NRW-Talentscouting: „Ein starkes Instrument zur Stärkung der Bildungsgerechtigkeit“

Die Bildungsforscherinnen Dr. Melinda Erdmann und Irena Pietrzyk erläutern im Interview, warum das in Nordrhein-Westfalen praktizierte Beratungsprogramm für Abiturientinnen und Abiturienten als Erfolg gewertet werden muss.

Bildungsungerechtigkeit hat viele Facetten. Eine davon ist die bestehende soziale Ungleichheit beim Übergang ins Studium. Um ihr entgegenzuwirken, läuft in Nordrhein-Westfalen seit gut zehn Jahren das sogenannte NRW-Talentscouting. Das Beratungsprogramm für Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe wurde nun von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Universität Köln evaluiert und bekommt von ihnen gute Noten.

Redaktion: Frau Erdmann, Frau Pietrzyk, in Ihrer Studie wurde untersucht, ob das Programm NRW-Talentscouting die bestehende soziale Ungleichheit beim Übergang zur Hochschule verringern kann, ob es also gelingt, die Studienaufnahme von Schülerinnen und Schülern aus nichtakademischen Milieus zu erhöhen. Wie wirksam ist das Programm in dieser Hinsicht?

Irena Pietrzyk: In der Studie haben wir gezeigt, dass das Programm die Studienaufnahme von Abiturientinnen und Abiturienten, deren Eltern nicht studiert haben, deutlich erhöht. Werden diese Abiturientinnen und Abiturienten ohne akademischen Hintergrund von professionellen Talentscouts beraten, nehmen 64 Prozent von ihnen ein Studium auf. Wenn die Schülerinnen und Schüler hingegen nicht am Programm teilnehmen, sind es lediglich 56 Prozent, die ein Studium aufnehmen. Entsprechend erhöht das Programm die Studienaufnahme um 8 Prozentpunkte. Das Programm erfüllt damit deutlich das Ziel, insbesondere Personen ohne akademischen Hintergrund bei ihrem Weg an die Hochschulen zu unterstützen.  

Redaktion: Mehr als ein Viertel der Studierenden an Hochschulen brechen ihr Studium jedoch bereits im Bachelor-Studium wieder ab. Inwieweit kann das NRW-Talentscouting dazu beitragen, auch den Studienerfolg zu sichern?

Dr. Melinda Erdmann: Fragen wir Studienabbrecherinnen und -abbrecher nach ihren Abbruchgründen, finden wir unter den Antworten häufig Gründe wie enttäuschte Erwartungen, schwindende Motivation und mangelhafte Studienleistungen. Die Ursache dieser Probleme sind häufig falsche Vorstellungen über die Studieninhalte, Studienanforderungen und Berufsperspektiven, die ein bestimmtes Studium mit sich bringt. Die Talentscouts verfolgen deshalb nicht nur das Ziel, die Studienaufnahme von Schülerinnen und Schüler ohne akademischen Hintergrund zu erhöhen, sondern auch die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, den für sie passenden Bildungsweg nach der Schule zu finden. Um dies zu erreichen wird gemeinsam mit den Schülerinnen und Schüler geschaut, welche Berufe und Studienprogramme zu ihren Interessen passen. Dies geschieht sowohl innerhalb der Beratungsgespräche als auch beispielsweise durch Besuche von Hochschulen und einen Austausch mit Personen aus den angestrebten Berufsfeldern. Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Passung zwischen Studienwahl und Interessen durch das Programm erhöht wird. Zwar liegen uns noch keine empirischen Daten zum weiteren Studienverlauf vor, aber aufgrund der besseren Passung halten wir es für wahrscheinlich, dass NRW-Talentscouting auch bezüglich des Studienerfolgs eine positive Wirkung entfaltet und dem Studienabbruch präventiv entgegenwirkt.   

Redaktion: In diesem Sinne sollen mit dem Programm ja nicht nur die Zugangshürden zum Studium gesenkt werden, sondern es wird ganz bewusst auch eine mögliche berufliche Ausbildung thematisiert. Die Beratung ist also ergebnisoffen, das heißt, man will insgesamt dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler ihre Berufswahl gemäß ihren Fähigkeiten und Potenzialen treffen, unabhängig von ihrer familiären und sozialen Prägung. Wie gut gelingt das?

