Digitale Ungleichheit und was Schulen dagegen tun können

Mandy Schiefner-Rohs, Professorin für Allgemeine Pädagogik an der RPTU Kaiserslautern-Landau, reflektiert im Gastbeitrag die Teilhabechancen in der digitalen Gesellschaft.

Die digitale Transformation berührt nahezu alle Bereiche des Alltagslebens und betrifft zweifellos uns alle. Aber wie steht es um die Teilhabechancen in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft? In einer Nachbetrachtung zur Bildungskonferenz 2023 der aim, auf der auch diese Frage kontrovers diskutiert wurde, gibt Prof. Dr. Mandy Schiefner-Rohs in ihrem Gastbeitrag Antworten.

„Wir leben alle in einer digitalen Welt, oder?“ – Die Frage des Podiums auf der diesjährigen Biko 2023 irritierte erst einmal, denn klar, würde man antworten, leben wir alle in einer digitalen Welt. Das Smartphone ist unser Alltagsbegleiter und gleichzeitig Busfahrplan und -ticket, Fotokamera, Fenster zur Welt unserer Freunde, Banking-Tool und vieles mehr, oft hat man das Gefühl, dass man mit dem Smartphone am wenigsten telefoniert. Die meisten sind mittlerweile kaum mehr offline und das Digitale hat den Alltag bis ins Kleinste durchdrungen. Und dennoch kann und sollte man mit dem Blick auf die Eingangsfrage auch kritisch rückfragen: Wirklich alle?

Medienbesitz als Indikator?

Denn ja, die meisten Menschen besitzen zwar digitale Geräte, sei es ein Smartphone oder ein Tablet, die einen Zugang zur digitalen Welt ermöglichen, aber eben nicht alle. Doch die Frage impliziert nicht nur ein Ausstattungsproblem, sondern kann auch mit Blick auf die sogenannte zweite und dritte Ebene (digitaler) Ungleichheit gelesen werden, die für mich vor allem mit Schule und ihren Aufgaben verbunden ist. Denn in Kindheit und Jugend ist die Nutzung digitaler Tools primär durch ihren familiären Alltag, elterliche Ressourcen und durch Peerbeziehungen geprägt.  Medienerziehungsstile und Medienpraxen werden unterschiedlich ausgestaltet (Kutscher, 2014, 2019), was zu ganz unterschiedlichen Nutzungsweisen digitaler Medien führt, aber oftmals vergessen wird. In anderen Worten: es gibt einen Zusammenhang von soziodemographischen Faktoren wie Herkunft, Geschlecht, Bildung und sozioökonomischem Status und spezifischen Nutzungsweisen digitaler Medien (Kutscher & Iske, 2022). Für einige Kinder und Jugendliche sind digitale Geräte erst einmal nicht mit Lernen, sondern vor allem mit Spielen und Unterhaltung verbunden. Hinzu kommt: Schon in den frühen ICILS-Studien wurde deutlich, dass Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums signifikant bessere Leistungen bezüglich computerbezogener Kompetenzen erzielten als Schülerinnen und Schüler der anderen Schulformen (Bos et al., 2014). Und auch die JIM-Studie 2021 zeigt die unterschiedlichen Nutzungsweisen zwischen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sowie Haupt- und Realschülerinnen und -schülern während beziehungsweise nach Corona (JIM, 2021): Das zeigt sich nicht nur mit Blick auf den Bereich des Online-Lernens, sondern auch die Nutzungshäufigkeit von digitalen Spielen und die Informationssuche im Internet unterscheidet sich zwischen beiden Gruppen zum Teil deutlich (ebd.). Gerade letzteres halte ich für die schulische Auseinandersetzung mit digitalen Medien und deren Implikationen für relevant, weil darin vor allem Medienbildungsaufgaben sichtbar werden. Denn: die Diskussion um die sogenannten digital natives, so oft sie auch als Argument hiervorgebracht wird, ist wissenschaftlich nicht haltbar (vgl. u.a. Schulmeister, 2007). Heute aufwachsende Kinder und Jugendliche können nicht besser oder kompetenter mit digitalen Medien umgehen, nur, weil sie mit diesen aufgewachsen sind. 

