„Es braucht mehr als ein bisschen Kosmetik."
Spannender Auftakt der Veranstaltungsreihe Podium schulmanagement: Wie gelingt der Transfer von Forschungserkenntnissen in die Praxis?
Trotz einer Fülle an bildungswissenschaftlicher Forschung, finden die dort gewonnenen Erkenntnisse noch zu selten ihren Weg in die Schulpraxis. Über Ursachen und Ansatzpunkte dieses Transferdefizits diskutierten Schulleiterin Birgit Wahr, Schulleiter Micha Pallesche und Bildungsforscher Colin Cramer.
Wie gelangen Forschungserkenntnisse erfolgreich in die Bildungspraxis?
Innovationen erfordern kognitive Beweglichkeit – so ließe sich eine der zentralen Erkenntnisse des ersten Podiums schulmanagement zusammenfassen, das am 18. März in Heilbronn stattfand. Eingeladen hatte die Akademie schulmanagement zu einem öffentlichen und live im Stream übertragenen Dialog zwischen Vertreter:innen aus der Schulpraxis und der Wissenschaft, in dessen Zentrum die Frage stand, wie die Bildungsforschung Schulleitungen darin unterstützen kann, Schulen lernwirksamer zu gestalten.
Eine Frage, die Colin Cramer, Professor für Professionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen gleich zu Beginn der Veranstaltung in einen wechselseitigen Austausch zwischen Bildungsforschung und -praxis öffnete: „Ich würde mich unwohl fühlen, wenn nur die Frage gestellt würde, was die Bildungsforschung tun kann.“ Damit lag der Ball zunächst bei den beiden anwesenden Schulleitungen, die Voraussetzungen und Hürden für evidenzorientiertes Handeln an Schulen zu definieren.
„Jeder hat ein klares Bild von Schule im Kopf. Das macht es schwierig, Überzeugungen aufzubrechen und Veränderungsprozesse anzugehen.“
Micha Pallesche
Micha Pallesche, Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe betonte, dass die Verantwortlichen in den Schulen zunächst einmal bereit sein müssten, eigene Überzeugungen kritisch zu hinterfragen. Das sei eine Grundvoraussetzung dafür, wissenschaftliche Erkenntnisse in einen Transformationsprozess zu übersetzen: „Jeder hat ein klares Bild von Schule im Kopf“, so Pallesche. Damit gingen häufig Zweifel und Unverständnis für die Notwendigkeit von Veränderungen einher, „weil wir doch früher auch auf den Mond gekommen sind“, wie die Schulleiterin des Kusterdinger Firstwald-Gymnasium, Birgit Wahr, anekdotisch ergänzte. Für sie stand fest: „Wir wollen aber nicht mehr auf den Mond, wir müssen woanders hinkommen. Unsere Ziele sind durch die Veränderung und Komplexität der Gesellschaft andere geworden.“
Aber wie können Praktiker:innen, Kooperationspartner:innen und Eltern von neuen Forschungsergebnissen überzeugt werden? Schulleitungen käme hier in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu. Sie müssten relevante Forschungsergebnisse rezipieren, in ihrer Schulgemeinde einen emotionalen Bezug dazu herstellen und die unterschiedlichen Akteure für Schulentwicklung zusammenbringen. Der Fokus auf Schulleitung und Kollegium hätte mittlerweile zudem ausgedient: „Es braucht mehr als ein bisschen Kosmetik an der ein oder anderen Stelle“, so Pallesche. Im Vordergrund stünde ein teamorientierter Blick auf Schulentwicklung, der auch Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und Kooperationspartner:innen in den Transformationsprozess einbinde. Wahr betonte, dass es hierbei auch ganz zentral sei, sich vom „Bild der Schulleitung als Einzelkämpfer:in an der Spitze“ zu verabschieden. Ebenso relevant sei aber auch eine gute Begründung für Veränderungen, bei der wiederum die Wissenschaft ins Spiel käme.
