priorität auch auf institutioneller Ebene in Schule und Hochschule. Ohne die verbindliche Unterstützung von Schulleitungen und Fakultätsmitgliedern sind entsprechende Kooperationen kaum realistisch.
Wie kann eine WPP in der Schule gelingen?
WPP stellen hohe Anforderungen an alle Beteiligten und erfordern mitunter ein Umdenken bezüglich gewohnter Handlungslogiken und Arbeitsidentitäten. Für die erfolgreiche Zusammenarbeit in Form von WPP ist es wichtig, dass die beteiligten Institutionen hinter der Partnerschaft stehen und Ressourcen für diese bereitstellen. Eine schriftliche Vereinbarung unterstreicht die Priorisierung der Partnerschaften in den Institutionen und stellt sicher, dass die vereinbarten Ziele von allen Beteiligten geteilt werden. Sind an der Partnerschaft Schulen und Hochschulen beteiligt, sollten Personen der Führungsebene dieser Institutionen an der strategischen Planung der Partnerschaft, der Aushandlung gemeinsamer Ziele und der Planung von Vorgehensweisen und Aktivitäten aktiv beteiligt sein. Die Bereitstellung von zeitlichen Ressourcen spielt gerade auf Seiten der pädagogisch tätigen Personen eine zentrale Rolle. Freistellungen für Netzwerktreffen oder kleinere Forschungsaktivitäten sollten unbürokratisch möglich sein.
Ein hilfreiches Element kann der Einsatz von Vermittlungspersonen sein, sogenannte Broker. Dies sind Personen oder Institutionen, die sowohl mit der Seite der Forschung als auch der pädagogischen Tätigkeit vertraut sind. Sie sind dafür verantwortlich, die Partnerschaft zu koordinieren und zwischen den verschiedenen Akteuren zu vermitteln. Broker brauchen Fachwissen sowohl im schulpraktischen als auch im wissenschaftlichen Feld und Kompetenzen, um vermittelnde und kommunikative Aufgaben wahrzunehmen. Der Ausbildung von Fachkräften für solche Brokerrollen widmet sich zum Beispiel das Peers4Practice-Projekt am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Der Einsatz eines Brokers kann dabei helfen, unterschiedliche Arbeitskulturen und Handlungslogiken, aber auch unterschiedliche Fachsprachen und Kulturen zu integrieren und so den Aufbau vertrauensvoller Partnerschaften zu unterstützen. Auch die Bereitstellung neutraler Orte (third spaces) für die Partnerschaftsarbeit kann hilfreich sein. Finden Treffen und partnerschaftliche Aktivitäten ausschließlich an der Forschungsinstitution oder der pädagogischen Institution selbst statt, kann dies mit einem Machtgefüge einhergehen, das eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe erschweren kann.
Insgesamt können WPP dabei helfen, ein besseres Verständnis zwischen Schulpraxis und Bildungsforschung zu fördern. Aus unserer Sicht lohnt es sich für Schulleitungen und Führungspersonal in Schulämtern, mit konkreten lokalen Herausforderungen an wissenschaftliche Einrichtungen heranzutreten, um erste Kooperationen anzubahnen, aus denen Partnerschaften entstehen können. Am DIPF werden solche Partnerschaften im Rahmen des Campusschulprogramms vorangebracht und im Projekt PaTH beforscht.