Kulturelle Bildung in der Schule: Eine Bestandsaufnahme

Was die Forschung über den Stellenwert von Kunst, Musik, Theater und Co in der Schule weiß

Es gehört zum Auftrag von Schule, jungen Menschen einen Zugang zu kultureller Bildung und damit zu gesellschaftlicher Teilhabe zu eröffnen. Doch entsprechende Angebote sind dort ganz unterschiedlich verankert, je nach Schulform und Bundesland, erläutert Dr. Stefan Kühne im Interview.

Redaktion: Die Datenlage im Bereich „Kulturelle Bildung“ ist dünn. Was wissen Sie trotzdem über entsprechende Angebote in Schulen?

Dr. Stefan Kühne: Wir können aus vielen Fachdiskursen im Rahmen unseres Projektes ableiten, dass es eine große Vielfalt an schulischen Angeboten in der kulturellen Bildung gibt. Das ist mit Blick auf die Breite der Möglichkeiten positiv, aber was die jeweilige Ausgestaltung, Verlässlichkeit und Qualitätssicherung angeht, bleiben noch viele Fragen offen. Leider gibt es nämlich keine flächendeckenden oder überhaupt standardisierten Daten dazu, welche Angebote an welchen Schulen in welchem Umfang und welcher Dauer gemacht und genutzt werden, weder im Unterricht noch außerhalb, zum Beispiel im Ganztag. Die wenigen für Deutschland repräsentativen Befragungsdaten, die es gibt, konzentrieren sich auf die kulturellen Angebote während der Freizeit außerhalb der Schule. Die von uns ermittelten Daten beziehen sich ausschließlich auf diejenigen Schulen, die mit Musikschulen, Museen und anderen kulturellen Einrichtungen kooperieren oder ein musisches Schulprofil haben. Immerhin fast ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen besucht eine Schule mit musischem Schwerpunkt. Das ist bemerkenswert und insofern bedeutsam, als nicht alle von Haus aus Zugang zu kulturellen Bildungsangeboten haben oder suchen, und deswegen die Schule wichtige Zugänge und Gestaltungsräume bereitstellen kann. Auch, dass rund drei Viertel aller Schulen mit kulturellen Institutionen wie Theatern oder Museen kooperieren, mehr als die Hälfte mit Kunst- bzw. Musikschulen zusammenarbeiten und immerhin ein gutes Drittel mit kulturellen Vereinen wie beispielsweise Musik-, Kultur- oder Karnevalsvereinen, ist ein starker Befund.

„In Berlin verbringen Schüler:innen eineinhalb mal so viel Unterrichtszeit mit künstlerischen Fächern wie in Brandenburg.“

Dr. Stefan Kühne

Redaktion: Welche Unterschiede haben Sie zwischen Bundesländern und Schularten festgestellt?

Kühne: Mit Blick auf Länderunterschiede war es uns zumindest möglich, die Stundentafeln der Länder auszuwerten. Sie legen fest, wie viel Zeit an allgemeinbildenden Schulen des Primar- und Sekundarbereichs für künstlerische Unterrichtsfächer vorgesehen ist. In fast allen Ländern ist im Grundschulalter ein größerer Anteil der künstlerischen Fächer an den gesamten Wochenstunden vorgesehen als im Sekundarbereich I. Dennoch zeigen sich erwartungsgemäß große Unterschiede. Danach sollen zum Beispiel Schülerinnen und Schüler, die in Berlin zunächst die Grundschule und dann das Gymnasium besuchen, bis zum Ende des neunten Schuljahres insgesamt 1.269 Stunden mehr mit künstlerischen Fächern verbringen als in Brandenburg. Das ist eineinhalbmal so viel Unterrichtszeit.
Was die Schulform anbelangt, zeigen sich länderübergreifend nicht nur im Unterrichtspensum deutliche Unterschiede, sondern auch in der Profilbildung. So hat jedes vierte Gymnasium ein musisches Profil. Im Gegensatz dazu hat nur etwa jede siebzehnte Real- und Hauptschule so eine Ausrichtung. Bei Schulen mit mehreren Bildungsgängen besitzt jede zehnte einen musischen Schwerpunkt.