Wie kann die Wissenschaft den Transfer gezielt unterstützen?
Eines der populärsten Argumente, die als Ursachen für das Transferdefizit zwischen Forschung und Praxis angeführt werden, ist ein fehlender Praxisbezug wissenschaftlicher Studien. Für Cramer ist das kein zielführendes Argument, im Gegenteil. Ein rein anwendungsbezogener Ansatz der Bildungsforschung würde seiner Meinung nach, das zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis untergraben. Der Anspruch in der Forschung sei nicht in erster Linie Schule zu entwickeln, sondern zunächst einmal grundlegende Erkenntnisse zu generieren. Nur wenn sich Forschung auch abseits einer konkreten Praxisanwendung auf die Grundlagenforschung konzentriere, gelänge es, frühzeitig Erkenntnisse zu Themen zu gewinnen, die in Zukunft relevant werden könnten. Als Beispiel machte Cramer dies an der Entwicklung der mRNA-Impfstoffe während der Coronapandemie deutlich. Ohne eine jahrzehntelange Grundlagenforschung in der Biotechnologie, lägen solche Impfstoffe heute noch in weiter Ferne. Grundlagenforschung würde alle Beteiligten dazu anregen, die Perspektive zu wechseln und mit einem neuen Blick auf Mechanismen zu blicken, die für selbstverständlich gehalten werden. Gleichwohl gehörten zum Spektrum wissenschaftlicher Forschung auch zielgerichtete Forschungsprojekte, die die Bildungspraxis seit Jahren einfordert und die einen konkreten Nutzen und belastbares Entscheidungswissen für Schulen generierten. Hier sei es zielführend, wenn Schulen bei den für sie relevanten Forschungsfragen stärker miteinbezogen würden. So könne verhindert werden, dass falsche Erwartungen geweckt und Schulen mit Implementierungsprozessen „überfallen“ würden. „Wir sollten nicht nur zweckorientiert forschen“, hielt Cramer fest, „aber eben auch.“
Ein Gelingensfaktor für den Transferprozess sieht Cramer in einer gezielten und breiten Wissenschaftskommunikation, die die Menge an komplexen Erkenntnissen systematisch aufbereitet und für die Bildungspraxis bereitstellt. Ein Trend, der sich auch in der Einrichtung sogenannter Clearingstellen zeige, die nutzerorientierte Informationen zu Forschungserkenntnissen bereitstellten. Auch eine gemeinsame Sprache gehört für Cramer zu den Grundlagen des Transferprozesses. „Was meinen wir eigentlich, wenn wir über zentrale Begriffe im Bildungskontext sprechen?“ Abhilfe würden interaktive Glossare schaffen, die Begriffe für einen Dialog auf Augenhöhe definierten.
Drei Fragen an...
Im Interview erläutert Podiumsteilnehmer Prof. Dr. Colin Cramer, wie Bildungsforschung und Schulleitungen gleichermaßen dazu beitragen können, Bildungseinrichtungen lernwirksamer zu gestalten.
Was muss sich in der Lehrer:innenbildung ändern?
Einig waren sich die Diskutierenden darin, dass dieser Dialog bereits vor der Schulpraxis einsetzen muss. Daher liege gerade in der Lehrer:innenbildung ein entscheidender Ansatzpunkt für einen erfolgreichen Wissenschaft-Praxis-Transfer Hier gäbe es allerdings noch großen Handlungsbedarf.