Pietrzyk: In der von uns untersuchten Gruppe sehen wir nicht nur, dass Abiturientinnen und Abiturienten ohne akademischen Hintergrund basierend auf der Beratung zu 8 Prozentpunkten häufiger ein Studium aufnehmen. Wir beobachten zudem, dass sich Abiturientinnen und Abiturienten, deren Eltern studiert haben, nach der Beratung zu 7 Prozentpunkten häufiger für eine berufliche Ausbildung entscheiden. 

„Die Entscheidung, ein Studium aufzunehmen, wird aufgrund der Beratung deutlich von der sozialen Prägung durch die elterlichen Bildungsabschlüsse entkoppelt.“

Irena Pietrzyk

Durch diese entgegengesetzte Wirkung des Programms auf verschiedene soziale Gruppen wird der soziale Unterschied zwischen Abiturientinnen und Abiturienten mit und ohne akademischen Hintergrund in der Studienaufnahme um rund 70 Prozent reduziert. Denn ohne Beratung liegt der soziale Unterschied in der Studienaufnahme in unserer Untersuchungsgruppe bei 21 Prozentpunkten, mit Beratung hingegen nur noch bei 6 Prozentpunkten. Die Entscheidung, ein Studium aufzunehmen, wird also aufgrund der Beratung deutlich von der sozialen Prägung durch die elterlichen Bildungsabschlüsse entkoppelt.
Interessanterweise wird durch diese Entkopplung zwischen dem sozialen Hintergrund und den gewählten Bildungswegen tendenziell auch die Passung zwischen der Studienentscheidung und den akademischen Potentialen verbessert. Denn innerhalb der Gruppe von Abiturientinnen und Abiturienten ohne akademischen Hintergrund sind es tendenziell die eher leistungsstärkeren Personen, die durch das Programm zu einer Studienaufnahme motiviert werden. In der Gruppe von Abiturientinnen und Abiturienten, deren Eltern studiert haben, sind es hingegen eher leistungsschwächere Personen, die sich aufgrund einer Programmteilnahme für eine berufliche Ausbildung entscheiden. Da eine berufliche Ausbildung durchaus gute Chancen auf einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz bieten kann, kann diese Entscheidung insbesondere für leistungsschwächere Personen, denen das Studium möglicherweise schwerfallen würde, sehr positiv sein. 
 

NRW-Talentscouting

Das Programm NRW-Talentscouting unterstützt Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen dabei, die richtige Berufsausbildung/das richtige Studium zu finden. Inzwischen sind mehr als 70 weitergebildete und zertifizierte Talentscouts im Einsatz. Sie begleiten an rund 400 Berufskollegs, Gesamtschulen und Gymnasien Oberstufenschülerinnen und -schüler beim Übergang ins Berufsleben. Bei der Identifizierung von Talenten orientieren sie sich an der Leistung, die junge Menschen in ihrem jeweiligen Lebenskontext erbringen. Gemeinsam mit den zu Beratenden entwickeln sie Visionen für deren berufliche Zukunft, zeigen konkrete Wege auf, schaffen hilfreiche Netzwerke und eröffnen Zugänge zu existierenden Förderinstrumenten des Bildungssystems. Die Beratung ist ergebnisoffen. Ob für die Talente ein klassisches Hochschulstudium, ein duales Studium oder eine Berufsausbildung das Richtige ist, entscheiden die Jugendlichen selbst. Bislang wurden durch das NRW-Talentscouting insgesamt mehr als 30.000 Talente gefördert. Das Prinzip des NRW-Talentscoutings findet inzwischen über die Landesgrenzen hinaus Verbreitung. Auch die Universität Innsbruck in Österreich hat das Talentscouting nach dem nordrhein-westfälischen Vorbild an ihrem Standort etabliert.

Redaktion: Was zeichnet das "NRW-Talentscouting" im Vergleich zu Programmen mit ähnlicher Zielsetzung aus, wie etwa das "Deutschlandstipendium" oder "ArbeiterKind.de"? 