„Schulen können sozioökonomisch benachteiligten Schüler:innen Erfahrungen mit Musik und Kunst ermöglichen, die andernorts fehlen.“

Dr. Stefan Kühne

Redaktion: Traditionell findet kulturelle Bildung ja vor allem im außerschulischen Bereich statt. Warum sollten Ihrer Meinung nach auch die allgemeinbildenden Schulen mehr tun?

Kühne: Die Forschung zeigt erstens, dass Bildungsprozesse kumulativ sind. Das heißt, zuvor erlernte Fähigkeiten können sich durch weitere Bildungsprozesse mit jeder Stufe verbessern. Deshalb haben Lernerfolge in der Kindheit und Jugend einen herausgehobenen Stellenwert für die Entwicklung von Interessen, Wertvorstellungen und Kompetenzen, und damit darauf, wie kulturell interessiert und engagiert jemand womöglich im späteren Verlauf seines Lebens ist. Zweitens besteht im Schulalter eine besondere Verantwortung und zugleich Chance, alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Wie bereits andere Studien konnten auch wir zum Beispiel beachtliche soziale Unterschiede im Freizeitbereich nachweisen, das heißt außerhalb des Schulkontextes sind Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Lagen deutlich seltener kulturell aktiv als Gleichaltrige mit privilegierterer Herkunft. Das können und sollten Schulen kompensieren und sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schülern Erfahrungen mit Musik und Kunst ermöglichen, die andernorts fehlen.

„Kunst und Kultur können Türöffner für Lesen, Schreiben und Rechnen sein.“

Dr. Stefan Kühne

Redaktion: Viele Kinder können am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen und schreiben – meinen Sie, dass auch solche Kinder in den künstlerischen Fächern noch stärker gefördert werden sollten, oder dass lieber in deren Basiskompetenzen im Bereich Lesen und Rechnen Zeit investiert werden sollte?

Kühne: Hierauf gibt es keine wissenschaftlich abgesicherte Antwort. Aber ich kann aus den 20 Jahren, in denen ich nun Trends und Problemlagen im Bildungswesen analysiere, eine persönliche Einschätzung geben. Ich finde es erschreckend, dass jedes vierte Kind die einfachsten Lese- und Rechenaufgaben nicht meistern und damit kaum eigenständig seinen weiteren Lebensweg erfolgreich gestalten kann. Ich finde, das ist das größte Problem unseres Bildungssystems und für uns als Gesellschaft nicht akzeptabel.
Meines Erachtens müssen alle Anstrengungen darauf ausgerichtet sein, dass jede und jeder Einzelne bis zum Ende der allgemeinbildenden Schulzeit ein Mindestniveau dieser Basiskompetenzen erreicht. Wenn die dafür notwendige Lernmotivation und -freude fehlt, könnten für manche Kinder kulturelle Bildungsangebote einen andersartigen, frischen Zugang zu sich selbst und der Auseinandersetzung mit der Welt bieten. Ich möchte damit kulturelle Bildung keinesfalls instrumentalisieren, glaube jedoch, dass sie wie ein Türöffner für weitere Lern- und Entwicklungsprozesse sein kann. Und ich denke dabei mehr an Ganztagsangebote oder Projektwochen als an künstlerische Unterrichtsfächer.

Redaktion: Könnte der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung eine Chance für die kulturelle Bildung sein? Für wie wichtig halten Sie dahingehende Qualitätsstandards?