Zudem herrsche in Deutschland noch immer ein eher restriktives Bild des Werdegangs von Führungskräften im Schulsystem vor. Anstelle Personen zu unterstützen, die Schule gestalten wollen, würden diese häufig zunächst auf Widerstand stoßen. Nicht zuletzt zeige sich dies daran, dass es kaum Aus- und Weiterbildungsprogramme wie den Master „Schulmanagement und Leadership“ gibt, der explizit auf eine Qualifikation als Schulleitung ausgerichtet ist, sagte Cramer. Dabei sei gerade eine langfristige Professionalisierung für das Ausüben einer Führungsposition im Bildungskontext entscheidend, um die mehr als 1.000 derzeit vakanten Schulleitungsstellen in Zukunft zu besetzen
„Ich würde mir mehr und frühzeitiger curriculare Ergänzungen wünschen.“
Prof. Dr. Colin Cramer
Cramer befürwortete daher die Idee, bereits im Pflichtcurriculum der universitären Ausbildung, eine Idee von Führung zu wecken, die Schule als Entwicklungsraum betrachte, in dem Gestaltungsweisen nicht als statisch angesehen würden. Gezielt müsse auch über den Platz sogenannter Training Settings nachgedacht werden. Wie Pallesche hervorhob, würden gerade junge Kolleg:innen den traditionellsten Unterricht halten, was Wahr mit dem Hinweis unterstrich, dass abgehaltene Prüfungen und Lehrproben ein eher traditionelles Bild einer Unterrichtsstunde skizzierten. Dieses Defizit könne man allerdings nicht allein der Lehrer:innenbildung anlasten, stellte Cramer klar. Ebenso wenig könne die Wissenschaft, wie aus der Bildungspraxis gefordert, in allen Fällen Implementationsprozesse wissenschaftlich begleiten. Stattdessen seien auch hier Transformationsprozesse hin zu speziellen Instituten sowie eine stärkere Eigenbefähigung, der an Schule beteiligten Akteure notwendig, um Evaluationen kontextsensitiv durchzuführen.
Welche Rolle spielen Gesellschaft und Politik?
Die Gesellschaft, das zeigt die alltägliche Erfahrung, trägt multiple Rollenerwartungen an Schulleitungen heran. Cramer prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Ambidextrie, wörtlich übersetzt als „Beidhändigkeit, der die Fähigkeit von Führungspersonen beschreibt, gleichzeitig sowohl effizient als auch innovativ zu handeln. Schulleitung stünden vor der Herausforderung einerseits alltägliche Managementaufgaben wahrzunehmen und andererseits auch notwendige Innovationen anzustoßen. Um so mehr, als sich auch die Gesellschaft um Schulen herum in einer Geschwindigkeit verändere, der ein geschlossenes System nicht mehr folgen könne, so Pallesche.
Als bigger picture gesellschaftlichen Umdenkens zeichnete Pallesche daher auch einen Paradigmenwechsel, wie er in der finnischen Stadt Espoo unter dem Titel „School as a Service (SaaS)“ an mehreren Sekundar- und Grundschulen bereits Realität ist. Dahinter steht der Wandel von einem traditionellen Schulgebäude zu einer flexibleren Lernumgebung, in der Räume und ihre Nutzung kreativ entkoppelt werden. So stehen Schülerinnen und Schüler die Chemielabore der Universität ebenso offen wie Sport- und Kunsteinrichtungen. Durch die temporäre gemeinsame Nutzung von Raumangeboten soll auf die sich ändernden Bedürfnisse von Schulen und des sozialen Lernens reagiert und die aktive Beteiligung der Lernenden an ihrer Bildung gefördert werden. Als wichtige Voraussetzungen für das Gelingen solcher Transformationsprozesse, nannte Pallesche, gesellschaftliche Akzeptanz und eine positive Fehlerkultur im Bildungskontext.
Dass der Bildungspolitik im Transferprozess eine stärkere steuernde Funktion zukommen könne, bezweifelten die Diskutierenden. Nicht zuletzt, weil es sich bei Schulen um Expertenorganisationen handle, die von der Autonomie ihrer Leitungen und Lehrkräfte lebten. Von einem „radikalen Durchsteuern“ hielt auch Cramer wenig, vielmehr gehe es darum „im Dialog zu sein und nach guten Schnittmengen zu suchen.“