Pietrzyk: Bei dem Programm handelt es sich um eine intensive Beratung durch professionelle Talentscouts. Die Beraterinnen und Berater, die an den am Programm teilnehmenden Hochschulen angestellt sind, verfügen in der Regel über eine Hochschulausbildung und über Erfahrungen in der professionellen Beratung von Schülerinnen und Schülern. Zudem nehmen sie an speziellen Fortbildungen teil, die vom NRW-Zentrum für Talentförderung angeboten werden. In den letzten Jahren vor Erwerb des (Fach-)Abiturs werden Schülerinnen und Schüler von diesen Talentscouts an ihrer Schule zu nachschulischen Bildungsalternativen und zu allen Fragen, die rund um diese Bildungsentscheidung entstehen, individuell beraten. Im Unterschied zu ArbeiterKind.de handelt es sich also beim NRW-Talentscouting nicht um eine Unterstützung durch etwas ältere peers, sondern um Unterstützung durch professionell ausgebildete Erwachsene. In beiden Programmen wird auf den Aufbau einer vertrauensvollen und wertschätzenden Beziehung großen Wert gelegt. Bei ArbeiterKind.de gibt es ein etwas älteres Vorbild, an dem sich eine jüngere Person, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert ist, orientieren kann. Beim NRW-Talentscouting kann dagegen eine umfassende und individuell passgenaue Expertise zu nachschulischen Bildungsalternativen und zu Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Insofern können sich beide Programme sehr gut ergänzen, weil junge Erwachsene je nach Lebenslage unterschiedliche Arten der Unterstützung benötigen. Auch eine Ergänzung durch das Deutschlandstipendium ist möglich. Im Rahmen dieses Stipendiums werden besonders talentierte Studierende mit 300 Euro monatlich unterstützt. 

Redaktion: Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung methodisch vorgegangen und was ist das Besondere an Ihrer Wirkungsanalyse?

Erdmann: Um die Wirkung des Programms zu untersuchen, haben wir Schülerinnen und Schüler aus der Oberstufe eineinhalb Jahre vor dem Abitur per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt. Kurz danach wurden die Schülerinnen und Schüler der einen Gruppe zur Teilnahme am Programm eingeladen. Die zweite Gruppe diente uns als Vergleichsgruppe, da diese Schüler:innen keine Einladung erhielten. Seither sind nun vier Jahre vergangen, in denen wir die jungen Menschen aus beiden Gruppen jährlich zu ihren Bildungswegen befragt haben. Letztlich haben wir aufgrund des beschriebenen Vorgehens die Möglichkeit, die Bildungsverläufe zwischen Schülerinnen und Schülern, die am Programm teilgenommen haben, und Schülerinnen und Schülern, die nicht am Programm teilgenommen haben, zu vergleichen. Dieses Forschungsdesign wird randomisiert-kontrolliertes Design oder auch experimentelles Design genannt und ist den meisten Menschen aus der Medizin bekannt.

„Wir hoffen, dass sich solche Studien auch in Deutschland weiter etablieren, weil damit Rückschlüsse auf Wirkungen von Maßnahmen besonders verlässlich sind.“

Dr. Melinda Erdmann

Der große Vorteil bei diesem Vorgehen ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler in beiden Untersuchungsgruppen vor Beginn des Programms bei vielen Merkmalen sehr ähnlich sind. Die Unterschiede, die wir im weiteren Bildungsverlauf zwischen den Gruppen vorfinden, können wir somit auf die Programmwirkung zurückführen. Solche Studien sind recht aufwändig, daher findet dieses Vorgehen in Deutschland zur Untersuchung der Wirkung von Programmen auf Bildungsentscheidungen bislang eher selten Anwendung. Wir hoffen aber darauf, dass sich solche Studien auch in Deutschland weiter etablieren, weil damit Rückschlüsse auf Wirkungen von Maßnahmen besonders verlässlich sind. 

Redaktion: Wie wichtig sind solche langfristig angelegten Programmevaluationen und wie verbreitet ist die Einsicht der Bildungspolitik, dass solche wissenschaftlichen Untersuchungen notwendig sind?