Kühne: Wie ich bereits erläutert habe, ist die Abdeckung mit kulturellen Angeboten im schulischen Bereich aus meiner Sicht schon relativ breit. Das hätte ich so gar nicht erwartet. Schon deswegen würde die kulturelle Bildung vermutlich davon profitieren, wenn durch den Rechtsanspruch mehr Kinder ganztägig an der musischen Profilbildung oder den Schule-Kultur-Kooperationen partizipieren. Sie sprechen mit den Qualitätsstandards aber den Knackpunkt an. Der quantitative Ausbau der Ganztagsbetreuung wurde in Deutschland mit solchem Druck vorangetrieben, dass bislang kaum verbindliche Richtlinien entwickelt worden sind, die zu vergleichbaren Ganztagsbedingungen beitragen könnten. Aus meiner Sicht sollten sich Forschung, Praxis und Politik stärker abstimmen, um gemeinsame Qualitätskriterien für den Ganztag festzulegen. Dabei könnte – schon jetzt – eine breitere wissenschaftliche Begleitung etablierter Ganztagskonzepte helfen, die unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen Strukturen vor Ort in den Blick nimmt, welche Angebote in welcher Weise gestärkt, thematisch fokussiert und gegebenenfalls neu geschaffen werden können und sollten.

„Man kann auch fachübergreifend Zugänge und Methoden der kulturellen Bildung nutzen.“

Dr. Stefan Kühne

Redaktion: Was ist nötig, um das Thema systematischer in der Schul- und Unterrichtsentwicklung zu verorten? Woran mangelt es bisher?

Kühne: Aus Sicht der Wissenschaft bedarf es in meinen Augen zwingend weiterer Studien, die aufzeigen,
innerhalb welcher didaktischen Formate und mit welcher Intensität sich Kinder und Jugendliche in unterschiedlichen Angeboten kultureller Bildung jeweils einbringen, ausleben und weiterentwickeln können.
Politisch ist das Thema mit den jüngst erschienenen aktualisierten KMK-Empfehlungen zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung auf der Agenda noch einmal höher platziert worden. Jetzt wird es darauf ankommen, wie die Länder im Einzelnen mit dem Vorsatz umgehen, kulturelle Bildung politisch, finanziell und rechtlich abzusichern. Denn in der Tat ist das Feld bislang von dezentralen, projektförmigen und kaum auf Dauer angelegten Initiativen geprägt. Das tragen bislang vor allem zivilgesellschaftliche Akteure wie Verbände, Vereine oder Stiftungen.
Schleswig-Holstein ist in diesem Bereich nach meinem Eindruck schon sehr weit, unter anderem durch den lokalen Einsatz so genannter Kreisfachberaterinnen und -berater oder auch durch die schrittweise Einführung der Fachanforderungen, welche die Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen ersetzen. Dort wurde die Vorgabe etabliert, kulturelle Bildung in allen Fächern zu fördern, also fachübergreifend Zugänge und Methoden der kulturellen Bildung zu nutzen.
Generell glaube ich nicht, dass es an Ideen und Konzepten mangelt, sondern eher an der personellen Ausstattung, den verfügbaren zeitlichen Ressourcen und anderen, als prioritär angesehenen Problemlagen.

Redaktion: Welche Herausforderung bedeutet das hinsichtlich des Schulleitungsmanagements?

Kühne: Das kann eine Schulentwicklungsforscherin oder ein Schulentwicklungsforscher sicher besser beantworten, aber klar ist, dass kulturelle Bildung in vielen Schulen eher von nachrangiger Bedeutung sein dürfte. Die Anforderungen, die sich in den letzten Jahren allein aus der fortschreitenden Digitalisierung, den Inklusionsbemühungen oder der Zuwanderung aus Kriegs- und Krisengebieten ergeben haben, sind mit der gegenwärtigen Personalsituation ja kaum zu bewältigen. Singen, Tanzen und Theaterspielen stehen da vermutlich seltener oben auf der Tagesordnung. Insofern kann ich nur für Offenheit auch unter schwierigen Bedingungen plädieren. Wenn es gelänge, sich kulturelle Bildung als Schulleitung und Kollegium von Zeit zu Zeit als innovativen und kreativen Möglichkeitsraum ins Gedächtnis zu rufen, Dinge anders zu gestalten, statt die vielfältigen Herausforderungen des Schulalltags in tradierten Denk- und Handlungsmustern zu verwalten, wäre dies sogar ganz nah am Kerngedanken des Themas.

Redaktion: Herr Doktor Kühne, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Stefan Kühne leitet den Arbeitsbereich Bildungsmonitoring und Bildungsberichterstattung am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.