Rolle von Medien, Daten und Algorithmen

Hinzu kommt, dass bei der Frage, ob wir wirklich alle gleichermaßen an der digitalen Welt teilhaben, zunächst einmal geklärt werden muss, was das „alle“ in der digitalen Welt eigentlich bedeutet. Denn zunehmend ist auch ein Phänomen zu beobachten, das als Zero- oder Third-Level-Divide bezeichnet wird. Damit ist eine infrastrukturelle Ungleichheit gemeint, die sich eher im Hintergrund vollzieht und sich vor allem in der Anwendung von Algorithmen zeigt (Allert, 2020; Iske et al., 2020; Verständig, 2019): Nutzende im Netz werden nämlich durchaus datenbasiert unterschiedlich kategorisiert, was für deren Teilhabe in ökonomischer wie gesellschaftlicher Hinsicht teils heute schon weitreichende Folgen hat: Nutzerinnen und Nutzer bekommen qua Informationsverhalten nicht nur andere Ausschnitte der digitalen Welt algorithmisch gesteuert angezeigt, sondern erhalten als „big data rich“ und „big data poor“ im Zuge algorithmenbasierter Zugangssteuerungs- und Ratingprozesse unterschiedliche ökonomische und gesellschaftliche Teilhabeoptionen (Kutscher, 2019; Zuboff, 2015), man denke nur an die Kreditvergabe oder Krankenkassenbeitragsberechnung.

Und nicht zuletzt befinden sich in den Geräten eingeschrieben ebenfalls ungleichheitsrelevante Strukturen, denn die Entwicklung von Hard- und Software und die technische Konstruktion von Apps oder digitalen Geräten beruht auf spezifischen Annahmen über die künftigen Nutzerinnen und Nutzer und auch auf bestimmten Menschenbildern. (Hofhues et al., 2020). Das Internet stellt sich also eben nicht für alle Menschen gleich dar. 

Aufgaben von Schule und Schulmanagement

Damit ist die Frage, ob alle in der digitalen Welt leben, komplex(er) und formuliert dringende Aufgaben an Schule. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Bildungseinrichtungen auch Ort der Kompensation von Benachteiligungen und Ungleichheiten sind beziehungsweise sein sollten, dann stellt sich hier für mich die Frage, wie Schulen mit dieser Herausforderung aktuell umgehen. Zudem ist kritisch zu fragen, ob wir in der Schule digitale Ungleichheit auch indirekt dadurch (re-)produzieren, dass immer mehr ins Netz verlagert wird oder vermehrt Künstliche Intelligenz nun auch in den Schulalltag Einzug hält. 

Das bedeutet, um wirklich allen ein Leben in der digitalen Welt zu ermöglichen, ist Schule immer wieder aufgefordert, nicht nur Medien zur Vermittlung und Aufbereitung von Lerninhalten zu nutzen, sondern eine Mediengrundbildung für alle zu ermöglichen. Hierzu gehört auch das pädagogische Personal.  Und ich meine bewusst pädagogisches Personal, denn es betrifft eben nicht nur Lehrpersonen in ihrer unmittelbaren Gestaltung von Lehr-Lernprozessen, sondern auch beispielsweise Schulleitungen bezogen auf die Frage, wie Schule in der digitalen Welt, in der alle leben, eigentlich gestaltet werden kann, wie Personalentwicklung umgesetzt werden muss und welche Akteure gemeinsam zusammenarbeiten müssen. Es betrifft aber auch Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter und weiteres Personal in der Schule, denn die Auswirkungen digitaler Medien sind vielfältig. Und nicht zuletzt ist auch die Schuladministration gefordert, Strukturen zu schaffen, die einen solchen Medienbildungsauftrag von Schule wahrscheinlich(er) machen. Das bedeutet nicht nur, Medienbildungsfragen in die entsprechenden Curricula und Rahmenpläne aufzunehmen, sondern macht es auch erforderlich, Prüfungsanforderungen und -formate oder Strukturen von Schule neu beziehungsweise anders zu denken. 

Wir sehen also: wir leben alle in einer digitalen Welt, in dem Sinne, dass wir uns alle in ihr zurechtfinden müssen. Dies nimmt uns aber auch in die Pflicht, diese Welt gemeinsam so zu gestalten, dass wirklich alle die Chance haben, gleichermaßen an ihr teilzuhaben.