Erdmann: Grundsätzlich wird in der Bildungspolitik der Programmevaluation eine große Bedeutung beigemessen. Bei vielen Förderlinien wird eine prozessbegleitende Evaluation verlangt – also eine Evaluation, während derer die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer noch an der Maßnahme teilnehmen. Das ist zwar prinzipiell sinnvoll, sollte aber durch die Betrachtung längerfristiger Effekte erweitert werden. Zahlreiche Erfolgsindikatoren von bildungspolitischen Maßnahmen lassen sich erst nach einer gewissen Zeit messen, was zu selten bedacht wird. Im schlimmsten Fall führt dies zu falschen Schlüssen, wenn die Wirkungsmessung zu früh beendet wird. Die Ergebnisse der Studie zum NRW-Talentscouting sind dafür ein gutes Beispiel. So haben wir erst eineinhalb Jahre nach dem Schulabschluss der jungen Menschen einen positiven Effekt auf die Studienaufnahme beobachtet. Der Grund hierfür ist, dass das Programm vor allem die Studienaufnahme der Schülerinnen und Schüler, die nicht sofort nach dem Abitur ein Studium aufgenommen haben, fördert. Hätten wir bereits damals aufgehört, die jungen Erwachsenen zu befragen, hätten wir fälschlicherweise angenommen, dass das Programm keine positive Wirkung auf die Studienaufnahme zeigt. Allerdings ist der lange Atem, den das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW bei der Förderung unserer Studie bewiesen hat, eher eine Ausnahme in der Bildungspolitik. 

Redaktion: Wie lautet Ihr Fazit aus den Untersuchungsergebnissen? Ist das NRW-Talentscouting ein wirksames Instrument für mehr Bildungsgerechtigkeit und welche bildungspolitischen Schlüsse ziehen Sie daraus?

Pietrzyk: Unseren Ergebnissen folgend ist NRW-Talentscouting ein starkes Instrument zur Stärkung der Bildungsgerechtigkeit beim Übergang in das Studium. Wie wir sehen, senkt das Programm die Bildungsungleichheit am Übergang in das Studium um rund 70 Prozent. 

„Vor dem Hintergrund unserer Forschung erscheint es daher sinnvoll, über eine Ausweitung des Programms nachzudenken – auch über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus.“

Irena Pietrzyk

Weil die Beratung zugleich auch die Passung zwischen den gewählten Bildungswegen und dem akademischen Leistungsniveau erhöht, vermuten wir aktuell, dass sich die Bildungsentscheidungen, zu denen die jungen Erwachsenen durch das Programm motiviert werden, für sie auch langfristig als positiv erweisen. Vor dem Hintergrund unserer Forschung erscheint es daher sinnvoll, über eine Ausweitung des Programms nachzudenken – auch über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass die Frage, ob ein Studium aufgenommen werden soll, nicht die einzige Entscheidung im Bildungsverlauf ist. Nach der Grundschule gehen Schülerinnen und Schüler auf eine weiterführende Schule. Welche Schule gewählt wird, hängt in Deutschland ganz maßgeblich von den elterlichen Bildungsabschlüssen ab. Auch wenn es sehr positiv ist, Bildungsgerechtigkeit unter Abiturientinnen und Abiturienten zu stärken, sollte die Politik die Situation von Schülerinnen und Schülern auf der Hauptschule bzw. an den neu entstandenen kombinierten Schulen aus Haupt- und Realschule nicht aus dem Blick verlieren. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen zu einem so frühen Zeitpunkt im Bildungsverlauf Schülerinnen und Schüler auf strikt voneinander getrennte Schulformen verteilt werden. Da diese institutionelle Trennung der weiterführenden Schulen die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit ganz erheblich unterläuft, sollte eine Politik, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist, neue und zeitgemäße institutionelle Lösungen finden. 

Redaktion: Frau Doktorin Erdmann, Frau Pietrzyk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Melinda Erdmann ist seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und arbeitet dort unter anderem im Projekt Zukunfts- und Berufspläne vor dem Abitur (ZuBAb). Zudem war sie bis 2018 an der Universität Potsdam assoziierte Wissenschaftlerin im Verbundprojekt „Der Studieneingang als formative Phase für den Studienerfolg“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ihr Forschungsinteresse gilt vor allem der sozialen Ungleichheit im Bereich Bildung und Ausbildung. Darüberhinaus  forscht sie auch zu Themen aus dem Bereich der Hochschulen.

Zur Person

Irena Pietrzyk ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Sie arbeitet in dem Projekt „Zukunfts- und Berufspläne vor dem Abitur“. Ihre Forschungsinteressen umfassen Bildungsungleichheiten in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und dem Migrationshintergrund sowie experimentelle Designs.